Skrupel oder Tabus scheinen keine Rolle mehr zu spielen

Interview mit Sophie Deeg, die sich seit Sonntag im belagerten Hauptquartier von Arafat befindet

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Seit Beginn des Konfliktes zwischen dem israelischen Staat und palästinensischen Gruppen sind Friedensaktivisten in der Region aktiv. Besonders seit Beginn der sogenannten Al-Aqsa-Intifada vor anderthalb Jahren mobilisieren Friedensgruppen in die Region, um eine weitere militärische Eskalation zu vermeiden. Die Idee ist, mit der Präsenz von am Konflikt unbeteiligten ausländischen Beobachtern die Parteien auf beiden Seiten zur Räson zu bringen. Wie in Kolumbien oder Mexiko funktionierte diese Taktik bislang auch in der Westbank. Unter Federführung israelischer Friedensgruppen wie Gush Shalom stellten sich die internationalen Aktivisten der israelischen Armee bei Vorstößen in den Weg. Die Forderung: Ein Ende der Gewalt und sofortiger Rückzug aus den besetzten Autonomiegebieten.

Seit vergangenem Freitag hat sich die Lage geändert. Mit bislang unbekannter Härte gehen israelische Truppen in den Gebieten vor. Alle Ausländer, auch die Pressevertreter, wurden zum Verlassen der Region aufgefordert. Die Zeichen stehen auf Sturm. Trotzdem verharren rund Einhundert Aktivisten in der Region. Unter ihnen befinden sich auch zwei deutsche Frauen. Die Lehrerin Sophie Deeg und ihre 21-jährige Tochter Julia, die als Kindergärtnerin in Berlin arbeitet, waren in der Westbank unterwegs, als die Gruppe sich am Sonntag entschloss, in das unter Beschuss stehende Hauptquartier von Palästinenserpräsident Jassir Arafat zu fahren. Dort sind sie zur Zeit eingeschlossen.

Harald Neuber sprach mit Sophie Deeg. Sie hält über Mobilfunk Kontakt zur Presse.

Was machen Sie im Hauptquartier von Jassier Arafat in Ramallah?

Sophia Deeg: Wir sind im Hauptquartier, andere in den Flüchtlingslagern oder in Krankenhäusern. Die Idee ist, überall dort Präsenz zu zeigen, wo das israelische Militär vorrückt. Das ist notwendig, weil ganz massive Übergriffe auf die Zivilbevölkerung stattfinden.

Zum Beispiel?

Sophia Deeg: Es wurden Fälle dokumentiert, bei denen israelische Soldaten in Krankenhäuser eingedrungen sind, um Verwundete zu verschleppen. So etwas ist erst am Sonntag, kurz bevor wir hierher kamen, geschehen. Am Montag sind Leute von uns in Flüchtlingslager gegangen, um sich vorrückenden Panzern in den Weg zu stellen. In der Regel konnte man bislang immer mit den Befehlshabenden reden. Dieses Mal haben die Panzerbesatzungen das Feuer eröffnet. Nicht direkt auf die Friedensdemonstranten, aber auf den Boden vor ihnen. Durch die Wucht der Einschläge und Splitter sind einige der Leute verletzt worden.

Eine Boulevardzeitung in Deutschland schreibt, Sie und Ihre Tochter hätten sich Arafat als "menschliche Schutzschilder" angeboten. Wie kommentieren Sie das?

Sophia Deeg: Das ist völliger Unsinn. Ich sehe mich überhaupt nicht als Anhänger von Arafats Politik. Ganz im Gegenteil halte ich ihn mitverantwortlich für die gravierende Situation.

Aber was hat Arafat mit der Militärpolitik Israels zu tun?

Sophia Deeg: Die Situation ist derart festgefahren, weil Arafat alle demokratischen Strukturen in Palästina behindert hat. Das ist ein Hauptgrund für die heutige Schwäche der palästinensischen Position.

Und wieso sind Sie dann im Hauptquartier?

Sophia Deeg: Wir waren vor einigen Tagen in der Westbank unterwegs und haben Krankenhäuser besucht. Erst dabei haben wir uns entschieden, in das Hauptquartier zu fahren. Das war eine kollektive Entscheidung, der eine intensive Diskussion vorausgegangen ist. Ich gebe zu, mit der Entscheidung nicht zufrieden zu sein. Die Gruppe war aber der Auffassung, dass man das Hauptquartier als Symbol der palästinensischen Autonomie schützen muss. Mit unserer Präsenz wird dem, was hier geschieht größere Aufmerksamkeit zuteil.

Und was geschieht?

Sophia Deeg: Die Lage in Gebäude ist katastrophal. Es gibt kaum Strom oder Wasser, die Leute fürchten ständig den Angriff der Armee. Noch stehen drei Etagen zur Verfügung, Arafat aber hält sich im Bunker auf. Der Gesundheitszustand von Arafat selber ist schlecht, aber auch alle anderen stehen unter einem enormen psychischen Druck.

Yassir Arafat hat noch am Wochenende erklärt, er sei bereit, als Märtyrer zu sterben. Was bedeutet das für Sie?

Sophia Deeg: Das hat er tatsächlich gesagt, ich habe das auch gehört. So einem "verantwortungsvollen" Quatsch kann ich nur mit Unverständnis begegnen. Ich bin dazu jedenfalls nicht bereit.

Die israelischen Behörden haben alle Ausländer aufgefordert, die Region zu verlassen. Werden Sie dieser Aufforderung nachkommen?

Sophia Deeg: Ja, aber ich möchte aber nicht abgeschoben oder verhaftet werden. Ich werde das Land aus freien Stücken verlassen, weil ich nichts Illegales getan habe.

Welche Konsequenzen befürchten Sie persönlich?

Sophia Deeg: Darüber sind wir uns nicht klar. Zwar möchten wir aus dem Gebäude heraus, es gibt aber keine Garantie, nicht angeschossen zu werden. Deswegen besprechen wir jeden Schritt mit der Gruppe.

Schüsse aus Panzern, Festnahmen von Ausländern und die Verhängung des Ausnahmezustandes. Kann man von einer neuen Qualität des Konfliktes sprechen?

Sophia Deeg: Ich habe so etwas in der Tat noch nicht erlebt. Vor einer Woche erst wurde hier ein italienischer Journalist erschossen. Bislang hatte ich die israelische Armee gegenüber Ausländern oder der Presse überhaupt nicht als gewalttätig erlebt. Skrupel oder Tabus scheinen keine Rolle mehr zu spielen. Auf der anderen Seite muss man auch sehen, dass es in der israelischen Armee Widerstand gibt. Das lässt uns hoffen.