Death's a game

Wer mit den ästhetischen Konventionen einer bestimmten Schule von Gewalt-Ikonographie nicht vertraut ist, betrachtet entsprechende Werke mit quasi "pornographischem" Blick - und unterstellt diesen auch dem Stammpublikum

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Wer hielte es für sinnvoll, Geschichte, Sinn und Zweck des Küchenmessers anhand mit Küchenmessern begangener Morde erkunden zu wollen? Wer nähme eine Diskussion von Religion ernst, die sich ausschließlich auf die Beobachtung angeblich vom Teufel Besessener stützte? Und doch hängen sich die Debatten über gewisse Videospiele stets an Fällen auf, in denen die Beschäftigung mit medialisierter Gewalt eine Facette war einer insgesamt schwer gestörten Psyche.

Was in schon fast ritualisierter Form auf der einen wie der anderen Seite des rhetorischen Schützengrabens zu den immer selben, vorhersehbaren und gleichermaßen vereinfachenden Argumenten und Schlüssen führt. Zumal die meisten Kritiker bestenfalls minimale Erfahrung mit den Spielen haben, die sie verdammen, und die Gamer ihre Leidenschaft nur selten sonderlich analytisch betrachten.

E-Games sind aber, wie jedes andere Massenmedium auch, zunächst einmal Träger kollektiver Fantasien. Welche Rolle sie auch immer spielen mögen in einem psychopathologischen Kontext (was gewiss erforschenswert ist) - unbestreitbare Tatsache ist doch, dass sie im weitaus überwiegenden Normalfall ganz offensichtlich eine Funktion haben müssen, die nichts mit der Ausübung realer Gewaltverbrechen zu tun hat.

Freilich kann man die Diskussion auf einen rein pragmatischen Aspekt beschränken: Ist mediale Gewalt in der Pathogenese von (Massen)mördern ein Faktor, der ausschlaggebend genug ist, dass ein Verbot von Gewaltdarstellungen für die Gemeinschaft mehr Vorteile (Zuwachs an "Innerer Sicherheit") als Nachteile (Einschränkungen der Ausdrucksmöglichkeiten und mündigen Mediennutzung) mit sich bringt? Und dann natürlich: Wie soll so ein Verbot aussehen? Wie durchgesetzt werden? Will man aber wirklich grundsätzlich ins Gespräch kommen, das Wieso, Weshalb, Warum ästhetisierter Gewalt in unserer Kultur zu verstehen beginnen, dann muss der Blick eben auf all jene KonsumentInnen gelenkt werden, denen sie etwas anderes bedeutet als Brennstoff für kranke Rachefantasien. Dann muss man versuchen, den Kontext, die Traditionen, die Funktionsweise beispielsweise von "Gewaltspielen" als Kulturprodukt möglichst genau (und ohne Hysterie) zu erfassen. Nur so wird man die ganze Diskussion je auf eine vernünftige und produktive Grundlage stellen können.

Das beginnt erstmal damit, dass man sich klar wird darüber, wovon man überhaupt spricht. Super Mario, der Schildkröten platthüpft; ausgelöschte Römer-Kohorten bei CIVILIZATION; alles versengende Magieattacken in Final Fantasy; ins Jenseits geklickte Moorhühner: Alles Formen von interaktiver Bildschirm-Gewalt. Alles nicht, was üblicherweise gemeint ist, wenn von "Gewalt in Computerspielen" die Rede ist. Es sind eigentlich nur zwei sehr spezifische Dinge, die dieses Schlagwort meint und die immer wieder Bedenken und Entrüstung laut werden lassen und den Ruf nach Verboten: Die explizite Darstellung verletzter Körper und Gewaltausübung in subjektiver Perspektive. Das eine hat in unserer Kulturgeschichte noch jedes Medium, vom Theater über Malerei und Literatur bis zum Film, irgendwann für sich entdeckt und damit Publikum wie vehemente Kritiker gleichermaßen angezogen. Das andere scheint jenes Element zu sein, das Videospielen allein, erstmals und somit besonders bedrohlich eignet.

