Ein Erbhygieniker im Nationalen Ethikrat?

Verfahren gegen Psychiatrie-Kritiker eingestellt

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Als "Erbhygieniker" bezeichnen Psychiatrie-Erfahrene auf einer Webseite den Humangenetiker Peter Propping, Mitglied des Nationalen Ethikrates. Ein von Propping deshalb angestrengtes Strafverfahren wurde jetzt vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten auf Antrag der Staatsanwaltschaft eingestellt, die moniert hatte, es handle sich um einen "Fall minderer Schwere", man hätte "Wichtigeres zu tun". Auch wenn juristisch offen bleibt, ob Propping Erbhygieniker genannt werden darf, kann die inkriminierte Website weiter bestehen und weitere Klagen dürften schwieriger durchzusetzen sein. Der Berliner Landesverband Psychiatrie-Erfahrener wertete die Einstellung deshalb als Erfolg.

Prof. Peter Propping, Direktor des Instituts für Humangenetik der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, hatte wegen eines Links auf der Website des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg Strafanzeige wegen "übler Nachrede" gestellt. Stein des Anstoßes: Unter dem Link "Websites des Horrors" ist eine Linkliste psychiatrischer Institutionen zu finden. Wer dort den "Verband der Neo-Nazi Eugeniker" anklickt, gelangt zur International Society of Psychiatric Genetics, deren Aufsichtsrat Peter Propping angehört. Außerdem ist das Programm des sechsten Weltkongresses für Psychiatrische Genetik unter der Überschrift "Weltkongress Psychiatrischer Erbhygiene" verlinkt.

Seit diesem Kongress, der 1998 in Bonn stattfand und dessen Präsidentschaft Propping übernommen hatte, befindet sich der Humangenetiker im Visier antipsychiatrischer Kritik. Die Berufung Peter Proppings in den Nationalen Ethikrat verstärkte den Protest der Psychiatrie-Erfahrenen gegen ihn nochmals. Die Protestaktion gegen Propping anlässlich der konstituierenden Sitzung des Nationalen Ethikrates im Juni 2001 ist beispielsweise hier dokumentiert.

Psychiatrische Genetik - ein Forschungsansatz mit Tradition

Auch wenn die Kampagne der Psychiatrie-Erfahrenen stark personalisierende Züge trägt, betonte René Talbot als Vertreter des Berliner Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener in seiner ausführlichen Verteidigungsrede vor Gericht, so diene die Bezeichnung "Erbhygieniker" nicht der Beleidigung Peter Proppings als Person. Propping sei eine "austauschbare Charaktermaske der Wissenschaft", angegriffen werde er als Repräsentant der Psychiatrischen Genetik. Mit Verve forderte der Angeklagte die "längst überfällige Aufarbeitung der NS-Psychiatrie" durch die Profession. Die Rassenhygiene habe sich zwar nach 1945 zur Humangenetik gewandelt, sei "inhaltlich aber natürlich dasselbe" geblieben. Weiterhin seien "erbgesunde Menschen" das Ziel.

Herrn Propping als "Erbhygieniker" und die International Society of Psychiatric Genetics als "Verband der Neo-Nazi Eugeniker" zu bezeichnen, stelle keinesfalls eine Tatsachenbehauptung dar, sondern sei ein "Werturteil", argumentierte Talbots Rechtsanwalt Wolfgang Ziegler. Diese "überspitzte Kritik" falle in den Bereich der Meinungsfreiheit. Der Link müsse im Gesamtzusammenhang der Website des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener gesehen werden. Dieser wolle darauf aufmerksam machen, dass die heutige medizinische Forschung im Bereich der psychiatrischen Genetik "in der Geschichte bereits einmal eine Entsprechung gefunden" habe. Wenn der Landesverband befürchte, dass durch die Forschungen der Psychiatrischen Genetik eine "Erbhygiene" eingeführt werde, wolle er auf die dunkle Tradition dieser Bemühungen hinweisen, sie aber nicht gleichsetzen mit den NS-Praktiken. Ziegler sagte, es werde nur betont, dass "der medizinische Ansatz der gleiche" sei: Die Kategorisierung normabweichenden Verhaltens als genetisch determinierte "psychische Erkrankung".

