Kurze Philosophie des Handys

Von der Fragmentierung des öffentlichen Raums und der Veröffentlichung des Intimen

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Das Handy nervt, trotzdem hat jeder eins. Die signifikanten Tonfolgen aus Jambalaya, Aida oder Beethovens Neunter tirilieren, maßstabsgerecht zu Vogelgezwitscherdimensionen verkleinert, uns von überall her an. In jeder U-Bahn zwitschern die elektronischen Kanarienvögel gleich mehrfach, produzieren mehr Geräuschmüll, mehr aurale Umweltverschmutzung. Das ubiquitäre Handy ist damit ein ähnliches Phänomen geworden wie die allgegenwärtigen Großplakate, die uns ständig anspringen und uns ihre überfallartigen Aufforderungen zum Lesen lautstark ins Hirn dröhnen.

Der visuelle Krach der Werbung und das auditive Gezwitscher der Handys funktionieren gemeinsam wie ein effektiver Störsender, der unsere Gehirnströme lahm legt und jeden eigenen Gedanken unterbricht. Beethoven und Schubert hätten im Wien der Werbewände und Handys keine einzige Note geschrieben. Wer überhaupt Musik im eigenen Kopf hören will, braucht einen Walkman, ebenso, wer den Störsender der städtischen Geräusche ausschalten oder abblocken möchte. Das Dröhnen des Walkmans, das so störend für den Nachbarn zischelnde Tschicka-Tschicka-Tschicka, garantiert paradoxerweise seinem Träger die ersehnte Stille. Erst mit zugestöpselten Ohren ist man "bei sich", zumindest in einer auralen Welt eigener Wahl.

Dies ist eine andere Zeit als jene der 20er oder 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, in denen das geschäftige Treiben der Großstadt, das Klappern der Schreibmaschinen, das Gebrumm und Gehupe der Automobile, das Klingeln der Telefon, als aufputschend und belebend empfunden wurde und dieses Lebensgefühl in stark synkopierten Jazz und elektronisch verstärkten R&B umgesetzt wurde. Die Neonlichter New Yorks empfand freilich bereits George Bernard Shaw als erregend nur für Analphabeten. Indes, was wir heute erleben, ist eine so komplette Veränderung unserer Umwelt, geradezu eine Umstülpung, die uns die Zeit vor 50 oder 80 Jahren nur als bizarre Chinoiserie empfinden lässt.

Es gab damals eine Trennung von Außen- und Innenwelt, von privatem und öffentlichem Bereich, die heute scheinbar völlig verloren gegangen ist. Männer setzten, bevor sie das Haus verließen, einen Hut auf, Journalisten griffen sich beim Verlassen der Redaktion die Krawatte vom Haken. Frauen benötigten vor jedem Schritt auf die Straße umfangreiche Fassadenarbeiten. Das Kinopublikum war gekleidet wie für die Oper. Heute unterscheidet sich die Bekleidung im öffentlichen Raum so gut wie gar nicht von jener, die man zu Hause oder im Schlafzimmer trägt. Die Gesellschaft stellt eine allgemeine und doch höchst konkrete Nacktheit zur Schau, als wäre gerade der öffentliche Raum der private oder wenigstens dem privaten vorzuziehen.

Der Anthropologe Hans Peter Duerr brachte in diesem Zusammenhang eine wichtige Unterscheidung ins Gespräch, die er auf Stammesgesellschaften angewendet wissen wollte. Dort gäbe es eine Form der Nacktheit, die in der Öffentlichkeit als Bekleidetheit angesehen würde(dies zum Unterschied zur privaten Nacktheit, wie sie Liebespaare miteinander erleben). Unsere Gesellschaft nähert sich einem solchen Begriff von öffentlicher und privater Nacktheit. Und damit wandeln sich auch unsere Begriffe von Intimität.

Detaillierte Liebesbekundungen und Selbstdarstellungen im Internet oder TV finden in aller Öffentlichkeit und doch gewissermaßen wie unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die öffentliche TV-Hochzeit, der Liebesschwur, gilt nur dem oder der einen, die damit gemeint ist, und nicht dem Gros der Zuschauer. Der intime Brief, ja das Briefgeheimnis, ist der öffentlichen Internetkommunikation, dem Chat mit mehreren Personen, der Selbstentblößung vor der Digicam gewichen.

