Die Suche nach dem Panchen Lama

Ein Gespräch mit Isabel Hilton über ihr Buch, den Fall des doppelten Panchen Lama und den Kampf der Tibeter um ihre Religion und Kultur

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Mai 1995. Chinesische Sicherheitskräfte verschleppen Gedun Choekyi Nyima und seine Familie aus Tibet. Für die tibetischen Buddhisten gilt dieser Junge als Elfte Reinkarnation des Panchen Lama; nach alten traditionellen Ritualen war er vom Dalai Lama, dem geistigen und politischen Führer der tibetischen Exilgemeinde, ausgewählt worden.

Der Panchen Lama, zweithöchster Würdenträger in der religiösen Hierarchie nach dem Dalai Lama, ausgewählt vom Symbol des freien Tibets? Für die chinesischen Invasoren war der Junge ein Störfaktor bei ihrer Befriedungspolitik des seit 50 Jahren besetzten und unterdrückten Tibet. Also inthronisierte Peking eine selbst ernannte Reinkarnation des Panchen Lama, ebenfalls ein tibetischer Junge; der sitzt seit Mitte der 90er Jahre in einer Villa am Stadtrand der chinesischen Hauptstadt wie in einem Goldenen Käfig und wird ab und an in einem Kordon von Sicherheitskräften nach Lhasa gekarrt.

Der Fall des entführten tibetischen Jungen, schreibt die britische Journalistin und China-Expertin Isabel Hilton in ihrem Buch "Auf der Suche nach dem Panchen Lama", steht allerdings nicht nur für eine individuelle Tragödie, sondern hier spiegelt sich der tragische Kampf der Tibeter um den Erhalt ihrer buddhistischen Religion und Kultur. Hartwig Tegeler sprach mit Isabel Hilton über ihr Buch.

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Einmal sprachen Sie mit dem Dalai Lama über die Zeichen, aufgrund derer die tibetischen Buddhisten Reinkarnationen ihrer Lamas auswählen, und dabei erzählte er Ihnen von einem Jungen, der im Mutterleib Mantren aufsagte. Sie schreiben, Sie hätten da das Gefühl gehabt, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Isabel Hilton: Das war während eines Gesprächs mit dem Dalai Lama, als wir über verschiedene Kinder sprachen, die als Reinkarnation des Panchen Lama in Frage kamen. Und dann erzählte er eben von einem Jungen, der sprach, bevor er geboren wurde. Das erschien mir doch - vorsichtig gesagt - recht unwahrscheinlich. Aber vielleicht war die Geschichte vom sprechenden Fötus ja auch etwas, was jemand erzählt hatte, der wollte, dass sein Kind vom Dalai Lama ausgewählt würde. Ich schaute den Dalai Lama an und suchte auf seinem Gesicht nach einem Zeichen, das irgendwie andeutete, dass er diese Geschichten selbst für unwahrscheinlich hält. Ich wollte einfach wissen, wie ernst und wie wörtlich er so etwas nimmt.

Und wie wörtlich nahm er das?

Isabel Hilton: Ich fragte ihn nicht! (Lachen.) Aber er gab keinen eindeutigen Hinweis von Ironie oder Ähnlichem. Nun ist der Dalai Lama aber nicht jemand, der über die magischen Seiten des tibetischen Buddhismus öffentlich redet. Vielleicht war er in Bezug auf den sprechenden Fötus auch skeptisch. Möglicherweise.

Haben Sie selbst diese magischen Seiten des tibetischen Buddhismus, der ja viele Westler fasziniert, bei Ihrer Recherche erfahren?

Isabel Hilton: Das interessierte mich nicht wirklich. Ich bin keine Buddhistin, und für die Arbeit an meinem Buch war es nicht wichtig, was ich glaube. Mich interessierte die politisch-historische Situation und Entwicklung Tibets. Entscheidend für mich war nur zu erfahren, was die Tibeter glauben, denn dieser Glaube treibt sie an in ihrem Widerstand gegen die Chinesen, und er bewegt sehr viel. Wenn mir ein tibetischer Mönch erzählte, dass der vorherige Panchen Lama immun gegen Kugeln war, das ist dann etwas, was der Mönch glaubt; ob ich das glaube oder nicht, ist unwichtig. Es ist nicht meine Aufgabe, den Glauben anderer Leute zu beurteilen. Mir geht es darum, sie zu verstehen.

