Die Mobilisierung des Romans

Ein Interview mit Nils Röller

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Während der Uzzi Verlag wieder einen SMS-Literatur-Wettbewerb ausruft und Medien bis hin zu FOCUS Schlagzeilen im elektronischen Kurznachrichtenformat anbieten, schreibt der Medientheoretiker Nils Röller an einem SMS-Fortsetzungsroman, den man ebenfalls abonnieren kann. "SMS Macht Liebe" lässt sich allerdings nicht nur auf der privaten Fernbedinung verfolgen, sondern auch auf einer Homepage bei Telepolis im Internet lesen. Über die Funktionstasten des Handys kann man scrollen und navigieren. Die Zahlenfelder ermöglichen das schnelle Springen zwischen den einzelnen 'Signaturen'. In der Geschichte des in Köln ansäßigen Autors dreht es sich um Liebe, Abschied, Wärmezeitmaschinen und Aktien zur Verbesserung der Welt. Ebenso ungewöhnlich scheint Röllers Inspirationsquelle zu sein. Als Vorbild nennt er August Stramm, der als einer der Hauptvertreter des Frühexpressionismus gilt. Experimentelle Wortbildungen ("glotzenschrecke Augen brocken wühles Feld"), reduzierte Syntax und Kurzverse waren Stramms "Markenzeichen", der damit den Schritt zur Abstraktion wagte.

User-Interface des SMS-Romans "SMS Macht Liebe" von Nils Röller. Grafik: Michael Schuberthan

Der 1874 im kleinbürgerlichen Milieu geborene Stramm ergriff auf Wunsch des protestantischen Vaters den Postberuf statt des unter dem Einfluss der katholischen Mutter ins Auge gefassten Theologiestudiums und gilt als geprägt vom zeittypischen Konflikt zwischen bürgerlichen Wertvorstellungen und dem Ausbruch in die Kunst; er schrieb ab etwa 1910, veröffentlichte aber erst als Vierzigjähriger in der Berliner Avantgarde-Zeitschrift Der Sturm. Was interessiert Sie an August Stramm?

Nils Röller: Stramm war ausgebildeter Telegraph und promovierte über das Briefporto. Als reflektierter und philosophisch gebildeter Untertan seiner Majestät Kaiser Wilhelms dichtete er. Er begriff die besondere Zeichenwirtschaft der Telegraphie als Möglichkeit. Die postalische Telegraphie verlangt ihren Nutzern die Einhaltung des Minimax-Prinzip ab, das heißt bei einem Minimum an verwendeten Zeichen ein Maximum an Aussage zu übermitteln. Stramm sah das nicht als Beschränkung der Ausdrucksmittel an, sondern als Herausforderung, die Welt dynamisch aufzufassen. Er schreibt im Gedicht "Freudenhaus", "Lichte dirnen aus den Fenstern", oder in "Patrouille", "Die Steine feinden". Hauptwörter verwandeln sich in Verben. In anderen Gedichten lässt er Fürworte aufeinanderprallen. Stramm verwandelt einen ökomischen Zwang, der mit der Technik der Telegraphie einhergeht, in ein Spektrum von Möglichkeiten. In medientheoretischer Hinsicht führt sein Werk zu einer Perspektive auf die Wechselwirkung von Technik und Kultur. Stramms Werk heute ist ein Indiz dafür, dass Medientechniken eine Chance bieten, kulturelle Standards neu zu formatieren.

Als Anreger experimenteller Lyrik soll Stramm u.a. auch auf Kurt Schwitters gewirkt haben, später Ernst Jandl. Welchen Einfluss hat sein Werk jedoch auf den elektronischen Kontext SMS?

Nils Röller: Mir scheint, dass SMS zu einem Journalismus der Gefühle tendiert. Damit meine ich, dass man Gefühle und Gedanken in Hauptwörtern ausdrückt, weil man meint, so dicht kommunzieren zu können. Interessant wird es, wenn man die Hauptwortfalle umgeht und versucht, wie Stramm Verben und Fürworte zu verwenden. Hauptworte stellen Bewegungen still, vergegenständlichen Dynamiken, es kommt darauf an, Stillstand und Starrheit zu vermeiden. Da hilft Stramm weiter. Die Beschäftigung mit historischen Medienwechseln gestattet es, sensibel auf die heutigen Medienwechsel zu reagieren.

Wie Sie an anderer Stelle sagen, möchten Sie mit dem SMS-Roman auf Netzwerke hinweisen. Dabei werden Namen genannt, u.a. Mouse On Mars. Welche Funktion haben solche Referenzen? Sie scheint anders zu sein als im herkömmlichen Pop-Roman.

