Apotheose des Systemkritikers

Pierre Bourdieu, eine intellektuelle Ikone des ausgehenden 20. Jahrhunderts, ist tot, sein Vermächtnis jedoch ist nicht ganz unproblematisch

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Mittwoch Abends ist Pierre Bourdieu in einem Pariser Krankenhaus verstorben - eine Meldung, die bereits ein gewaltiges Medienecho hervorgerufen hat. Kaum einen halben Tag hat es gedauert, und schon hatte Le Monde die Reaktionen der französischen Spitzenpolitiker ins Netz gestellt. Libération hat zur bangen Frage, was von Bourdieu bleiben wird, sogleich ein Forum eingerichtet. Fraglos werden auch die deutschsprachigen Feuilletons zum Wochenende überquellen: Wer nicht weiß, wer Bourdieu war, der weiß jetzt, dass er irgendwie wohl wichtig gewesen ist.

Bourdieu bei einem Vortrag in Wien 2000

Wer war Pierre Bourdieu wirklich? Weder ein Nobelpreisträger noch ein Vertreter jener Wissenschaften, die mit ihren Forschungen für das sorgen, was der breiten Öffentlichkeit üblicherweise als Fortschritt verkauft wird. Bourdieu wurde bekannt als nüchterner Analytiker der Funktionseliten - die Betonung liegt zunächst auf Analyse, nicht auf Kritik. Selbstverständlich gilt er längst als Systemkritiker, und in dieser Spannung liegt wohl seine Bedeutung: Ein intimer Berater der regierenden Mächte ist einer, der es wohl geschafft hat. Umgekehrt gilt dann aber auch: Solange die Mächtigen einen Berater wie ihn haben, können sie so schlecht doch nicht sein.

1930 im Südwesten Frankreichs geboren, studierte Bourdieu - wie viele bedeutende französische Intellektuelle - Philosophie an der elitären ENS, der Ecole normale supérieure in Paris. Er arbeitete als Assistent an der philosophischen Fakultät in Algier, bevor er selbst in Paris akademisch zu lehren begann, wobei er zuletzt einen Lehrstuhl für Soziologie am renommierten College de France innegehabt hat.

Die feinen Unterschiede

Die deutsche Leserschaft machte zunächst Anfang der 70er Jahre Bekanntschaft mit Bourdieu, und zwar mit dem an zumindest an allen Kunsthochschulen gelesenen Zur Soziologie der symbolischen Formen. Diese schon 1970 bei Suhrkamp auf Deutsch publizierte Soziologisierung der Kunstwahrnehmung durfte in keinem fortschrittlichen Bücherregal fehlen. Dann folgten Anfang der 80er Jahre Die feinen Unterschiede, eine Analyse des kulturellen Geschmacks und der damit verbundenen sozialen Distinktionsmechanismen.

So klar hatte bisher noch kein Sozialwissenschaftler gezeigt, dass es im Bereich der Kunst und im Diskurs über Kulturleistungen eigentlich nicht um Inhalte geht, sondern um soziale Kriterien der Abgrenzung - um Distinktionen eben, womit ein antiquiert scheinender Begriff mit neuer Bedeutung aufgeladen wurde. Man war sich aber nicht mehr sicher, wer denn eigentlich gemeint war: Der pseudokritische linke Diskurs hatte sich längst an den "Klassenfeind" gewöhnt, doch nun war man möglicherweise selbst angesprochen? Dies traf auch auf die Akademiker zu, die im Homo Academicus (Deutsch 1988) nachlesen durften, welche untergründigen Mechanismen sie zu dem gemacht haben, was sie sind - nicht die Suche nach Wahrheit, sondern die entsprechenden sozialen Verpflichtungen und Verbundenheiten.

Eine weitgehend unbeachtete Glanzleistung Bourdieus jedoch war seine Analyse der Philosophie Heideggers (Die politische Ontologie Martin Heideggers, 1988) . Mitten in die Debatte um die verschwiegene politische NS-Verstrickung des großen deutschen Philosophen platzte diese nüchterne Analyse eines "scheelen Denkens", die ganz einfach aufzeigt, wie unhistorisch dieser Denker vor allem auch von den französischen Meisterdenkern gelesen worden ist. Bourdieu entdeckt den Effekt einer Formgebung, die einer Strategie des Meisterdiskurses entspricht. Kein Wunder, dass dieser Text von Philosophen als "soziologisierend" abgelehnt wurde - er spricht Wahrheiten aus, die nicht ihre Definitionen als Wahrheit voraussetzen.

Aufgrund dieser methodisch fundierten Distanziertheit wurde auf Bourdieu schließlich eine Erwartungshaltung übertragen, die er nicht immer halten konnte. Seine Medienanalyse Über das Fernsehen, 1996 zunächst als Fernsehsendung inszeniert und danach als Text publiziert, geriet zum Paradefall des performativen Widerspruchs. Der Theoretiker präsentierte zwar makellose Argumente gegen das Medium, in welchem er gleichzeitig - als Talking Head in einer Fernsehpräsentation - seine Argumente verbreiten konnte. Das war nicht weiter schlimm und blieb weitgehend unbeachtet, aber man hatte sich da irgendwie mehr erwartet. Der Theoretiker reduzierte sich auf eine konventionelle Rolle des Kommunikators, doch als Kassandra des Medienzeitalters hinterließ er einen Eindruck der Hilflosigkeit, vor allem was das Feld der neuen Medien betrifft.

Bourdieu für alle

Die Leser von Bourdieu - und bis heute sind das vorwiegend die zur Reflexivität freigesetzten Wohlstandskinder - sind zumeist erst mit der Lektüre seiner Texte mit jenen Realitäten konfrontiert worden, die Gegenstand der soziologischen Analyse sind. Sie spielen die Hauptrolle in einer Inszenierung der Betroffenheit, die sich in Begriffen wie "Globalisierungskritik" und "Neoliberalismus" äußern. Die Antwort darauf, wer für das Elend der Welt - "La misere du monde", Bourdieu et. al. 1993 - verantwortlich zeichnet, sah dementsprechend nebulös aus.

Der Meister war zuletzt zur Ikone eines Diskurses geworden, der keine Richtung mehr anzugeben wusste und sich in Schlagworten verlief. Bourdieu hat es zwar geschafft, sich einzumischen, was für einen Theoretiker der Sozialwissenschaften schon eine erhebliche Leistung bedeutet. Gleichzeitig verlor seine "engagierte Soziologie" sich aber in Dimensionen der Unvereinbarkeit - und die Kritik der postmodernen Revisionisten war ihm ebenso sicher wie der Zuspruch der Macht, zu deren Berater er aufgestiegen ist und die ihm jetzt Referenz erweist. Innerhalb eines engagierten Diskurses scheinen Aktionismus und Reflexivität schlicht unvereinbar zu sein.

Bourdieu war "nur" ein Gesellschaftswissenschaftler, ein Soziologe, also Vertreter einer Disziplin, deren Stern dieser Tage nicht gerade allzu hell leuchtet. Er war, mit anderen Worten, damit auch einer der letzten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Er möge wenig Verteidiger, seriöse Verächter, vor allem aber versierte Schüler haben.