In der individuellen Tragödie der Reinkarnation des Panchen Lama verbirgt sich die sehr viel größere tibetische Tragödie, haben Sie gesagt. Ist das die alte Geschichte von der Unterdrückung eines Volkes durch einen mächtigen Nachbarn?

Der entführte Panchen Lama Gedun Choekyi Nyima

Isabel Hilton: Für mich ist es tragisch zu sehen, wenn ein kleines Land mit einer wundervollen Kultur, einer langen Geschichte und sehr eigenen Traditionen in seinem Wesen zerstört wird. 1950 marschierten die Chinesen in Tibet ein. Seitdem sind Hunderte von Klöstern dem Erdboden gleichgemacht worden. Diese Klöster waren aber die intellektuellen, kulturellen und religiösen Zentren der Tibeter. Die tibetische Kultur wurde so immer stärker zerstört. Und das geht heute so weiter! 1959 flohen Hunderttausend Tibeter ins Exil. Nur im Exil können die Tibeter ihre kulturellen und religiösen Traditionen frei leben. Aber auch das ist schwierig, denn sie sind zu wenige in ihren Exilgemeinden; sie haben nicht viel Geld. Und vor allem: Es ist nicht ihr Land, in dem sie jetzt leben müssen.

Nach dem buddhistischen Glauben ist der Tod eine kurze Phase vor der nächsten Wiedergeburt, und wenn in Tibet ein geistiger Würdenträger starb, machten sich Mönche auf die Suche nach seiner Reinkarnation; die wurde dann von einem hohem Lama bestätigt. Das ist seit Jahrhunderten Tradition und heute noch - im religiös-gesellschaftlichen Selbstverständnis der Tibeter - Fundament ihrer Gesellschaft. Aber wie konnte es dazu kommen, dass sich Tibeter - Feder führend der Dalai Lama - und die chinesischen Besatzer so vehement um die richtige Reinkarnation des Panchen Lama streiten, und am Ende gar ein sechsjähriger Junge verschleppt wird?

Isabel Hilton: Die Beziehung zwischen dem Dalai Lama und dem Panchen Lama - dem ersten und dem zweiten Würdenträger in der traditionellen Hierarchie der tibetischen Mönchsgesellschaft - war traditionell sehr eng. Beide waren so etwas wie Žspirituelle BrüderŽ, wenn auch selten konfliktfrei. Aber es war immer Brauch, dass der eine die Reinkarnation des anderen identifizierte. Wenn man nach einem neuen Panchen Lama suchte, befragte man den Dalai Lama und umgekehrt. Dieses Verhältnis war in gewisser Weise - vom 17. Jahrhundert an bis zur Invasion - konstitutionell für die tibetische Theokratie.

Wenn man also einen chinesisch dirigierten Panchen Lama hat, dann bekommt Peking die Chance, nach dem Tod des jetzigen Dalai Lama mit dessen Reinkarnation auch einen chinesisch bestimmten Dalai Lama zu bekommen?

Isabel Hilton: Das ist der Kern des Streits. Und mit einem Dalai Lama von Pekings Gnaden könnten die Chinesen letztendlich das Ziel erreichen, das sie seit 50 Jahren - und länger! - verfolgen und die Oberhoheit über die geistigen Prozesse in Tibet erlangen. Tibet wäre endgültig befriedet!

Aber es lief - am Ende - nicht gut für die Exiltibeter?

Isabel Hilton: Die Tatsache, dass der Panchen Lama, den der Dalai Lama gegen den Widerstand der Chinesen identifiziert und ausgewählt hat, verschleppt wurde, ist eine Niederlage für tibetische Traditionen. Denn ohne diesen Panchen Lama gibt es ernsthafte Zweifel, ob es möglich sein wird, nach dem Tod des jetzigen Dalai Lama dessen Reinkarnation zu finden. Zumindest wird es schwierig sein, sich mit Peking auf einen Kandidaten zu einigen. Und vielleicht wird es auch Auseinandersetzungen in der Exilgemeinde geben, denn der Panchen Lama hat - gemäß der Tradition - die geistige Autorität sein, die über die Auswahl des nächsten Dalai Lama entscheidet.