Der Leib wird als Körper zum Material der Forschung Neben der Kritik an den möglichen Ergebnissen der psychiatrisch-genetischen Forschung stellen die Verbände der Psychiatrie-Erfahrenen aber auch die gegenwärtige Praxis der Forschung in Frage: Werden die Persönlichkeitsrechte derjenigen "Schizophrenen", "Depressiven" etc. gewahrt, an deren Körpermaterialien geforscht wird? "Vermutlich" seien Körpermaterialien von Psychiatrisierten "OHNE den ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen" auf ihre genetische Beschaffenheit untersucht worden, schreibt der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener.

Da solcherlei Zustimmung "nicht bekannt" sei, geht der Bundesverband davon aus, dass die Untersuchungsergebnisse des Bonner Instituts für Humangenetik "durch Körperverletzung sowie einen Verstoß gegen die informelle Selbstbestimmung zustande gekommen" seien. Liege wider Erwarten doch eine "Zustimmung" vor, müsse dennoch "bewiesen werden, dass diese nicht während einer Zwangseinweisung erfolgte, wo der Betroffene mit Zwang und Gewalt zum Aufenthalt in der Klinik und zur Einnahme von psychotrophen Drogen gezwungen wurde."

Propping entgegnete auf derlei Vorwürfe gegenüber Telepolis, seine Arbeitsgruppe mache "nur die Laboruntersuchungen und statistische Berechnungen". Die Blutproben würden von kooperierenden psychiatrischen Institutionen geliefert. Er vertraue den dortigen Ethik-Kommissionen, dass die Entnahme-Praxis korrekt verlaufe.

Geheimclub-Ethik im Dienste der Forschung

Ob Ethik-Kommissionen das geeignete Instrumentarium sind, um die Rechte der PatientInnen zu wahren, wird von PatientInnenvertretern seit langem angezweifelt. Johannes Spatz, Sprecher der Arbeitsgruppe Ethik im Berliner Patientenforum, weist im Gen-ethischen Informationsdienst 8/9 2000 darauf hin, dass sich die meisten Ethik-Kommissionen "nicht mit der Ethik, sondern mit Forschungsdesign (beschäftigen)". Ethische Richtlinien erwiesen sich meist als "selbst programmierte Software, mit beliebigen Updates je nach geänderter Forschungsrichtung", spottet auch der Gladbecker Ex-Oberarzt Linus Geisler.

Weiter kritisiert Spatz die Zusammensetzung dieser Gremien. Sie seien "Geheimklubs, es darf nichts von dem nach außen dringen, was dort behandelt wird. Die Patienten sind nicht oder nur am Rande beteiligt, und die Interessensvertreter der Forschung dominieren die Ethik-Kommissionen. Das führt dazu, dass derzeit Ärzte und Forscher darüber entscheiden, ob ein medizinischer Versuch durchgeführt werden soll oder nicht, und sie kontrollieren den Versuch mehr oder weniger."

Die Psychiatrische Genetik basiert auf unbewiesenen Hypothesen

"Ich habe mit Nazis nichts zu tun", verteidigte sich Propping gegenüber Telepolis. Er habe Klage eingereicht, weil der Vorwurf, er sei ein "Erbhygieniker", "völlig absurd" sei. In diesem Land könne er sich nicht als Nazi beschimpfen lassen. Eine Motivation für die Forschungen seiner Arbeitsgruppe sei es, Krankheitsursachen zu bestimmen, um daraus Medikamente entwickeln und die Vorsorge verbessern zu können, sagte Propping. Das Interesse der Psychiatrischen Genetik, zu der Peter Propping zu zählen ist, gilt insbesondere Erkrankungen des zentralen Nervensystems, z.B. Epilepsie, Schizophrenie und vor allem der manischen Depression. Ihre Vermutung: Es sind Gene, die den Austausch von Nervenboten wie Dopamin und Serotonin hemmen oder zu stark fördern.

Dass menschliches Verhalten oder kognitive Leistungen des Gehirns einer genetischen Analyse zugänglich seien, ist innerhalb der Biowissenschaften allerdings höchst umstritten. Dennoch sagte Propping gegenüber Telepolis, er kenne "keinen besseren Ansatz als den genetischen", da dieser besonders viel erklären könne. Allerdings blieben auch Peter Proppings Hypothesen bisher unbewiesen. "Wir haben eine ganze Reihe von Varianten gefunden, aber noch keine, die bei Schizophrenen häufiger ist als bei Gesunden", räumt er selbst ein.