Nils Röller: Das Wort SMS-Roman wirkt widersprüchlich, solange man sich unter Roman Darstellung in epischer Breite vorstellt. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man wie Hubert Fichte oder Oswald Wiener den Roman als Herausforderung begreift, Leben und Schreiben als permanenten Versuch, als Aufgabe der Selbst- und Fremdbeobachtung aufzufassen. Ich modelliere diese Auffassung um und gehe davon aus, dass im Roman konstruktive Aspekte liegen. In meinem SMS-Roman gibt es eine Passage, in der Jan Werner von Mouse on Mars eine Möglichkeit andeutet, dem Physiker und Philosophen Otto Rössler aus einer juristischen Schlinge zu helfen, indem man mit Hilfe des Managers der Toten Hosen eine Einladung zur Harald Schmidt-Show vorbereitet. Dadurch, dass man diesen Gedanken formuliert, steht er genauer in der Welt und die Chance, dass er die Wirklichkeit verändert, steigt.

Ein Roman ist eine Möglichkeit, Beziehungen zu schaffen und zu gestalten. Ich stelle mir als künftige Aufgabe vor, das Mikrogeschehen in meinem Umfeld in Köln und Berlin schreibend mitzugestalten. Mouse on Mars und die Label Sonig und Supposé sind bewundernswerte Beispiele für eine Mikrowirtschaft zwischen Freundinnen und Freunden, in welcher der Erfolg einzelner genutzt wird, um die Produktionen anderer zu finanzieren. Das erinnert mich an die Wirtschaftspraxis im Berliner Bauhof oder im Kumpelnest 3000. Ob nun SMS-Roman oder andere literarische Formen, ich sehe eine gewaltige Aufgabe des Schriftstellers darin, Möglichkeiten zu skizzieren und zu konstruieren.

Das Netzwerk von Unterstützern eines Medienzentrums in Cusco, das in Ihrem SMS-Roman ebenfalls eine Rolle spielt, ist sogar erst noch im Entstehen. Sehen Sie eine Möglichkeit, wie Ihr literarisches Projekt zur Ausbildung dieses Netzwerks nicht nur auf symbolischer, sondern ganz pragmatischer Ebene beitragen kann?

Nils Röller: Ja, denn das Medienzentrum in Cusco ist nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich. Im zweiten Kapitel des SMS-Romans werden José-Carlos Mariatégui und ein obskurer Deutscher vorgestellt, die gemeinsam einen Fundus an präkolumbianischer Kunst in einem noch zu gründenden Museum, das in Cusco erbaut werden soll, ausstellen möchten. José-Carlos Mariatégui ist Mitglied eines Gremiums, das den Präsidenten von Peru in kulturellen Angelegenheiten berät. Es bestehen Chancen, dass das Museum und das Zentrum gebaut werden. Im Entstehen ist das Zentrum schon seitdem wir darüber nachdenken und erste Ideen auf dem Videofestival in Sao Paulo vorgestellt haben.

Können Sie konkretisieren, wie Sie mit dem SMS-Roman die Möglichkeiten einer Mikroökonmie testen wollen?

Nils Röller: In einer Hinsicht testet "SMS Macht Liebe" die Möglichkeiten des sprachlichen Minimax-Prinzips, da komplexe Ideen wie der Aufbau des Medienzentrums in Cusco, die Wärmezeitmaschine von Joseph Beuys oder die Governementalität von Gefühl, Kultur und Medientechnik mit sehr wenigen Zeichen ausgedrückt werden, in zweiter Hinsicht stellt der Roman eine besondere Situation der Enge da, und zwar des Langstreckenflugs von Frankfurt/M. nach Sao Paulo, das Zeitbudget der Flugreise und die erzwungene soziale Situation zwischen einem Sozialtier und einem klugen Seemann zu sitzen. Dann verfolge ich naiv einen großen Traum. Ich wünsche mir, dass der SMS-Roman so viele Abonnenten erhält, dass José-Carlos Mariatégui und ich Wärmezeitmaschinen von Joseph Beuys kaufen können, um sie dem Medienzentrum in Cusco zu schenken. Aber vielleicht hilft uns ja Charles Wilp, die zentrale Figur im zweiten Kapitel. Im Frühjahr wird eine Arbeit von Wilp versteigert, für deren Ankauf schon Bill Gates Interesse geäußert hat. Vielleicht schenkt uns Charles Wilp dann die 20. 000 DM, die wir benötigen.

Nils Röller stellt sein SMS-Roman-Projekt am 7.Februrar 2002 auf der transmediale 02 im Rahmen des Panels "SMS Encounters: Die Verdichtung von Öffentlichkeit?" (14-16 Uhr) )vor.