Entscheidende Spam-Abstimmung im Europäischen Parlament steht bevor

"Ausschuss für die Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten" fordert Europäisches Parlament auf, dem "Spam" die Schleusen zu öffnen

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Große Mengen zusätzlicher unerwünschter Werbesendungen könnten bald in die elektronischen Postfächer schwappen, falls Pläne eine Mehrheit finden sollten, derartiges Eindringen in Ihre Privatsphäre europaweit zuzulassen. Am 29.05.2002 steht die Entscheidung darüber und über die Speicherung von Verbindungsdaten an.

Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation soll künftig unverlangte Werbesendungen in elektronischer Post jeglicher Art verbieten. Dieses "Opt-In"-Modell stellt einen Sieg der Vernunft im Einklang mit den unabweisbaren Erkenntnissen der ARETE-Studie dar, welcher endlich den seit langem von Verbrauchern und Wirtschaft gleichermaßen geforderten Schutz verwirklicht.

Nun aber droht das Europäische Parlament über sein "Vetorecht" im Mitentscheidungsverfahren nach Artikel 251 des EG-Vertrags durch Änderungsanträge in zweiter Lesung das Inkrafttreten der Richtlinie in der Fassung des Gemeinsamen Standpunktes zu verhindern und diesen in sein Gegenteil zu verkehren.

Fast ein Jahrzehnt wird das Internet nun schon von "Spam" geplagt, einer Flut unerwünschter Massensendungen, die in immer stärkerem Maße die Benutzbarkeit von Email bedrohen. Neben zahlreichen Vereinigungen wie CAUCE oder JunkBusters sowie Petitionen wie Stimm gegen Spam fordert längst auch die früher noch Lobbyarbeit gegen diesen Ansatz betreibende Werbewirtschaft, wie etwa der dmmv und die DMA, den einzig praxistauglichen Ansatz des bestätigten Opt-In verbindlich festzuschreiben.

Demgegenüber sucht der Ausschuss für die Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten alle Nachrichten außer SMS vom "Opt-In"-Schutz auszuschließen - ein Ansatz, der noch nicht einmal technologieneutral wäre - und damit zur Bewältigung des beginnenden Zusammenwachsens verschiedener digitaler Medien ("digital convergence") völlig ungeeignet ist. Zudem würde hierdurch die von der Wirtschaft gewünschte europäische Rechtsvereinheitlichung verhindert, obwohl diese gerade dann unabdingbar ist, wenn man wie der Ausschuss ein "Opt-Out"-Modell in Erwägung zieht.

Sollte diese Empfehlung (vgl. Seite 17) eine Mehrheit finden, so dürfte der 29.05.2002 wohl als "Anfang vom Ende der Email" in die Geschichte eingehen. Die European Consumers' Organisation sah sich denn auch zu Zweifeln veranlasst, ob dieser Ausschuss seiner Bezeichnung gerecht werde.

Lizenz zum Spammen

Das von der Kommission bereits als "völlig unlogisch" (Liikanen) bezeichnete "Opt-Out"-Verfahren basiert auf der Vorstellung, dass alle Empfänger für zahllose "unfrankierte Sendungen", die sie weder erhalten wollen noch zurückweisen können, stets "das Porto nachzahlen" und hierbei (ohne dass sich jemand vorstellen könnte, wie dies überhaupt funktionieren soll) "lernen müssten, sich in der Flut des Spams über Wasser zu halten". Es ist jener Ansatz des "Sendens bis die Empfänger laut aufschreien", welchen die Direct Marketing Association, bevor sie endlich ihre bisherige Position aufgab und sich der vernünftigen Auffassung der großen Mehrheit anschloss, früher als "one bite at the apple rule" ("Jeder darf einmal zubeißen") bezeichnete. Weniger beschönigend lässt sich dies mit den Worten beschreiben: "Sie alle bekommen Spam (von jedem), bis Sie (jeden Einzelnen) ausdrücklich darum bitten (und dies immer wieder, so lange es Spammer gibt), Sie damit endlich in Ruhe zu lassen."