Auch als er im Mai 1997 eine enge Korrelation zwischen einer bestimmten Region auf Chromosom 18 und der manisch-depressiven Erkrankung nachweisen zu können glaubte, konnte kein "verantwortliches Gen" isoliert werden. Im Januar diesen Jahres machte seine Arbeitsgruppe damit Schlagzeilen, ein auf Chromosom 8 liegendes Gen sei an depressiven Erkrankungen beteiligt. Auch diesmal handelte es sich aber nur um eine Vermutung.

Selektion von "Schizophreniegenträgern"?

Keine vergleichbare medizinische Richtung wird so entschieden von den Betroffenen abgelehnt wie die Psychiatrische Genetik. Für die KritikerInnen ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein Schizo-Gen gefunden wird: "Wie lange dauert es noch, bis sogenannte 'Schizophreniegenträger' abgetrieben und Embryonen verändert werden!?" fragte die Mitgliederversammlung des 800 Mitglieder starken Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener anlässlich der Einsetzung Peter Proppings in den Ethikrat. Auf diese Vision angesprochen, sagte Propping gegenüber Telepolis, eine Selektion werde "nie gehen", da es sich bei psychischen Erkrankungen nicht um monogen verursachte handele, vielmehr sei "ein Muster von Genen in Wechselwirkung mit Umweltfaktoren" aktiv. Dies begrenze die Vorhersagekraft von Gen-Tests.

Hier kehrt sich einerseits das übliche Argumentationsmuster von KritikerInnen und Wissenschaft um: Im Aufrufen des Horrorszenarios glauben die KritikerInnen schon fast mehr an die Gene, als die zweifelnden ForscherInnen. Dies könnte sich als Falle erweisen: Wenn der Forschung unterstellt wird, sie könne alles, ist es für die Apologeten der Forschung wiederum ein Leichtes, sich als differenziert und der eigenen Grenzen bewusst darzustellen.

Andererseits kann die Befürchtung der Psychiatrie-Erfahrenen - anders angelegt - auch wieder stark gemacht werden: Gerade wenn sich die Forscher selbst dessen bewusst sind, dass psychische Erkrankungen von derart komplexen Ursachen sind, dass sie sich einer eindimensionalen Erklärung widersetzen, und wenn ein "Schizophrenie-Gen" nie gefunden werden wird, so ist es doch möglich, dass ein Test auf den Markt kommt, der - beruhend auf humangenetischen Untersuchungen von DNA-Variationen - die Eintrittswahrscheinlichkeit abzuschätzen verspricht. Im Kontext der pränatalen Diagnostik angewandt, hätte dies die befürchteten eugenischen Effekte. Zusammenfassend könnte also gesagt werden: Gerade dass kein einzelnes Gen verantwortlich zu machen ist, macht wiederum die genetische Forschung an komplexen Erkrankungen so brisant.

Von der Rassenhygiene zur Humangenetik

Die Bezeichnung "Erbhygieniker" ist insofern paradox, da die Zwangsmaßnahmen der NS-Erbgesundheit wie Sterilisation, Eheverbot und Mord heute nicht mehr verfolgt werden, eugenische Fragestellungen aber nicht aus der modernen Humangenetik verschwunden sind und eugenische Utopien sogar neu entworfen werden. Selbst wenn die Geschichtskonzeption der Psychiatrie-Erfahrenen zunächst sehr holzschnittartig erscheint, werden ihre Thesen von der historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung größtenteils bestätigt. Von dieser Seite wird aber zunächst auf die Unterschiede von Rassenhygiene und Humangenetik eingegangen, um erst in einem zweiten Schritt festzuhalten, welche Kontinuitäten bestehen.

