Argentinische Straßenräuber in der Krise

Aufgrund der staatlich verordneten Beschränkung von Bargeldauszahlungen treten "Blitz-Entführungen" an die Stelle von Raubüberfällen

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Argentinische Kriminelle kopieren neuerdings verstärkt ein Verbrechen, das man bislang eher aus Kolumbien oder Brasilien kannte. Sogenannte "Blitz-Entführungen" (secuestros express), die innerhalb weniger Stunden mit geringen Lösegeld-Zahlungen abgewickelt werden, versetzen Argentiniens Oberschicht in Angst und Schrecken. Auch ein Neffe von Ex-Präsident Carlos Menem soll kürzlich Opfer des neuen Mode-Delikts geworden sein. Ursache für die Zunahme des schnellen Kidnappings in Argentinien sind nach Ansicht von Experten die Beschränkungen des Geldverkehrs in den letzten Monaten.

Seit Herbst des vergangenen Jahres befindet sich das Geld der Argentinier im "corralito", im "Laufstall", wie die deutsche Übersetzung des mittlerweile offiziell verwendeten Begriffes lautet. Die Sparguthaben der Bürger sind eingefroren, der Zugriff auf Giro-Konten ist eingeschränkt und die Banken haben nur noch unregelmäßig geöffnet. Argentinien ist pleite.

Doch nicht nur der argentinische Mittelstand ist durch die ungewöhnlichen Krisenmaßnahmen, die im letzten Dezember zu einem regelrechten Volksaufstand und zum Sturz der damaligen Regierung führten, in ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Auch Straßenräuber fluchen über den "corralito". Konnte man früher wohlhabend erscheinende Passanten mit vorgehaltener Waffe dazu zwingen, ein paar hundert Dollar am Geldautomaten abzuheben, funktioniert diese einfache Geldbeschaffung heute nicht mehr. Die Automaten sind häufig leer und wenn sie doch einmal gefüllt sind, spucken sie nur geringe Beträge aus. In Peso selbstverständlich - und der ist seit dem Wegfall der Dollarbindung auf unaufhaltsamer Talfahrt.

Blitz-Entführer handeln ohne Strategie und lassen sich auch herunterhandeln

In den letzten Wochen scheinen die argentinischen Gelegenheitskriminellen jedoch eine Lösung ihres Problems gefunden zu haben. Statt Express-Erpressung am Geldautomaten verlegen sie ihre Aktivität mehr und mehr auf Express-Entführungen. Eine Erscheinung, die man bereits aus anderen lateinamerikanischen Ländern kennt und die sich in wesentlichen Punkten von traditionellen Entführungen unterscheidet.

So haben Blitz-Entführer meist keine vorherige Strategie und auch kein eindeutiges Opfer im Auge. Stattdessen lauern die Täter, normalerweise zwei bis drei Personen im Alter von 17 bis 25 Jahren, geeigneten Opfern mehr oder weniger zufällig an öffentlichen Orten auf - an Tankstellen, auf Parkplätzen, in Einkaufszentren, vor Luxusrestaurants oder an Büro- und Hauseingängen in den besseren Vierteln. Bei ihrer Wahl orientieren sie sich in erster Linie an der Kleidung, der Auto- oder der Handymarke des potenziellen Opfers.

Haben die Entführer ein passendes Ziel gefunden, bedrohen sie die Person mit einem Revolver oder mit einer Pistole und verschleppen sie in einem - häufig gestohlenen - Auto. Von unterwegs aus verständigen sie die Angehörigen des Gekidnappten und verlangen ein Lösegeld, das selten höher als 5.000 Dollar ist. Der Anreiz, die Polizei zu rufen, soll möglichst gering gehalten werden. Normalerweise lassen sich die Entführer sogar noch deutlich herunterhandeln, denn meist haben sie kein geeignetes Versteck für den Entführten und wollen ihn so schnell wie möglich wieder loswerden.