Entwicklung des Splatter-Films

Die deutliche Zurschaustellung der Verletzung und Zerstörung von Körpern hat in der abendländischen Kultur, wie gesagt, eine lange Geschichte - im Renaissance- und Barocktheater wie im grand guignol des 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt unabschätzbar einflussreich in der katholischen Ikonographie. Als abbildendes (und zum Teil narratives) Medium schreiben Videospiele dabei jedoch dezidiert Kino-Traditionen fort: Der direkte Anknüpfungspunkt für entsprechend gewalthaltige e-Games ist der Splatter-Film, mit seinen beiden Stamm-Genres Horror und Action.

Still aus "Texas Chainsaw Massacre"

Es war eine der vielen Umwälzungen, die die zweite Hälfte der '60er Jahre mit sich brachten, dass das Sterben auf der Leinwand nicht mehr sauber und trocken geschah. Die Fernsehbilder der Kennedy-Ermordung und aus Vietnam, der Durst nach Revolution, nach notfalls explosiver Veränderung überall, in Hollywood dazu (und deswegen) der Niedergang des alten Studio-Systems und das Ende des restriktiven Production Codes: Aus all dem erwuchs eine Flut fiktiver Bildern, die, oft in Zeitlupe, Körper zeigten, bei denen fast feuerwerksgleich gewaltsam das Innere nach Außen drängte, Schock- und Schaueffekt zugleich. Der präzise, kontrollierte und keine sichtbaren Wunden hinterlassende Schuss aus dem Revolver der alten Westernhelden hatte ausgedient, es war das Zeitalter des Maschinengewehrs angebrochen.

In dieser ersten Phase, bei BONNIE & CLYDE und Peckinpah, bei Leone, Corbucci, Fukasaku, Romero und THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (der wesentlich unblutiger ist, als sein Ruf glauben läßt) hatten die Blutfontänen und Leichenberge stets etwas apokalyptisches und/oder libertäres; sollten Abbilder staatlicher Gewalt sein oder Träume vom kompletten Untergang, aus dessen Asche Neues erwachsen könnte.

Körperbilder

Es ist eine Tradition, die sich gehalten hat - zu der sich aber vor allem während der zweiten großen Welle des Splatter-Kinos, während der Reagan-Ära, eine andere gesellt hat, von der gern behauptet wird, es sei eine stets reaktionäre. Die prototypische Waffe dieser Richtung ist das Messer, ihr Metier eher die Zerstückelung als die Explosion. In beiden Fällen aber geht es um Bilder von Körpern, die auf drastische Weise zum Nexus werden für politische, gesellschaftliche, psychische Kräfte; die als Verletzung der Oberfläche zeigen, wo unterschwellige Strömungen aufeinandertreffen. Es ist kein Wunder, dass virtuelle Darstellungen der Gewalteinwirkung auf Körper vor allem für Teenager von besonderem Reiz sind: Sie erleben jenen Lebensabschnitt, in der sich das eigene Körperbild entscheidend wandelt und prägt, die eigene Körpererfahrung durchaus beunruhigende Züge annehmen kann, in der der eigene Leib neu definiert, sein Funktionieren neu erlernt wird und in der auch das Erfahren von Vergänglichkeit eine neue, andere Tiefe bekommt.

