Quo vadis Argentina?

Wirtschaftskrise, Straßenschlachten und schon wieder ein neuer Präsident. Vor dem Hintergrund des Aufstands in Argentinien mobilisieren aber auch Globalisierungskritiker

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Mit großer Mehrheit wählte das Parlament Argentiniens am Dienstag den Peronisten Eduardo Duhalde zum Regierungschef. Der Exgouverneur der Provinz Buenos Aires ist bereits der fünfte Amtsinhaber in einem Zeitraum von nur knapp zwei Wochen. Doch die seit Mitte Dezember anhaltenden Ausschreitungen der über Politik und Wirtschaftskrise verdrossenen Bevölkerung gehen auch jetzt weiter. Während die hiesigen Massenmedien nur Streiflichter auf die chaotischen Zustände in dem lateinamerikanischen Land werfen, wird wieder einmal in Online-Alternativmedien heftig diskutiert. Gobalisierungskritiker sehen einmal mehr ihre Abneigung gegen den Neoliberalismus bestätigt und rüsten für das 2. Weltsozialforum, das Ende Januar im brasilianischen Porto Alegre über die Bühne gehen soll.

Ausschreitungen am 20. Dez., Foto: Indymedia

Seit Beginn des Afghanistankrieges hat die Krise in Lateinamerika in der Medienlandschaft an Gewicht verloren. Das Nachlassen des öffentlichen Interesses heißt aber nicht, dass damit die politische Brisanz der wirtschaftlichen Misere in Ländern wie Argentinien oder Brasilien geringer geworden ist.

Neil Chisholm von der Credit Suisse Economy-Research-Abteilung sollte mit diesen Sätzen, die er Ende November 2001 einem Bericht über Argentiniens Wirtschaft voranstellte, Recht behalten. Nur wenige Wochen später kam es zum Generalstreik in dem krisengeschüttelten Land. Noch vor Weihnachten trat Fernando De la Rua vom Präsidentenamt zurück.

Chronologisch betrachtet, brachte eine Beschränkung von Bargeldabhebungen das Fass zum Überlaufen. Anfang Dezember 2001 beschloss die Regierung, dass nur mehr 250 Pesos oder Dollar (etwa 280 Euro) pro Woche an Privatpersonen und Unternehmen bar ausgezahlt werden dürften. Laut FAZ benötigt aber eine vierköpfige Familie mindestens 1.500 Dollar zur Deckung der Grundbedürfnisse. Zwar erhöhte man kurz darauf die erlaubte Auszahlungssumme wieder, doch die aufgebrachten Menschen ließen sich nicht mehr besänftigen. Selbst als De la Rua zurücktrat, reichte das nicht aus. Als der Übergangspräsident einen der Korruption verdächtigten ehemaligen Bürgermeister als Berater in die Regierung holte, platze vielen der Kragen. Am 29. Dezember marschierten sie in Richtung Parlament. Indymedia Argentina berichtete:

In Eile geschriebener Bericht, während wir fortfahren, Tränengas einzuatmen. ... Das Gerücht begann sich auszubreiten und dann wandelte es sich in Skandieren: "das Volk geht auf die Plaza (Anmerkung: gemeint ist die Plaza de Mayo) und niemand wird uns aufhalten". Ein aus Tausenden bestehender Zug durch die Avenida de Mayo dessen Ende nicht mehr zu sehen war, rückte entschlossen vor. Vorn wurde eine argentinische Fahne getragen und mit jedem Schritt schienen es mehr zu werden. Ständig kamen weitere Menschen hinzu, es kamen die Mütter (Anmerkung: gemeint sind die Madres de Plaza de Mayo, die Organisation der Mütter der während der Militärdiktatur Verschwundenen), es kamen die motoqueros, empfangen von Applaus, vom Volk umarmt; die Gefallenen bekamen heute ihre Ehrung, ... Als Erstes stürzte ein Fotograf vor. Danach sagte ein Großvater, dass er mit Gewalt in das Gebäude eindringen um mit dem Präsidenten zu sprechen. Danach die Jugendlichen. 5 Minuten später, genau um 2:15 Uhr, waren wir alle da. Die Absperrungen gaben schon bald nach, die Polizei zog sich zur Seite zurück, und wir waren da, vor den Toren des Regierungsgebäudes, die von nun an nicht mehr "heilig" sein werden. Wir durchschritten den Torbogen und riefen, was alle wollten: dass sie alle gehen sollen und nicht ein einziger übrigbleibe. (Übersetzung: Indymedia Deutschland)

Untrennbar verbunden ist die prekäre Situation mit dem Namen Domingo Cavallo. Der Wirtschaftsminister führte 1991 in Absprache mit dem IMF eine 1:1 Bindung des Pesos an den US- Dollar ein. Fachleute sehen darin den Ursprung der Misere. Anfänglich konnte das Land tatsächlich ansehnliche Wachstumsraten verzeichnen.

Allerdings war Argentiniens geldpolitischer Handlungsspielraum stets durch die feste Dollarbindung und strenge Inflationszielvorgabe stark eingeschränkt - zur vollen Deckung des umlaufenden Geldes mussten stets genügend Reserven der Zentralbank vorhanden sein. Als die internationalen Finanzmärkte 1998 auf die Russlandkrise und Brasiliens Abschwung aufmerksam wurden, löste diese Verunsicherung auch in Argentinien einen sprunghaften Zinsanstieg aus. Der ohnehin kriselnde Exportsektor und die durch den fixen Wechselkurs verringerte Wettbewerbsfähigkeit wurden dadurch zusätzlich geschwächt,

analysiert Neil Chisholm. Inzwischen avancierte Cavallo - das einstige Liebkind der neoliberalen Wirtschaftspresse - zum Buhmann der Nation. Heute sitzt Argentinien auf einem Auslandsschuldenberg in der Höhe von 132 Mrd. US-Dollar. Die Arbeitslosenrate beträgt etwa 18 Prozent. Fast vierzig Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.

Der neu gewählte Präsident Duhalde kündigte eine Abkehr vom neoliberalen Kurs an. Dies ist wohl der einzige Punkt in dem sich die Peronisten mit den linken Gruppierungen des Landes einig sind. Sie lieferten sich indes weitere Straßenschlachten. Für die Linken ist Duhalde ein Populist und Blender. Glaubt aber etwa die Bevölkerungs-Mehrheit an den Mythos vom wohltätigen Peronismus, der mit der Wahl 1946 von Juan Comingo Peròn entstand, zumal dieser damals den Armen - den descamisados (Hemdlosen) - mehr Wohlstand versprach? Der Peronist Duhalde will jedenfalls bis 2003 im Amt bleiben.

Ausschreitungen am 20. Dez., Foto: Indymedia

Indes sehen Globalisierungskritiker im "Aufstand von Argentinien" ein weiteres Zeichen für das Scheitern des Neoliberalismus. Sie mobilisieren für den 2. Weltsozialgipfel , der Ende Januar in einem Nachbarland Argentiniens - in Brasilien - stattfinden wird. Wie bereits viele andere Antiglobalisierungs-Veranstaltungen könnte auch dieses Treffen in Porto Alegre zu einer Groß-Demonstration gegen die Auswüchse des "Turbokapitalismus" geraten. Denn gerade in den lateinamerikanischen Ländern sehen sich immer mehr Menschen aufgrund einer fatalen Mischung aus korrupten Staatsapparaten und neoliberalen Wirtschaftsexperimenten in die Armut gedrängt.