Selbst wo Spam heute z.B. aufgrund von Wettbewerbsrecht oder Datenschutzgesetzen (vgl. etwa die CNIL-Studie) als unzulässig anzusehen sein mag, würde die Verabschiedung eines "Opt-Out"-Systems nach Wahl der Mitgliedsstaaten nur zu leicht als "Lizenz zum Spammen" verstanden.

Im Falle einer Entscheidung für das "Opt-Out"-Modell (oder jeglichen anderen Ansatz, der Spammern auch nur das kleinste Schlupfloch bietet) steht mit mathematischer Präzision jedem im Netz eine düstere Zukunft bevor: Schon wenn nur die lächerlich geringe Zahl von 1% der europäischen Firmen unverlangte Werbesendungen einsetzte, würde dies bedeuten, dass bei jeder einzelnen Email-Adresse etwa alle 30 Sekunden eine solche eingehen würde (zudem noch ganz ohne Berücksichtigung der ebenso beunruhigenden Zahlen aus den USA), diese dort gelöscht (was in der Summe allein schon mehr als den gesamten Arbeitstag in Anspruch nehmen würde) und gegenüber ihrem jeweiligen Absender die Abbestellung weiterer Zusendungen erklärt werden müsste - eine verheerende Entwicklung, selbst wenn man die Missbrauchsmöglichkeiten, welche ein "Opt-Out"-Modell zwangsläufig mit sich bringt, noch außer Betracht lässt:

"Careful tests have been done with sending remove requests for 'virgin' email accounts (that have never been used anywhere else). In over 80% of the cases, this resulted in a deluge of unsolicited email, although usually from other sources than the one the remove was sent to." (Hambridge/Lunde, RFC2635).

Dämme gegen die Flut?

Bereits vor der drohenden Entscheidung des Europäischen Parlaments steigt der Spampegel weltweit immer höher und hat bereits ein so unerträgliches Niveau erreicht, dass verzweifelte Nutzer berichten, als "letzte Rettung" Politikern ihre unerwünschte Email weiterzuleiten, um ihnen die allgegenwärtigen Probleme der Netzbürger zu veranschaulichen.

Sollte in der zweiten Lesung jedoch der Ausschuss, dessen Berichterstatter selbst der Beteiligung am Versand von Spam bezichtigt wurde, für seinen Vorschlag Unterstützung finden, den Spammern zunächst freie Hand zu lassen, so werden die Auswirkungen eines sich vervielfachenden Aufkommens dieser Sendungen weit über Europa hinaus spürbar sein: Die Email-Adressen zahlreicher Europäer befinden sich auf Systemen ausländischer Provider, vornehmlich in den USA, und da sie sich nicht nach geografischer Herkunft unterscheiden lassen, wird die ganze Welt einem erhöhten Zustrom unerwünschter Emails aus Europa ausgesetzt sein und diesen bewältigen müssen. Erfahrungsgemäß wird das Netz dies auf seine eigene, dann für europäische Unternehmen fatale Weise bewerkstelligen:

"The saddest part of the spam problem is this: The 'technical solutions' you name above already cause entire nations to be blackholed in thousands of servers around the world. Many postmasters have received only spam from .cn and .kr, so they dump all mail from those TLDs in the trash." (Tom Geller).

Falls die Mitglieder des Europäischen Parlaments, deren jeweilige Einstellung zu Spam bei EuroCAUCE abrufbar ist, die "Opt-In"-Richtlinie scheitern lassen und eine Zersplitterung auf nationale Regelungen einschließlich "Opt-Out"-Modellen durchsetzen, so könnte die letzte Gelegenheit vertan sein, Spam endlich aus den Datennetzen zu verbannen, bevor Email als Kommunikationsmedium unbrauchbar wird.