Dass diese Bilder von Verletzung und Tod oft auf den ersten Blick so über alle Maßen drastisch und extrem wirken, hat auch damit zu tun, dass die Wucht, mit der das Verdrängte sich stets irgendwo seine Rückkehr schafft, proportional ist zur Macht der Verdrängung. Unserer Gesellschaft ist aber eine, die Erfahrungen von Verletzung, Vergänglichkeit, Tod vom Einzelnen so fern hält wie keine zuvor, die diese so weitgehend wie möglich hinter den Kulissen und saubergeschrubbt, desinfiziert wünscht. Wir werden flächenbombardiert mit dem Ideal des ewigjungen, ewiggesunden, ewigstraffen Konsumentenkörpers, dem Traum vom vollkaskoversicherten Leben, der Utopie von der turbopluralistischen, sozialpädagogisierten, konfliktbefreiten Weltwirtschaftszone. Alle Anstrengung scheint nicht mehr dem zu gelten, mit Vergänglich- und Verletzlichkeit umgehen zu lernen, sondern sie irgendwann endlich abzuschaffen. Solange wir aber noch Menschen sind und mit ihnen zu leben haben, werden sie sich auch als kulturelle Präsenz entladen. Einzig totalitären Systemen gelingt es erfahrungsgemäß, diesem return of the repressed einen Riegel vorzuschieben - und es sollte zu denken geben, dass gerade die unmenschlichsten Diktaturen stets die "saubersten" Medienlandschaften vorweisen können.

Splatter als Bonus-Element

Wenn oben behauptet wurde, Computerspiele würden die Kino-Tradition des Splatter fortschreiben, so ist das nicht ganz richtig: Von ihr haben sie eigentlich die Bilder schlicht aus zweiter Hand. Es ist weder ein sonderlich lebendiger, noch ein sonderlich komplexer Umgang, den sie mit ihnen treiben. Es sind Bilder, die prägenden Einfluss hatten auf Subkulturen, die mit jenen von Spieleentwicklern und Gamern eine sehr große Schnittmenge bilden. Wie Abziehbilder wurden sie deshalb aus dem einen Medium gelöst und ins neue transportiert, ohne sie für den veränderten Kontext groß neu zu überdenken. Es sind dadurch blassere, flachere, in jeder Hinsicht "harmlosere" Bilder geworden.

Screenshot "Resident Evil"

Im Film (oder auch in Horror- und Thriller-Literatur) sind die Momente exzessiver Gewalt tief mit der gesamten Struktur verwoben: Sie sind Höhepunkte, sind Teil des Dramas und des Arguments; das Wie der Darstellung ist nicht trennbar vom Was; man kann diese Szenen nicht kappen, ohne unzählige durch das gesamte Werk laufende Fäden mutwillig mit zu zertrennen, den Sin und Zweck des Ganzen zu entstellen.

Im Videospiel ist der Splatter in den allermeisten Fällen hingegen nur eine Art Bonus-Element, Geschmacksverstärker, Sahnehäubchen. Sei es MORTAL KOMBAT, sei es HALF-LIFE: Das Spritzen von Blut, extravagante Todesanimationen sind nur Elemente, um einen Treffer, einen Sieg eindrucksvoller zu gestalten. Sie berühren höchstens am Rande das fundamentale Spieleerlebnis. (Das bei den meisten MORTAL KOMBAT-Teilen freilich so dürftig ist, dass es ohne die "Belohnung" durch die Cartoon-Gewalt nicht groß reizen würde.)

Das rührt schlicht schon daher, dass in solchen Spielen quasi zuviel "gestorben" wird: Das Repertoire an Splattereffekten ist zu schnell erschöpft, der einzelne "Tod" hat zu wenig Höhepunktcharakter, das Ganze ist viel zu repetitiv, als dass es sich zum profunden Erlebnis gestalten ließe. Die berüchtigte RESIDENT EVIL-Reihe beispielsweise beruft sich konkret auf George A. Romeros LIVING DEAD-Trilogie. Aber nicht nur ist von deren starkem politischen Subtext nur ein bisschen Kasperltheater-Klischee von den finstren Verschwörungen des militärisch-industriellen Komplexes übriggeblieben. Ihren wahren Schrecken beziehen diese Spiele nicht aus dem Blut- und Gedärmefaktor sondern aus einer Atmosphäre des Unheimlichen (Resultat des Designs der Räume und der Tonspur) und (teils brillant inszenierten) Geisterbahnüberraschungen, in unheilschwangere Stille hereinplatzenden Schocks. Sich während der nimmer endenden Suche nach Schlüsseln und verborgenen Schlatern der Untoten und übrigen Monster zu erwehren, wird dank der hakeligen Steuerung und ständigen Munitionsknappheit sowieso sehr schnell nur zur eher ermüdenden Pflichtübung.