Nach 1945 galt es, die Humangenetik vom Geruch der nationalsozialistischen Medizin und Eugenik zu befreien, schreibt etwa Regine Kollek, Professorin für Technikfolgenabschätzung der Biotechnologie an der Universität Hamburg und ebenfalls Mitglied im Nationalen Ethikrat. Der Bruch der neuen Humangenetik mit der alten Eugenik habe erstens darin bestanden, dass die neue Humangenetik "sich auf die Analyse solcher monogen bedingter Merkmale beschränkte, bei denen der Einfluss der Umwelt als gering galt." Dieses Abgrenzungsprinzip werde heute wieder "durchlässig", schreibt Kollek weiter, da sich die Aufmerksamkeit der Humangenetiker "zunehmend wieder auf die Erforschung komplexer Krankheiten" wie etwa der Schizophrenie richte. Damit stünden wie zu Zeiten der alten Eugenik wieder Verhaltensmerkmale auf der Forschungsagenda. Eine Anmerkung, die heute übrigens in der deutschen Öffentlichkeit fast überhaupt nicht diskutiert wird.

Zweitens etabliert sich eine eugenische Praxis laut Kollek heute über eine im Rahmen individueller Gesundheitsvorsorge durchgeführte Genomanalyse - im Gegensatz zur Erbhygiene, die sich auf ein Kollektiv, das Volk oder die Rasse richtete. Gegenstand der Humangenetik ist nicht mehr die "Erbgesundheit" der Bevölkerung, sondern die genetische Beschaffenheit von Individuen. Sie will das Fortpflanzungsverhalten außerdem nicht mehr durch staatliche Zwangsmaßnahmen in den Griff bekommen, sondern sieht sich als Bereitstellerin eines neutralen Angebots, das die PatientInnen zur eigenverantwortlichen Selbststeuerung nutzen können. Festzuhalten ist, dass die Humangenetik damit einem grundlegend anderen Paradigma als die NS-Rassenhygiene folgt.

Auch wenn die moderne Biopolitik den Bevölkerungskörper über die individuellen Körper reguliert, so besteht die Parallele mit der "Erbhygiene" in der eugenischen Zielsetzung, also der Verbesserung der genetischen Qualität durch administrative oder technologische Maßnahmen.

Bei der pränatalen Diagnostik lässt sich etwa sehen, dass die Ziele der Rassenhygieniker heute durch die moderne Humangenetik umgesetzt werden. Lisbeth N. Trallori hat darauf hingewiesen, dass Alfred Ploetz, Begründer der deutschen Eugenik, auf den der Terminus "Rassenhygiene" zurückgeht, bereits vorgedacht hat, was Gentechnik und Humangenetik heute einlösen. Ploetz sei von der Optimierbarkeit des Menschen überzeugt gewesen. Da die "natürliche" Selektion durch den Zivilisationsfortschritt allerdings unwirksam geworden sei, müsse eine gesellschaftlich gesteuerte Selektion an ihre Stelle treten. In seinen "Grundlinien einer Rassenhygiene" (1895) empfiehlt Ploetz laut Trallori, Ehe und Fortpflanzung nur "hochwertigen" Paaren zu gestatten, eine medizinische Überwachung der Schwangerschaft und die Begutachtung jedes neugeborenen Babies - dem, wenn es "ein schwächliches oder mißgestaltetes Kind" ist, "ein sanfter Tod bereitet (wird), sagen wir durch eine kleine Dosis Morphium".

Trallori schreibt, Ploetz sei vollkommen bewusst gewesen, dass diese "Ausjäte" - wie er den Tötungsakt nannte - Teil einer "rücksichtslosen Rassenhygiene" und tunlichst zu vermeiden sei. Deshalb habe er vorgeschlagen, diese "Ausjäte" auf das Niveau der Keimzellen zu verschieben und an die wissenschaftliche Forschung appelliert, sie solle "Möglichkeiten der künstlichen Auslese der Keimzellen (...) entwickeln." Ploetz habe sogar ausdrücklich von der "Abwälzung der Ausmerzung von der Personenstufe auf die Zelllstufe" gesprochen. Zum Schluss zitiert Trallori sein Fazit: "(...) wenn keine Schwachen mehr erzeugt werden, brauchen sie auch nicht mehr ausgemerzt werden." Exakt diese Überlegung ist es, die durch die pränatale Diagnostik und die Präimplanationsdiagnostik zunehmend umgesetzt wird und um die es im Grunde genommen bei dem Gerichtsverfahren "Psychiatrie-Erfahrene gegen Humangenetik-Professor" ging: Die eugenische Selektion wurde "von der Personenstufe auf die Zellstufe" umgestellt.