Der von den Chinesen erwählte Panchen Lama

Das meinen Sie, wenn Sie schreiben, heute habe Tibet zwei Panchen Lama - einen vom Dalai gewählten, den entführten Jungen, und einen von Pekings Gnaden.

Isabel Hilton: Darum geht es. Es reicht nicht, als reinkarnierter Lama geboren zu werden. Die Tradition im tibetischen Buddhismus verlangt eine lange klösterliche Erziehung, die mitunter mehr als zwanzig Jahre dauert. Die Klöster, in denen die jungen Mönche erzogen werden, hatten eine Bedeutung wie mittelalterliche Universitäten; sie waren Zentren des Wissens und der Spiritualität. Die Aufgabe eines Lamas ist zu lehren; erst zu lernen, dann zu lehren. Und die Übermittlung einer Tradition basiert auf einer sehr tiefem Beziehung zwischen einem Lehrer und einem Schüler. Sollte also Gedun Choekyi Nyima - der vom Dalai Lama ausgewählte Panchen Lama - irgendwann von den Chinesen freigelassen werden, wird er nicht auf die religiöse Erziehung aufbauen können, die der Junge braucht, um ein großer religiöser Führer zu werden.

Nun gibt es ja den Jungen, den die Chinesen als "ihren" Panchen Lama erwählt haben. Wird der zu einem buddhistischen Lama erzogen?

Isabel Hilton: Ja, dieser Junge bekommt die Erziehung; er lebt in Peking mit einem tibetischen Lehrer. Er studiert also. Er wurde auch zu dem Stammkloster des Panchen Lama in Tibet - Tashillumpo - gebracht und bekam seine Initiation. Aber diese Besuche in Tibet finden in einem riesigen Pulk von Sicherheitskräften statt, denn die Chinesen können sich nie sicher sein, was in Tibet passiert. Das Problem ist nämlich, dass kein Tibeter glaubt, dass der Junge aus Peking der wirkliche Panchen Lama ist. Er bekommt seine Erziehung, aber er wird nie die spirituelle Autorität haben, weil jeder weiß, dass seine Wahl den Tibetern aufgezwungen wurde, und dass sie von politischen Vorgaben, nicht von spirituellen bestimmt war.

Diese Auftritte in Tibet nimmt also niemand ernst?

Isabel Hilton: Na ja, sie sind eine Show, nicht mehr. Propaganda.

Was weiß man über den Verbleib dieses Jungen, den der Dalai Lama auserwählt hat und den einige Menschenrechtsorganisationen den "jüngsten politischen Gefangenen der Welt" nennen?

Isabel Hilton: Wir wissen eigentlich gar nichts! Kurz nachdem der Dalai Lama ihn als Panchen Lama identifiziert hatte, wurde der Junge zusammen mit seiner Familie verschleppt. Er verschwand. Das letzte Mal wurde er auf einem Flughafen in der Nähe seines Heimatortes gesehen. Aber niemand weiß, wohin das Flugzeug, in das er stieg, flog. Die chinesische Regierung wurde immer wieder von den Vereinten Nationen, von anderen Regierungen und Menschenrechtsorganisationen nach dem Verbleib des Jungen gefragt. Die Antworten waren und sind vielfältig und widersprüchlich. Mal sagen die Chinesen, er sei "Zuhause", mal, er sei "sicher" oder lebe "ein normales Leben". Aber wenn er wirklich ein "normales" Leben lebt, wo ist er dann? Warum ist er so offensichtlich ein Gefangener? Der Junge hat nichts getan, er ist ein Kind!

Zurück zu dem, warum dies alles geschah. Warum war es für die Chinesen so wichtig, die Suche nach dem Panchen Lama zu bestimmen?

