Der erste künstlich zusammengebaute Virus

US-Wissenschaftler haben aus chemischen Verbindungen Polioviren herstellen können, die zudem fast so tödlich waren wie ihre natürlich existierenden Verwandten

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Wissenschaftlern ist es erstmals gelungen, wie sie in der aktuelle Ausgabe von Science berichten, über öffentlich zugängliche Informationen und einer Versandfirma einen Virus aus den chemischen Bestandteilen künstlich, d.h. ohne eine Wirtszelle, aufzubauen. Die im Labor in zweijähriger Arbeit erzeugte Viruskopie sei praktisch ununterscheidbar von seinem natürlichen Original - auch was seine Infektionsfähigkeit betrifft. Der von ihnen hergestellte Poliovirus tötete ebenso wie der natürliche Virus Mäuse. Das eröffnet möglicherweise düstere Aussichten auf die Herstellung besonders gefährlicher Viren oder Bakterien für die Kriegsführung oder für terroristische Anschläge.

Ob Viren nun tatsächlich Lebewesen oder lebendige Zellen sind, darüber sind sich Wissenschaftler noch immer nicht ganz einig. Jeronimo Cello, Aniko Paul und Eckard Wimmer, die Wissenschaftler von der Stony Brook University in New York, die das künstliche Virus hergestellt haben, sagen, dass sich Viren sowohl als eine chemische Verbindungen als auch als "lebendige" Wesen verstehen lassen. Alleine sind sie nicht lebensfähig, sie benötigen eine Wirtszelle, um sich zu vermehren oder irgendeine Art der Biosynthese auszuführen. Sie lassen sich im Unterschied zu lebendigen Zelle kristallisieren, so dass sich daraus die chemischen Verbindungen erkennen lassen. Sie bestehen aus DNA oder RNA, die von einer Proteinhülle umgeben ist.

Der Poliovirus, der die Kinderlähmung hervorruft, besitzt nur einen einzelnen RNA-Strang mit gerade einmal 7741 Basen. Ingesamt weist er fünf unterschiedliche Makromoleküle auf. Das Genom ist schon seit 20 Jahren kartiert, auch die dreidimensionale Kristallstruktur ist bekannt. Die Wissenschaftler besorgten sich die chemischen Bausteine, die aus der Analyse des Genoms bekannt sind. Die Gensequenzen können von jedem im Internet eingesehen werden. Diese chemische Verbindungen waren "völlig unabhängig von viralen Komponenten". Da RNA chemisch instabil ist, übersetzten die Wissenschaftler die RNA-Sequenz in eine DNA-Sequenz, indem jede Uracil-Base durch eine Thymin-Base ersetzt wurde. Solche DNA-Stränge bestellten sie schließlich bei einer Firma. Allein ein Jahr benötigte Cello, um ein Drittel des DNA-Strangs zusammenzufügen. Dann wurde durch eine DNA-Synthese-Firma in zwei Monaten der Rest zusammengebaut. Um den künstlichen Virus vom natürlichen zu unterscheiden, brachten die Wissenschaftler 19 Marker, kleine Veränderungen am Code, an.

Um den Virus herzustellen, musste aber dann die DNA wieder in virale RNA übersetzt werden. Das geschah in einem zellenfreien Extrakt von RNA-Polymerase. Hier konnte sich der infektiöse Virus neu synthetisieren. Tatsächlich verhielt sich der künstliche zusammengebaute Virus ganz normal: Er vermehrte sich, wurde von Antikörpern abgewehrt und Mäuse, denen der künstliche Poliovirus injizierte wurde, zeigten die Lähmungen, die ein natürlicher Virus bewirken würden. Allerdings war die Gefährlichkeit des künstlichen Virus geringer, was die Wissenschaftler auf die Marker zurückführen. Es waren 1.000 bis 10.000 Mal so viele künstliche Viren notwendig, um eine Maus zu töten.

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Die Herstellung sei ganz einfach gewesen, sagten die Wissenschaftler. Sie hätten zeigen wollen, dass man so etwas machen kann. Man habe bislang zwar von der möglichen künstlichen Herstellung eines Lebewesen gesprochen, ohne wirklich daran zu glauben: "Jetzt ist es Wirklichkeit." Auch wenn frei zugängliche Informationen und ein Briefversand für die chemischen Verbindungen benutzt wurde, was jeder machen könnte, so dürfte die Herstellung eines Virus im Labor ohne entsprechendes Wissen nicht ganz so einfach gewesen sein, wie die Wissenschaftler provokativ behaupten. Provokativ ist ihr Experiment auch deswegen primär, weil sie dasselbe Ergebnis wohl auch an einem Virus hätten zeigen können, der nicht so gefährlich ist. Das aber wäre dann vermutlich weniger medienwirksam gewesen.

Allerdings wollten die Wissenschaftler damit auch zeigen, dass sich so auch bereits ausgerottete Viren wie der Pockenvirus künstlich wieder herstellen lassen könnten (Bioterror: Die Pockenpanik). Es gäbe also keinen Grund zur Beruhigung, wenn eine gefährliche Infektionskrankheit verschwunden wäre. Gegenwärtig hat es sich die WHO eben zur Aufgabe gesetzt, nach den Pocken auch den Poliovirus weltweit auszurotten. Kann man Viren aber künstlich herstellen, so besteht jeder Zeit die Gefahr, dass besonders gefährliche Pathogene wie die Pockenviren als Waffen eingesetzt und gezielt noch gefährlicher gemacht werden können als die natürlich vorkommenden Viren. Werden die Menschen wie im Fall von Pocken nicht mehr geimpft, so könnten sie dann leicht zum Opfer solcher Anschläge werden.

Als Konsequenz sollte man die noch in Russland und in den USA vorhandenen letzten Kulturen vielleicht doch nicht vernichten und weiterhin große Vorräte an Impfstoffen anlegen (Anpassung an die politischen Wirklichkeiten). Allerdings bleibt die Frage, ob auch andere Viren, die komplizierter sind, künstlich auf dieselbe Weise montiert werden können. Der Pockenvirus beispielsweise hat bereits ein Genom aus 185.000 Basenpaaren, ist also über 20 Mal größer als das des Poliovirus.

Aber jetzt ist mit dem künstlichen Poliovirus der erste Durchbruch gelungen. Mit entsprechendem Aufwand und Wissen scheint es also durchaus möglich zu sein, auch andere oder gar neue Viren oder vielleicht auch Bakterien künstlich herzustellen. Die Wissenschaftler fordern jedenfalls dazu auf, weiterhin mit der Massenimpfung fortzufahren, auch wenn Viren bereits ausgerottet sind. Das aber würde gegen Angriffe mit entsprechend veränderten Viren auch nicht viel nützen. Und schließlich gibt es auch Versuche, nicht nur existierende Viren künstlich zu reproduzieren, sondern auch ein vollständig künstliches Virus herzustellen, das es so noch nicht gibt (Herstellung eines künstlichen Virus angekündigt).