Das Organische entzieht sich noch immer der Rechenleistung

Als Erklärung für die Faszination der Splatter-Effekte greift im Videospiel deshalb wohl am ehesten ein simplerer Aspekt: Es gibt in unserer Kultur schlicht auch eine tiefsitzende, harmlos infantile (oder höchstens noch pubertäre) Lust an Körperflüssigkeiten und ihrem hemmungslosen Herumspritzen - es sei dahingestellt, ob sie zutiefst Freudianisch ist oder nur Freude am Tabubruch. Dabei ist auch dieser Aspekt schwächer als bei Leinwandbildern oder jenen, die Bücher im Kopf entstehen lassen: Das Organische entzieht sich noch immer der Rechenleistung auch aktuellster Grafikkarten - gerade menschliche Körper erscheinen auf dem Computerbildschirm noch immer zu glatt oder zu klobig. Es sind merklich Körper ohne Innenleben, hohl und sichtlich von außen animiert, und ihr Blut ist nichts als Textur oder aufgesetzter Zeichentrick. Da fließt kein ganz besonderer Saft, da sprudeln nur Pixel durch vorgegebene Routinen.

Spiegelkabinette der Selbstreflexivität

Auch wenn Spiele immer wieder versuchen, sich filmische Mittel anzueignen (die MATRIX-inspirierte "Bullet-Time" in MAX PAYNE, z.B.), sind sie - außer in vorgerenderten Zwischensequenzen - besonders bei blutigen Kugelhageln doch Lichtjahre entfernt von der kinetischen Poesie der Bleiballette eines Sam Peckinpah oder John Woo.

Screenshot "Silent Scope"

Vor allem aber hat die Gewalt in Videospielen nichts Sadistisches. Es fehlt ihr das Weiden am Leiden: Wo überhaupt so etwas wie Schmerz präsent ist, da ist dies in kurzen, überzeichneten Todesposen und Letzte-Worte-Samples, die weniger echt und schmerzvoll wirken als die Pointen eines Slapstick-Films. Gerade in Ego-Shootern ist der Tod so ubiquitär, fehlt der einzelnen Sterbe-Darstellung so jedes Gewicht, dass Mechanismen der Erotisierung überhaupt keine Gelegenheit hätten zu greifen. Es gibt kaum suspense in diesen Spielen, kein allmähliches Aufbauen von lustvoller Spannung und deren höhepunktartige Entladung - zu schnell und fließend geht alles, zusehr Routine ist der einzelne fiktive Kill. Man vergleiche das mit den elaboraten set-pieces, die stets den großen Gewalt-Momenten im Film vorausgehen - komplexe, raffinierte Arrangements der Angst-Lust. (Die großen Sadisten des Kinos, Regisseure wie Hitchcock, Fritz Lang, Dario Argento, haben es dabei stets verstanden, die sadomasochistische Lust am Schauen des Grauens in Spiegelkabinette der Selbstreflexivität zu verpacken.)

Einzig das Zielfernrohr in manchen First-Person-Shootern bringt ein, wenn nicht unbedingt sadistisches, so zumindest voyeuristisches Element in die Spiele: Da geht es um die unterschwellig erotisierte Macht des Sehens ohne Gesehenwerdens - und der Gewaltausübung als Verlängerung des Blicks. Das einzige mir bekannte Spiel, das diesen Aspekt jedoch wirklich konsequent auszureizen versucht, ist Segas SILENT SCOPE - in sämtlichen anderen Shootern bleibt so etwas höchstens Episode. (Und kein einziger Shooter ist annähernd so lustvoll voyeuristisch wie die an der Oberfläche so unschuldig scheinende, cartoonhafte Moskito-Simulation MR. MOSKEETO.)