So gab sich Ende Mai ein Entführungstrio mit gerade einmal 400 Peso Lösegeld zufrieden. Das sind beim derzeitigen Wechselkurs weniger als 120 Dollar. Kaum mehr zahlte das bislang prominenteste Opfer, Martin Menem, ein Neffe des ehemaligen Staatspräsidenten Carlos Menem. In seinem Fall betrug das Lösegeld, wie die argentinischen Zeitungen aus Polizei- und Justizkreisen erfahren haben wollen, 1.800 Peso (ca. 500 Dollar). Die Familie Menem bestätigte die Summe nicht. Sie bestreitet, daß es je zu einer Entführung gekommen ist.

Wenn die Erpressten nicht genug Bargeld zur Hand haben, akzeptieren die Entführer zur Not auch Sachwerte. Am vergangenen Montag wollte beispielsweise ein 47jähriger Mann seinen 15jährigen entführten Neffen durch die Zahlung von 700 Dollar und 500 Peso auslösen. Weil dies nicht genug war, legte er noch einen Fernseher und einen Videorecorder dazu. Die Erpresser nahmen die Geräte dankend entgegen und ließen den Jungen frei.

Die Gewinner der Entführungsparanoia

Für das Aufkommen der Blitz-Entführungen machen verschiedene Experten die argentinische Finanzpolitik verantwortlich. "Was früher ein Überfall am Bankautomaten war, wird heute - mit dem 'corralito' - zu einer Entführung. Man greift sich jemanden und - anstatt mit ihm zum Automaten zu gehen, ruft man die Familie an, damit sie zahlt", zitiert die Tageszeitung Pagina12 eine "juristische Quelle". Auch Juan José Alvarez , ein Beamter der Inneren Sicherheit, schließt sich dieser Meinung an. Er hält Blitz-Entführungen für eine neue Variante von Raubüberfällen, "verursacht durch den 'corralito' der dazu geführt hat, daß die Personen kein Bargeld mehr in der Tasche haben."

Die Erklärung ist einleuchtend. Beruhigend ist sie nicht. In der argentinischen Oberschicht haben die jüngsten Meldungen geradezu eine Entführungsparanoia ausgelöst. Wohlhabende Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr unbewacht in die Privatschulen. Von der Universität Belgrano und dem Instituto Argentino de Negociación, Conciliación y Arbitraje (IANCA) werden Entführungs-Vorbereitungkurse mit dem Titel "Das professionelle Opfer" angeboten. Hier kann man lernen, die eigene Entführung als Geschäft anzusehen, das möglichst schnell und professionell abzuwickeln ist. Zusätzlich können die Seminarteilnehmer im monatlichen Abonnement eine 24-Stunden-Notfall-Hilfe buchen, die im Fall einer Entführung aktiv wird.

Billiger ist der Blick ins Internet. Auf einer venezuelanischen Webseite können Surfer Verhaltensmaßregeln für den Fall einer "Blitz-Entführung" nachlesen. Neben Tipps wie "Seien Sie klug und bewahren Sie Ruhe", werden Beispielsätze aufgelistet, die Entführungsopfer auf keinen Fall verwenden sollten, um die Situation nicht komplizierter werden zu lassen.

Die größten Gewinner der allgemeinen Entführungspsychose sind ausländische Versicherungen. Da in den Medien Meldungen von Blitzentführungen mit Meldungen von traditionellen Entführungen vermischt werden, entsteht bei vielen Lesern der Eindruck, auch die Zahl der traditionellen Entführungen sei gestiegen. Deshalb versichern sich immer mehr reiche Argentinier gegen Lösegeldzahlungen. Zumeist bei englischen Unternehmen, denn in Argentinien sind solche Versicherungen noch verboten - wie bis vor einigen Jahren auch in Deutschland. Das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen (BAV) hatte eine Entführungsversicherung bis 1998 mit der Begründung abgelehnt, dass dadurch erpresserischer Menschenraub gefördert werden könnte. Die Erfahrungen aus England und anderen EU-Staaten hatten diese Befürchtung aber nicht bestätigt.

Die argentinischen Politiker versuchen indes die Öffentlichkeit zu beruhigen. So attestiert der Governeur Felipe Solá zwar eine Zunahme der Kidnappings, verneint aber, dass es so etwas wie eine Entführungsepidemie gebe. Die Polizei rechnet mit durchschnittlich sechs Blitzentführungen pro Monat im Großraum Buenos Aires.Schon Anfang Juni wurde diese Zahl erreicht.