Zum Bündnis gegen Gewalt

Politische Reaktionen auf das "Steinhäuser-Syndrom"

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"Das hier bin ich: Alex und meine drei Droogs: Pete, Georgie und Dim. Wir hockten in der Korova Milchbar und wir überlegten uns, was wir mit diesem Tag anfangen sollten. In der Korova Milchbar konnte man Milch Plus kriegen. Milch mit Velocet. Das heizt einen an und ist genau das richtige, wenn man Bock auf ein paar Ultrabrutale hat."

Soweit die Freizeitvorstellungen des Schulschwänzers Alex, dem fehl geleiteten Gewaltorgiasten und Liebhaber klassischer Musik, in Stanleys Kubricks "Uhrwerk Orange". Im Film wird der Tunichtgut zunächst staatlich umerzogen, um schließlich doch wieder in seinen gefährlichen Naturzustand zurückversetzt zu werden, weil alles andere die gesellschaftliche Überlebensfähigkeit nimmt. Sollte Alex ein Opfer falscher Erziehung gewesen sein? Wurde ihm der Respekt vor der Obrigkeit und seinen Mitmenschen nicht rechtzeitig beigebogen?

Jörg Schönbohm, CDU-Innenminister von Brandenburg, will nun öffentlich über die Folgen antiautoritärer Erziehung nachdenken. Schönbohm weiß mehr als wir. Jenseits der paar Kinderläden der 70er Jahre, in denen zumeist nur gewaltfrei Farbe verschmiert wurde, dürften die fatalen Folgen antiautoritärer Erziehung eine pure Fiktion des Ministers sein. Gegenüber der "repressionsfreien Erziehung", vor der dem Politiker graut, soll nun Leistung wieder mehr betont werden. Das sehen die Liberalen ähnlich, wenn sie die Gesellschaft auf Eliten hin definieren, die zu ihrer fröhlichen Selbstverwirklichung komplementär eben auch gesellschaftliche Verlierer benötigen.

Hat Robert Steinhäuser daran gelitten, dass seine Leistung nicht gefordert worden wäre? Wohl kaum. Selbst das von ihm veranstaltete Massaker erscheint wie eine perverse Einlösung des Leistungsprinzips. Es setzt erhebliche Energie voraus, mit dem Frust im Bauch über längere Zeit hinweg an der Schusswaffe zu trainieren und alle logistischen Vorbereitungen zu treffen, ein solches Fanal zu veranstalten.

Stoiber will jetzt mit Schröder ein parteiübergreifendes Bündnis gegen die Gewalt begründen. Das heißt in der Lesart des bayerischen Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten zunächst, das Erwerbsalter für großkalibrige Waffen auf 21 Jahre heraufzusetzen und den Erwerb von Pumpguns für Sportschützen restriktiver zu gestalten. Da auch die über 21-Jährigen ausnahmslos großkalibrige Waffen nicht benötigen, scheinen die Antigewalt-Bündler auch diesmal wieder nur so weit aufgerüttelt worden zu sein, wie es den üblichen Kompromissen politischer Opportunität entspricht. Um sich hier nicht den wahlkampfsensiblen Vorwurf einzuhandeln, in Aktionismus zu verfallen, herrscht Einigkeit der politischen Widersacher, eine gesellschaftliche Debatte über Gewalt zu führen. Das klingt gewichtig und sagt gar nichts. Wer wie der thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) als einer von vielen dann gleichzeitig feststellt, was geschehen sei, sei unfassbar, motiviert kaum den Glauben, die Gesellschaft sei an ihrer Selbstaufklärung wirklich interessiert. Der Kanzler will gar die Umstände der schrecklichen Tat in kurzer Zeit klären, als ob eine weitere Einzelfallbetrachtung des "Steinhäuser-Syndroms" über die sachverständigen Erkenntnislawinen von eilends herbeigerufenen Medienpsychologen hinaus noch viel neue Resultate produzieren würde.