Töten tut nicht weh?

Nun sind es ja gerade die Verfechter von Videospiel-Verboten, die gerne behaupten: Weil Gewalt in Games meist so kurz, schmerz- und folgenlos verläuft, verrohen sie die Gamer. Also: Lehrmeister Computerspiel, Unterrichtsziel: Töten tut nicht weh? Verzerrte Darstellung der Realität, die dann auf die Welt zurückprojiziert wird? Nein, genau andersherum! Das alles ist zu sehen als deutliche Marker der Fiktionalität der Spielewelt, gerade weil die gewöhnlichen SpielerInnen eben keine blutrünstigen Psychopathen mit Lust am Massenmord sind und sie keinen Spaß daran hätten, in einem Szenario die Rolle des Killers zu übernehmen, in dem sie authentisch wirkendes Leid, in dem sie nachfühlbaren Angst und Schrecken über wirklich profund menschlich anmutende Charaktere brächten. Die Spielwelten halten, ob bewusst oder unbewusst, sehr genau die Ballance zwischen mimetischen Elementen, die den Einstieg möglichst tief und das Erleben möglichst stark machen, und solchen, die das Ganze erkennbar im Bereich der Fiktion verankern.

Es gibt so etwas wie Lesekompetenz auch für Gewaltdarstellungen. Diejenigen, die mit den ästhetischen Konventionen einer bestimmten Schule von Gewalt-Ikonographie nicht vertraut sind, betrachten entsprechende Werke mit quasi "pornographischem" Blick - und unterstellen diesen auch dem Stammpublikum: Der dargestellte Gewaltakt wirkt als starkes Stimulanz wahrgenommen, das die Barriere zwischen Fiktion und Realität zu transzendieren scheint; das unmittelbare, körperliche Erregung hervorruft; das sämtliche Schutzwälle der distanzierten Betrachtung durchbricht. Diese Wirkung schwächt sich mit wiederholtem Ansehen einer speziellen Art von Gewalt-Ästhetik ab: Man lernt, mit der entsprechenden Darstellungsform umzugehen, ihren Inhalt nicht mehr als einzigen und unkalkulierbar starken Reiz zu empfinden. Es ergibt sich eine Normalisierung des Blicks, der gezeigte Gewaltakt wird zum Element in einem größeren, komplexeren Kontext.

Das ist jedoch etwas anderes als ein "Gewöhnungseffekt" im Sinne einer Desensibilisierung - es betrifft nicht automatisch die Wahrnehmung von Gewalt an sich (und erst recht nicht realer Gewalt - ich kenne persönlich eingefleischte Splatter-Spezialisten, die beim Anblick weniger Tropfen echten Blutes buchstäblich in Ohnmacht fallen). Es ist gerade umgekehrt eine Sensibilisierung für die Regeln, Codes und Konventionen einer Darstellungsweise. Und vor allem ist es eine Sensibilisierung für die Fiktionalität der Darstellung. Oder zumindest ihre Medialität: Wir alle haben uns an den Anblick sterbender Menschen oder verhungernder Kinder in den Abendnachrichten zumindest soweit gewöhnt, dass wir diese Bilder - und auch sie gehorchen unausgesprochen genauen Abbildungsregeln - mit der überlebensnotwendigen Distanz sehen können. Das heißt nicht, das irgendjemanden von uns der reale Anblick eines sterbenden Menschen, eines verhungernden Kindes auch nur annähernd kalt lassen würde.

Die simple Wahrheit ist: Zum bei weitem überwiegenden Teil sind wir keine Psychopathen, Sadisten, Gewalttäter. Jedes Massenmedium, gleich wie gewalttätig von seinem Inhalt, ist voll der Sicherungsmechanismen, der Tabus, der Konventionen und stillschweigenden Absprachen, die es für die angesprochene, entsprechend "eingelesene" Gruppe überhaupt goutierbar machen.

