Fiktionen humaner Kriegführung

Im dichten Nebel der Kriegsopferstatistiken

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In Kriegen werden Menschen getötet. Diese schlichte Erkenntnis wird in dem Maße wieder originell, in dem der Mythos des humanen Kriegs die wahre Geschichte des systematischen Tötens von Menschen verdrängen will. Für Kriegsopferzahlen interessieren sich Krieg Führende weniger. Die Sieger wollen ihr propagandistisches Kriegsethos wahren, während die Verlierer ihre innenpolitischen Schwierigkeiten insbesondere nach der Niederlage nicht noch durch den statistischen Horror von Tötungszahlen vergrößern wollen.

Während des sauber inszenierten Golfkriegs war die Berichterstattung über Opferzahlen zurückhaltend und so ungenau, wie das den untergründig verbundenen Interessen der Kriegsparteien entsprach. Es gab Erfolge und Niederlagen, propagandistische Bilder auf beiden Seiten der Front, aber im Jargon militärischer Eigentlichkeit kaum Tote. Bei den Alliierten dürfte es sich in der Tat "nur" um einige Hundert Soldaten gehandelt haben, während auf Seiten der Iraker über 100.000 Soldaten getötet und annäherungsweise 300.000 verwundet wurden. Die vermutlich 40.000 Ziviltoten auf irakischer Seite während der heißen Phase des Konflikts dürften durch horrende Opferzahlen in der Folge überboten worden sein, die durch Kriegsspätfolgen, vor allem aber Engpässe bei der allgemeinen und medizinischen Versorgung verursacht wurden.

Wie sieht das gegenwärtig in Afghanistan aus? Der Wirtschaftswissenschaftler Marc Herold von der "University of New Hampshire" war über die Dürftigkeit der amerikanischen Medienberichterstattung so frustriert, dass er seit Beginn der Kriegseinsätze Opferzahlen im Internet sammelte, die sich vornehmlich aus der ausländischen Presse speisten. Sein Online-Report nennt für den Zeitraum zwischen dem 7. Oktober und 7. Dezember die Zahl von annäherungsweise 3.800 afghanischen Opfern in der Zivilbevölkerung. Zwischen dem 10. und 29. Dezember wurden weitere 194 bis 269 afghanische Zivilisten von den Bombardements getötet.

Herold ging bei seinen Berechnungen von der Zahl der "Unfälle", den lokalen Gegebenheiten, den eingesetzten Waffentypen und der Informationsquelle aus. Es handele sich dabei um eine äußerst konservative Schätzung. Herold weiß um die Unwägbarkeiten und Anfechtbarkeit seiner Statistik und hält im Übrigen ohnehin 5.000 Opfer für die realistischere Zahl der vermeintlichen Kollateralopfer. Seine Kalkulationen auf Grund von Mainstream-Medien berücksichtigten keine Medienberichte aus entlegeneren Gegenden Afghanistans. Dabei wertete Herold in aufwändiger Detailarbeit aber immerhin so unterschiedliche Quellen wie die "Radical Revolutionary Association of Women of Afghanistan" (RAWA) bis hin zu BBC aus und ermittelte eine tägliche Durchschnittszahl von 65 getöteten Zivilisten seit Beginn der Antiterrorkriegs.

Wenig überraschend ist dabei seine Erkenntnis, dass das US-Verteidigungsministerium die Zahl der Ziviltoten systematisch herunterspielte, um die amerikanische Kriegsbereitschaft nicht zu gefährden. "Wir reagieren grundsätzlich nicht auf gefälschte Beschuldigungen", erklärte etwa ein Sprecher des Verteidigungsministeriums. Wer das feststellt, entscheidet wohl auch a priori über die Frage, was er zu seinen Gunsten als Fälschung ansieht. Zu der expliziten Verdunkelungspolitik gehören überdies US-Maßnahmen wie der exklusive Kauf der Rechte an gewerblichen Satellitenbildern von Afghanistan und der Versuch der Unterdrückung von al-Jazeera, um Kritik an der alliierten Kriegführung mundtot zu machen.

Von offizieller US-Seite wurden die vom Feind gemeldeten Zahlen regelmäßig als Lügen der Taliban und der ihnen befreundeten Medien charakterisiert. US-Verteidigungsminister Rumsfeld wies zudem darauf hin, dass Amerika diesen Krieg nicht begonnen hätte. Insoweit sei es müßig, in jedem Fall zu ermitteln, ob nun Unschuldige auf dieser oder jener Seite zu Opfern wurden. Es handele sich bei allen Fährnissen des Kriegs allein um das Werk von al-Qaida und der Taliban. Wo gehobelt wird, da fallen halt Späne.

Indes entscheidet diese Blankettermächtigung aus der propagandistischen Mottenkiste noch lange nicht, in welcher Weise gehobelt wird. Wer wie in Afghanistan Streubomben einsetzt, mit Daisy Cutter, der Gänseblümchenschnitterin, große Areale planiert, trifft solche Entscheidungen nicht aus militärischer Not. Das World Policy Institute konstatierte für den Kosovo-Krieg der NATO, was wohl auch für den Krieg der Alliierten in Afghanistan gelten darf: Die Tötung von Zivilisten durch NATO-Bomben ist kein "Fehler". Es sind logische und vorhersehbare Auswüchse der Art und Weise, wie die NATO diesen Krieg führt."