Isabel Hilton: Die Chinesen habe nach der Invasion im Jahr 1950 versucht, Tibet mit unterschiedlichen Strategien zu befrieden. Nach einer Phase der Kooperation mit dem buddhistischen Establishment in den fünfziger Jahren und der militanten Phase der Zerstörung während der Kulturrevolution kam die Zeit, in der China sich nach Westen öffnete. Von da an wollten die Chinesen demonstrieren, dass sie nun ein liberales Land sind, dass die alten Tage der Kulturrevolution vorbei sind, und dass es Religionsfreiheit gebe.

Auch für die Tibeter in Tibet?

Isabel Hilton: Auch in Tibet, weil die Weltöffentlichkeit dies ja forderte, wenn die Chinesen akzeptierter Teil der internationalen Gemeinschaft werden wollten. Gleichzeitig versuchte Peking, die Legitimität der Herrschaft über Tibet zu rechtfertigen. Was nie gelang; im Gegenteil: Seit 1950 gab es immer wieder Aufstände gegen die Besatzer. So suchten die Invasoren also nach einem Weg zu beweisen, dass sie historisch das Recht besaßen, die - wie sie es nannten - 'lokalen tibetischen Führer' zu ernennen. Nun sind die #lokalen tibetischen Führer' seit dem 17. Jahrhundert religiöse Würdenträger: Tibet war eine Theokratie. Und bei der Auswahl des Panchen Lama - eben der zweithöchsten Autorität in der tibetischen Hierarchie nach dem Dalai Lama - wollte die chinesische Regierung den Dalai Lama heraushalten. Weil der Dalai Lama, der in Nordindien im Exil lebt, für das freie Tibet steht und als moralische Autorität weltweit anerkannt wird. So wurde die Wahl des Panchen Lama wurde zur Žinternen AngelegenheitŽ erklärt, die nur in Tibet stattfinden sollte - ohne den Dalai Lama.

Wie schätzt der Dalai Lama heute die Rolle und das Schicksal dieses entführten Jungen ein, den die Chinesen 1995 verschleppten?

Isabel Hilton: Der Dalai Lama ist so etwas wie ein Berufsoptimist. Und er sagte zu mir, wenn Gedun Choekyi Nyima die richtige Wahl war - und davon ist der Dalai Lama überzeugt -, dann wird er der Panchen Lama sein, egal, was passiert. Und vielleicht sollt man sich daran erinnern, dass der Zehnte Panchen Lama, der 1989 unter mysteriösen Umständen starb, jemand war, der in den ersten Jahren seines Lebens extrem durch die Chinesen beeinflusst war, der nur mit Hilfe chinesischer Truppen überhaupt nach Tibet kam, der von den Chinesen als Marionette benutzt und von vielen Tibetern als 'Betrüger' beschimpft wurde, dass aber genau dieser Panchen Lama in den letzten zehn Jahren seines Lebens einer der heftigsten Kritiker der chinesischen Politik war. Am Ende erwies er sich als patriotischer und sehr religiöser Tibeter.

Es gibt ein Wahrnehmungsmodell im Westen, das funktioniert so: Die Tibeter sind die Guten, die Chinesen die Bösen! Es ist sehr schwer, sich dieser Schwarz-Weiß-Logik zu entziehen. Trotzdem üben sie in Ihrem Buch auch Kritik an den Tibetern, ihren politischen Strategien, die sie auch blind gemacht haben gegenüber einer realistischen Einschätzung der Kräfteverhältnisse im Himalaja und den Eroberungslüsten der chinesischen Nachbarn. Sie schreiben auch einmal, dass das "Exil die Wahrnehmung verwischt", dass also die Exil-Tibeter eines Mystifizierung der Vergangenheit betreiben?

Isabel Hilton: Mit der Erinnerung ist das eine komplizierte Sache, besonders im Exil. Man hat sein Land, seine Kultur, seine Lebensweise verloren, und aus der Perspektive des Exils wird die Heimat zum Paradies. Fragen Sie mal Kubaner in Miami, da wird das Battista-Kuba zu einem Paradies; was es natürlich nicht war. Das ist eigentlich ein ganz normaler Vorgang.