Die Ego-Perspektive

Was ist aber nun mit der verführerischen Ego-Perspektive? Nun, es ist zunächst nichts Neues, dass ein Medium versucht, einen subjektiven Blick auf eine fiktionale Welt zu geben. Nicht erst seit ULYSSES hat sich die Literatur dafür diverse Techniken erarbeitet - und die Verbindung von subjektiver Kameraführung im Film (insbesondere steadycam-Fahrten) zur Ego-Perspektive im Spiel scheint offensichtlich. Der entscheidende Unterschied: Die Ich-Sicht nicht nur in der Literatur sondern auch im Film ist stets psychologisiert. Wir befinden uns dort quasi im Kopf eines Charakters. Im Roman, wo man tatsächlich einer Gedankenfolge entlang wandern kann und auch der Stil mehr oder weniger stark die Individualität und Beschaffenheit der entsprechenden Psyche markiert, ist dies evident. Aber auch die "neutrale" Kamera im Erzählkino transportiert da, wo sie den Blick einer der Figuren annimmt, ein Bild des jeweiligen Geistes mit - der bei länger anhaltenden Subjektiven mit ziemlicher Sicherheit ein gestörter ist: Spätestens HALLOWEEN hat fürs Kino den Ego-Blick als Blick des Killers etabliert. Verzerrende Linsen, Unbehagen erzeugende Tonspur und schlicht die obsessive Weise des Schauens, die Auswahl des Betrachteten, das Verweilen auf gewissen Anblicken lassen das Publikum wissen, durch wessen Augen sie da zu sehen scheinen.

Die Ego-Perspektive in Videospielen ist anders: Selbst in Spielen wie DUKE NUKEM, wo sie nominell an einen dezidierten Charakter gebunden ist, ist sie im eigentlichen Spielablauf praktisch völlig frei von jeglicher Psychologisierung. Der Bildschirm wird zum transparenten Fenster zu einer fiktionalen Welt, ohne dass dazwischen die Wahrnehmung einer Figur aus dieser Welt stünde. Anders als LeserInnen und ZuschauerInnen finden sich Gamer nicht im Kopf eines Charakters wieder - es ist ihr eigenes Ich, mit dem sie die Spielwelt wahrnehmen dürfen.

Extrem begrenzte Wahlfreiheit

Das bringt eine größere Unmittelbarkeit im Erleben der fiktionalen Welt mit sich - keineswegs aber eine stärkere Empathie oder Identifikation. In linear narrativen Medien wie Buch oder Film folgt man dem Weg, den vorgeblich eine Figur gewählt hat aus den potentiell unbegrenzten Möglichkeiten, die die fiktionale Welt böte. Die nicht realisierten Möglichkeiten bleiben aber denkbar, wir setzen uns auseinander mit den Entscheidungen und Motivationen der Figur, heißen sie gut oder lehnen sie ab, beziehen aus dieser Reibung, aus Nachfühlen und Unverständnis, emotionale Spannung.

Theoretisch sollten uns Computerspiele dies auf noch direktere Art erlauben - in dem wir es nun wären, die aus all den Möglichkeiten unseren Pfad zu suchen haben. Und die technischen Fortschritte in Hinblick auf Grafik und Ton sorgen ja tatsächlich auf den ersten Blick für die Illusion einer großen Reichhaltigkeit und Tiefe der Spielewelten. Reduziert man aber auch modernste Spiele auf ihren eigentlichen Kern, ist hinter dieser Fassade die Wahlfreiheit stets extrem begrenzt - in klassischen "Gewaltspielen" allemal. Es ist nicht die Psychologie einer Figur, es sind die Spielewelten selbst, die uns da die Entscheidungen aufoktroyieren. Die Welten in so gut wie allen heutigen Videospielen sind keine wirklich moralischen Welten, sind höchstens rudimentär psychologische Welten - und zumeist kommen sie nicht einmal emotional über solch simple Empfindungen wie Anspannung, Erschrecken, Triumphgefühle hinaus (die sie freilich teilweise sehr stark hervorrufen können).