Wir halten fest: Das bundesrepublikanische Schulsystem ist alles andere als repressionsfrei

Wer versagt, der fliegt. Wie Steinhäuser und die namenlosen, eben nicht in Schlagzeilen, sondern in Statistiken erfassten Schulversager, die längst nicht von Arbeitsmarkt, Familie und Sozialstaat gnädig aufgenommen werden. Frustrierte, die mit der schizophrenen Mischung aus Schulautorität und weitgehendem Desinteresse an ihrem weiteren Lebensschicksal nicht fertig werden, sind Dropouts, die mit teilweise nachvollziehbaren Gründen nicht mehr daran glauben, dieses schwarze Loch zu Lebzeiten noch verlassen zu können.

Als Steinhäuser zur Vergeltung rüstete, besaß er aufgrund der harten Schulgesetzgebung Thüringens nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Das macht wenig Lust auf Zukunft. Auf diesem schlechten Humus gedeihen dann - bei korrespondierenden Persönlichkeitsbildern - elementare Vergeltungspragmatiker, die sich einen Teufel um die Frage scheren, ob ihre Tat an gesellschaftlichen Zuständen etwas ändert oder nur im eigenen Handeln das ratifiziert wird, was ihnen mit einigen Gründen unerträglich erscheint. Steinhäuser, bei aller Verwerflichkeit seines Tuns, war offensichtlich selbst als Amokläufer - anders etwa als Klebold und Harris von der Columbine High School - mit klarer Zielvorgabe in das Gymnasium gestürmt. Während des Abiturs, zu dem er nicht zugelassen war, tötete er Lehrer, die ihm als Vertreter des Systems erschienen, das ihn nicht wollte. Eine fast alttestamentarische Logik, auch wenn die Sinnlosigkeit nur noch vom Grauen überboten wird.

Die propagierte Friedlichkeit reibt sich an den Paradoxien einer zunehmend sozialdarwinistischen Leistungsgesellschaft

Nun propagieren verängstigte Politiker, Pädagogen und andere Gutmenschen auch den herrschaftsfreien Diskurs als Gesprächsideal an Schulen, als ob dessen Abwesenheit nicht gerade durch den Umstand bedingt würde, dass die Sozialisationsagentur "Schule" allenfalls nur noch ein fragiles Menschenbild zu vermitteln hat. Pädagogische Rezepte, wie die jetzt anempfohlene Peer-Mediation mit der einfühlsamen Betreuung der wilder werdenden Schafe, sind sicher kein pastorales Angebot, das a priori ausgeschlagen werden sollte.

Aber solche Mittel reiben sich mächtig an den Paradoxien einer Leistungs- und Arbeitsgesellschaft, die mindestens kräftige Ellbogen voraussetzt, um den Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Sicher geschieht das nur ausnahmsweise und in aller Hilflosigkeit mit Brachialgewalt, regelmäßig eben mit den gesellschaftlich standardisierten Durchsetzungsstrategien, etwa mit dem täglichen Büro-Mobbing, den mehr oder minder fein gesponnenen Intrigen und anderen Softformen einer aggressiven Gesellschaft.

Erziehung als Gewaltprävention funktioniert dauerhaft nur, wenn genügend Optionen bestehen, am gesellschaftlichen Kuchen auch dann beteiligt zu werden, wenn die eigenen Leistungsmöglichkeiten begrenzt sind. Das liberale Pathos gegenüber der Start-up-Mentalität, dem freien Unternehmertum und den neuen Eliten ist nichts anderes als das Lob der schneidigen Konkurrenz, die die Loser im Wettbewerb das existenzielle Fürchten lehren will. Dass dann das Feedback auch existenziell ausfallen kann, ist psychologisches Allerweltswissen. Und so könnten die Motivationen - mit und ohne mediale Gewaltdarstellungen - wachsen, in diesem System Amok zu laufen, wenn die sozialen Auffangnetze weiter wegbrechen und der schleichende Sozialdarwinismus nur im Wort, aber nicht in der Tat bestritten wird.

Die jetzt gegenüber dem Bundeskanzler erklärte großherzige Bereitschaft der Fernsehmacher, demnächst Aufklärungsspots zu senden, die Gewalt als Konfliktlösungsmittel ächten, dürfte Tätertypen, die an der Gesellschaft längst irre geworden sind, nicht mehr erreichen.