Und auch das Handy ist etwas völlig anderes als nur eine andere Art des Telefons. Das Telefongespräch fand einst immer in einem abgeschlossenen Raum oder in einer Telefonzelle statt, die so privat war wie eine Umkleidekabine (für Superman wurde sie gerade deshalb identitätsbestimmend und -erhaltend). Die Einbrüche der Außenwelt - etwa die Unterbrechungen oder Anrufungen des Fräuleins von der Vermittlung in Cocteaus Telefonierstück La Voix Humaine - wurden als lästig und störend empfunden. Das Gespräch duldete kein Beisein eines Dritten. "Ich kann jetzt nicht sprechen" gehörte zu den Standardsätzen des Telefonierens. Er wurde geäußert, wenn eine weitere Person im Zimmer war und die Unverletztheit des privaten Sprechraumes nicht garantiert werden konnte. Das Mithören eines Gesprächs galt als Einbruch in die Intimsphäre.

Das Handy hat diese Situation völlig verändert. Nun sitzt man im öffentlichen Gehege, umgeben von Menschenmengen, und bespricht vernehmlich Geschäftsgeheimnisse und intimste Details des Liebeslebens. Aber auch hier ist, wie bei Duerrs öffentlicher Nacktheit, die in Wirklichkeit eine Bekleidetheit darstellt, der öffentliche Raum kein wirklich öffentlicher.

Wenn Sie sich zu Ihrem Gegenüber in der Straßenbahn vorneigen und, nachdem Sie notgedrungen das ganze Gespräch mitangehört haben, sagen: "Und lassen Sie die Kleine auch von mir ganz herzlich grüßen" - Sie würden konsternierte Blicke ernten. Ihre Beteiligung an dem doch scheinbar so öffentlich geführten Gespräch würde als unerwünschter und unerlaubter Einbruch in die Privatsphäre angesehen werden. Das Handy verändert aber nebenher und ganz wie von selbst auch die Natur der Kommunikation. Schon jetzt erscheinen uns Szenen aus Filmen der Siebzigerjahre lachhaft, wenn der Detektiv auf die verzweifelte Suche nach einem Telefon geht - oder wenn er einen gigantischen Walkie-Talkie ans Ohr hält.

Die ältere, die "Telefon-Generation", versteht umgekehrt nicht, was die Handy-Generation sich da eigentlich mitteilt. Wozu muss man jemandem stecken, dass man in fünf Minuten bei ihm sein wird, wenn man doch alles Wesentliche dann eben in fünf Minuten persönlich sagen kann? Wozu muss man eine SMS schicken, wenn man genau so gut anrufen könnte? Die Vorstellung, dass Telefonieren Geld kostet und man sich deshalb kurz fassen sollte, ist den meisten Zeitgenossen bereits abhanden gekommen, die Telefonrechnung überschreitet in manchen Fällen die Miete um das Doppelte. Wozu? fragt man sich, braucht es diese Unmenge von teurer Kommunikation?

Und schließlich entfällt mit der Deregulierung der Telefongesellschaften auch zusehends das altehrwürdige Telefonbuch. Immer mehr Menschen sind zwar telefonisch erreichbar, jederzeit und überall, aber sie stehen in keinem Verzeichnis, sie sind öffentlich nicht mehr greifbar. Wer nicht den Zugang über ein privates Netz von Kontakten hat, kann lange suchen, um jemanden ans Telefon zu kriegen.

Der öffentliche Raum wird reprivatisiert, zerkleinert, das private Netz der Kontakte umspannt nur noch etwa jene 150 Individuen, die ein höherer Primat auch in freier Wildbahn mit Namen und Gesicht unterscheiden kann. Das globale Dorf wandelt sich somit auch zu einem Stammesdorf, die Großstadt wird, dank Handy, selektiv wahrgenommen, bzw. zur gewünschten Größe herunterselektiert. Was an störendem Zuviel übrig bleibt, besorgt dann der Walkman.