Screenshot "GTA III"

Die Welt eines First Person Shooters ist keine, die die Möglichkeit vorsieht, nicht zu schießen, mit den "Feinden" den Konflikt auszudiskutieren, den ganzen Waffenkram hinzuschmeißen und Bäcker zu werden. Selbst ein Spiel wie GTA III (diese Fortsetzung von "Räuber und Gendarme" mit hochtechnologisierten Mitteln), das sich viel einbildet auf all die Freiheiten, die es angeblich bietet und auf die "realistische" Stadt mit Eigenleben, in der es spielt, ist doch nur eine Ansammlung völlig linearer Pfade, zwischen denen man lediglich beliebig wechseln kann. (À propos GTA III: Das Gesagte gilt in allen wesentlichen Punkten auch für "3rd Person"-Spiele, bei denen der gesteuerte Avatar als Figur auf dem Bildschirm sichtbar ist.) Eigentlich bieten derzeit höchstens Massive Multiplayer Online-Spiele Welten, in denen das Handeln wirkliche moralische Freiheitsgrade bietet, in denen die Möglichkeit zum "Guten" und "Bösen" gegeben sind. Dies sind aber genau jene Spiele, in denen sich von selbst Communities herausbilden, die in eigener Regie Sanktionsmaßnahmen gegen antisoziales Verhalten beschließen und durchsetzen.

Spiel und Sport

Das alles ist kein Manko heutiger Videospiele - es gehört ganz tief zu dem, was ihren Reiz ausmacht. Da sind Computerspiele eben doch ganz Spiele und nicht interaktive Narration: Davon leben seit jeher fast alle Spiele (ob computerisiert oder nicht) - dass sie mit ihren Regeln einen Handlungsraum umschreiben, der gerade genug Komplexität, genug Aktionsmöglichkeiten bietet, um interessant zu sein - der aber gleichzeitig im Gegensatz zur realen Welt determiniert und überschaubar genug ist, um ein klares Gefühl von Kontrolle zu vermitteln. In Spielen (zumindest in gut designten) gibt es keine undefinierten Zustände, keine unkalkulierbaren Konsequenzen. Die Regeln schreiben Belohnung und Strafe genau vor, kennen keine Zweideutigkeiten - und sind allen Teilnehmern bekannt. Jede Wirkung hat ihre erkennbare Ursache und umgekehrt.

Das ist es auch, was es normalen Gamern erlaubt, im Spiel ohne ständiges schlechtes Gewissen zu "töten", obwohl sie im realen Leben einen völlig intakten Sinn für Ethik und Moral und keinerlei Mordpläne haben: Das Wissen, sich in einen fiktiven Raum zu begeben, in dem solch ethisch-moralische Fragen a priori ausgeschaltet sind, in dem es ein genau umschriebenes Set an Regeln und Möglichkeiten gibt, auf die man sich einläßt. Besonders die so sehr in Verruf geratenen Online-Shooter wie COUNTERSTRIKE gleichen da ganz entschieden in ihrer Struktur nichts so sehr wie einer Sportdisziplin.

Warum es dann aber ausgerechnet der Tod sein muss, der auf dem Bildschirm wieder und wieder durchgespielt wird? Auf einer ganz billigen und etwas perfiden Ebene ist das zunächst nichts weiter als die konsequente Weiterentwicklung eines der urältesten und weitverbreitetsten Spielprinzipien überhaupt (und vielleicht auch nur die Rückführung dieses Prinzips aus höheren Abstraktionsebenen): Das Eliminieren einer gegenerischen Spielfigur. Eine der simpelsten und effektivsten Methoden, den Fortschritt und Erfolg der eigenen Spielfigur zu markieren. Ein Kill bei QUAKE ist in gewisser Hinsicht nicht mehr als die technisch aufgebrezelte Version eines "Und Du bist raus!". Der binäre Sprung von der "1" des Lebens zur "0" des Todes hat eine für Spielezwecke berückende Einfachheit, Zählbarkeit, Logik. Ist für ein vergleichsweise einfach konstruiertes Regelwerk die naheliegendste Art, keine weiteren Fragen aufkommen zu lassen.