Neuzeitliche Kriege verursachen auf Grund diverser Faktoren hohe Verlustanteile in der Zivilbevölkerung. In der modernen Kriegführung nimmt die Vernichtungswirkung konventioneller Waffen permanent zu und insbesondere in den Schlussphasen von sich totalisierenden Auseinandersetzungen wird immer weniger Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen. Festzustellen ist, dass in den Kriegen seit der Wende zum 20. Jahrhundert die Zivilbevölkerung immer stärker betroffen ist. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich in der Gesamtstatistik das Verhältnis von einem Ziviltoten auf acht reguläre Kämpfer in sein Gegenteil verkehrt. UNICEF geht bei neueren Kriegen weiter gehend sogar von einem Anstieg getöteter Zivilisten von 5 Prozent zur Jahrhundertwende auf bis zu 90 Prozent getöteter Zivilisten gegen Ende des 20. Jahrhunderts aus. Während des ersten Weltkriegs kletterte die Zahl auf 15 Prozent, 65 Prozent betrug sie bereits zum Ende des zweiten Weltkriegs, um in den 90er-Jahren auf über 90 Prozent zu steigen. Allein 1992 wurden vermutlich 500.000 Kinder unter fünf Jahren während der Kriege getötet.

Ursache für den horrenden Anstieg ziviler Opfer sind vornehmlich nichtstaatliche Konflikte wie etwa Bürgerkriege, die regelmäßig länger dauern und vor allem häufig rassistische, tribalistische oder religiös-fundamentalistische Zielsetzungen haben, gerade auch Opfer in der Zivilbevölkerung zu machen. Kriege unter Beteiligung der USA und der Westmächte sind durch geringe Verluste auf der eigenen Seite und hohe Opferzahlen auf der Gegenseite geprägt. Diese Tendenz wird durch völlig ungleichwertige Waffensysteme bedingt, wie das in Afghanistan nicht drastischer hätte belegt werden können. Solche Gegner Amerikas und der Alliierten wie die militärisch schlecht ausgerüsteten Taliban sind völlig chancenlos, was solchen Auseinandersetzungen den Charakter von Metzeleien verleiht.

Dieses Spezifikum westlicher Kriegführung, kann allenfalls dadurch legitimiert werden, dass sich Gegner wie Saddam Hussein, Milosevic oder die Taliban dumm genug sind, sich überhaupt noch auf die vorentschiedenen Waffengänge einzulassen. Rational kalkulierende Kriegsherren müssten gegenüber der westlichen Kriegsmaschinerie in ihrer bestehenden Gestalt sofort kapitulieren. Rumsfeld lobte die Vorsicht der US-Streitkräfte, zivile Opfer zu vermeiden:

"Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Konflikt in der Geschichte gab, in dem weniger Kollateralschäden, weniger unbeabsichtigte Konsequenzen aufgetreten sind."

Marc Herold sieht das fundamental anders. Der Luftkrieg über Afghanistan sei im Vergleich mit drei früheren Bombardierungen besonders verheerend hinsichtlich der Tötung von Zivilisten gewesen. Das heißt bezogen auf die von Herold ermittelte "Kill Ratio" - der Anzahl von Zivilisten, die von 10.000 Tonnen Bomben getötet werden - in Zahlen: Afghanistan 2.643, Kambodscha 1.852, Serbien 522 und Irak 341 Opfer. Rumsfelds anfechtbares Eigenlob muss sich an den permanent gemeldeten Kollateralschäden messen lassen, etwa jenem Anschlag vom 20. Dezember 2001 in der Provinz Paktia, dem 60 ältere Stammesvertreter zum Opfer fielen, als US-Flugzeuge den Konvoi bombardierten. Das Pentagon beharrte auf Grund seines "absolut sicheren" Wissens auf der Version, dass es sich um einen al-qaida Konvoi gehandelt habe. Dagegen spricht unter anderem, dass die Provinzführer den Chef der Übergangsregierung Hamid Karzai gebeten haben, nun auf ein endgültiges Ende der US-Luftangriffe in Paktia zu drängen.

Den Opferberichten von Krieg Führenden ist grundsätzlich nicht zu trauen, aber die Routinedementis des Pentagon dementieren sich inzwischen selbst, weil sie mit präziser Sicherheit jede Quelle treffen, die unangenehme Informationen sprudeln lässt. Immerhin hat das Pentagon eingeräumt, keine Buchhaltung über die zivilen Unfälle auf Grund von US-Luftschlägen zu führen, seitdem die Operation "Enduring Freedom" begann. Statistiken relativieren ohnehin das wahre Ausmaß der Kriegsfolgen, da sich die blutleeren Zahlen dem menschlichen Vorstellungsvermögen entziehen.

"Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast!", soll angeblich Winston Churchill gesagt haben, wenngleich einiges dafür spricht, dass das deutsche Reichspropagandaministerium im Zweiten Weltkrieg die zynische Parole ausgab. Wenn die Opfer aber erst gar nicht mehr gezählt werden, verliert sich die Wahrheit über den Krieg vollends im Nebel der Geschichte. Dann wird der Krieg so human, wie ihn die Kriegsherren in ihren Sonntagsreden herbeizaubern.