Die andere Geschichte ist die Rolle, die Tibet in den Augen vieler Westler zu spielen hat, möchte man sagen. Da wird das alte Tibet dann ebenfalls zu einem Phantasieprodukt, einem Paradies. In den 40er und 50er Jahren gab es ein sehr berühmtes Buch von James Hilton mit dem Titel "Der verlorene Horizont" (Fischer Verlag) - ich lege Wert darauf zu betonen, dass ich mit diesem Herrn Hilton nicht verwandt bin. (Lachen.) Da hieß dieses tibetische Phantasie-Land "Shangri-La", ein Ort voller Spiritualität und Harmonie, und ich vermute, da hat es auch nie geregnet. Und natürlich haben viele Leute hier bei uns im Westen ein tiefes Bedürfnis, an diese Art von Paradies, an "Shangri-La", zu glauben. Wenn diese Leute aber mit dem realen Tibet in Berührung kommen, dann sind sie enttäuscht, dass Tibeter nicht perfekt sind. Warum aber sollten Tibeter vollkommener als irgendjemand von uns sein? Du musst nicht perfekt sein, um Menschenrechte zu haben. Ich denke, man tut den Tibetern einen größeren Gefallen, wenn man ihre Wahrheit sieht und ihnen nicht eine projizierte Phantasie aufpfropft.

Und diese Normalität findet auch in der tibetischen Religion ihren Niederschlag?

Isabel Hilton: Natürlich! Es gab auch zwischen den verschiedenen Panchen und Dalai Lamas heftigen Streit. Einige Dalai Lamas wurden umgebracht, bevor sie überhaupt erwachsen wurden. Vergiftet!

Was ist nun am Ende die Moral dieser grausamen und traurigen Geschichte? Zwei Jungen sind in einer Art Gefängnis; es sind Mönche wegen der Auseinandersetzung um die Reinkarnation des Elften Panchen Lama ins Gefängnis gekommen, womöglich gefoltert worden. Was ist die Moral?

Isabel Hilton: Als erstes haben die Chinesen verloren. Sie haben zwar einen Panchen Lama, aber was soll ein religiöser Führer, an den niemand glaubt. Aber auch die Exiltibeter haben ein Problem: Eine der wichtigsten Traditionen des tibetischen Buddhismus, die Suche nach der Wiedergeburt eines hohen Lamas, ist ausgehöhlt worden. Sich einen nächsten Dalai Lama vorzustellen, ist für die Tibeter im Exil nach diesem Konflikt kaum vorstellbar. Der Dalai Lama selbst sagt, dass er vielleicht der letzte Dalai Lama ist.

Zeigt diese Geschichte, dass der Glauben eine große Macht ist?

Isabel Hilton: Der Glauben ist eine außerordentlich große Kraft. Es gab in diesem ganzen Prozess Momente, in denen das chinesische Politbüro - das höchste Organ der Kommunistischen Partei - versuchte, ein Regelwerk für die richtige Auswahl von reinkarnierten Lamas aufzustellen! Offiziell ist die chinesische Kommunistische Partei eine atheistische, marxistisch-leninistische Partei. Ich wüsste nicht, wo man in den Schriften von Marx, Engels, Lenin oder Mao etwas über richtige Reinkarnationen liest. Ich dachte mir manchmal: Wer gewinnt eigentlich? Der Dalai Lama legt keine kommunistischen Regeln für seine Klöster vor, aber die Chinesen welche über Reinkarnationen!

Gleichzeitig war ich von den Tibetern beeindruckt, die mit einem enormen persönlichen Mut ihre Traditionen zu bewahren suchten und dabei ihre Freiheit und ihr Leben riskierten. Und das passiert weiter in Tibet. Jeden Tag. Das alles ist ein ungeheurer Beweis für die Kraft des Glaubens. Es gibt für diese Menschen keine materielle Belohnung. Sie glauben! Und gegen diese Art von Glauben ist es für jede Art von politischem System unmöglich zu siegen. Am Ende - denke ich! - werden die Chinesen verhandeln müssen. Und es ist eine große Tragödie, dass sie das bisher noch nicht wirklich getan haben.

Isabel Hilton: "Die Suche nach dem Panchen Lama. Auf den Spuren eines verschwundenen Kindes". Verlag C.H.Beck - München 2002. 413 Seiten. 22,90 Euro