Die Fantasie vom Grenzübertritt

Dann hat es zugegebenermaßen einen nicht geringen Reiz, den spielerischen Sieg über einen Gegner auf eine Weise zu symbolisieren, die die dahintersteckenden Machtgefühle in nicht groß verklausulierte Bilder umsetzt: Fast alle Spiele unserer Kultur haben im Grunde ihres Herzens etwas mit Gewalt zu tun, es geht so gut wie immer um die Auseinandersetzung mit Gegnern, um ihr Bezwingen; darum, besser zu sein als andere, Sieger in einem Wettstreit. Spiel ist in unserer Kultur eine abstrahierte, geregelte Form von Kampf. Die ultimative Form des Triumphierens über andere ist potentiell, die Macht über ihr Leben zu haben. Da rühren entsprechende Videospiele durchaus an Atavistischem: Die Fantasie, die irgendwo tief in fast jedem unserer Spiele steckt, zerren sie schamlos ans Licht der Kathodenstrahlröhre.

Spiele waren schon immer so etwas wie virtuelle Welten, waren fiktive Räume, in denen Gesellschaften auf mehr oder minder symbolische Weise Dinge ausgetragen haben, die sie in der realen Welt beschäftigten. Es waren, zugegeben, auch Räume, in denen antrainiert wurde, was das wahre Leben an Fähigkeiten erforderte. Aber eben auch solche, in denen die Grenzen eingeübt und festgeschrieben, indem auf eine fiktive, kontrollierte, abgesicherte Art die Fantasie vom Grenzübertritt ausgelebt wird. In denen die Macht des eigentlich Undenkbaren gebändigt wird, indem man es auf domestizierte Weise zuläßt.

Fantasien vom Bruch der Gesetze, vom Bösen, vom Verbotenen gehören seit jeher integral zu unserer Kultur. Das Spiel (und da sind sich "Schauspiel" und "Spiel" nicht nur sprachlich sehr eng verwandt) haben, selbst in ihren moralisierendsten Formen, auch immer beinhaltet, dargestellt, was in realiter nicht sein durfte - und daraus meist mehr Reiz, aber auch Sinn, bezogen als aus bloßer Abbildung einer Utopie.

Mit dem Tod spielen

Wo immer eine Gesellschaft zum (und sei es vermeintlichen) Wohl der Allgemeinheit den Verzicht auf das unmittelbare Ausleben von Trieben durchsetzen konnte, hat sie auch zwangsläufig Strategien hervorgebracht, im Raum der Zeichen und Symbole (der keineswegs ohne Wirkung ist auf Körper) die unterdrückten Energien zu kanalisieren. Wir heute sind unser evolutionäres Erbe noch nicht weit genug los, dass uns schon in der Wiege jegliche Fähigkeit und Neigung zur Gewalt fehlen würde. Und leben doch (und zum Glück) in einer Welt, die von uns verlangt, Aggressionen grundsätzlich nicht in körperliches Handeln überspringen zu lassen.

Es hat nichts prinzipiell Perverses oder Bedrohliches, wenn in den Produkten unseres Geistes die Gewalt, auf die wir im täglichen Leben verzichten, plötzlich wieder auftaucht. Wenn wir uns genau abgegrenzte Räume schaffen, in denen wir mit ihr umgehen können - ohne reale Schäden. Wenn wir in der Welt der Zeichen, Bilder, Symbole uns auseinandersetzen, verarbeiten mit etwas, dessen Reiz uns in der Wirklichkeit verboten ist. Wenn wir, kurz gesagt, mit der Gewalt, mit dem Tod, als irrealen Möglichkeiten im wahrsten Wortsinn spielen.