Der PISA-Schock

Bildung und Erziehung im Spannungsfeld von überhöhtem Anspruchsdenken und sinkendem Leistungswillen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dank TIMSS und PISA ist Bildungspolitik wieder in. Über Nacht sind Bildung und Erziehung zum Megathema aufgestiegen. Das vernichtende Urteil, das die beiden Studien über die Leistungen deutscher Schüler im globalen Vergleich gefällt haben, aber auch der Amoklauf von Erfurt und die ständigen Klagen der Wirtschaft und der Universitäten über Fachkräftemangel oder studierunfähige Studenten haben die Politiker aller Fraktionen aufgeschreckt. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gab ein Regierungschef dazu im Bundestag eine Regierungserklärung ab. Bundeskanzler Schröder räumte dort dem Thema "Bildung" die höchste Priorität ein und bezeichnete sie als "die soziale Frage des 21. Jahrhunderts".

Vermutlich in Anspielung auf den so genannten "Sputnik-Schock" vor ca. fünfzig Jahren sagte Schröder: "Wir können es uns nicht leisten, auch nur eine einzige Begabung ungenutzt zu lassen". Und fast schon im Ton einer Großen Koalition rief der Kanzler die versammelten Volksvertreter zu "einer gemeinsamen Kraftanstrengung" auf. Vier Milliarden Euro will der Regierungschef in den nächsten vier Jahren aus dem Bundeshaushalt für mehr Kinderbetreuung und Ganztagsschulen locker machen. Und die KMK erwägt neben der Einführung national verbindlicher Bildungsstandards und der jährlichen Durchführung zentraler Leistungstests in jeder Jahrgangsstufe auch die Vorverlegung von Bildung und Unterricht in den Kindergarten.

Hold on, hold on, don’t be scared

Oasis

Überraschend waren die Ergebnisse für all diejenigen, die mit der Materie vertraut sind, nicht. Schließlich sind sie am Arbeitsplatz, in der Lernfabrik und anderswo Tag für Tag mit dem Widerspruch aus steigendem Anspruchsdenken, sinkender Lernbereitschaft und fehlendem Leistungsniveau bei Lehrlingen, Schülern und Studenten konfrontiert. Die Klagen der Wirtschaft, der Wissenschaft und aller Lehrenden über mangelhaft ausgebildeten oder leistungsunwilligen Nachwuchs sind weithin hörbar. Wenn uns PISA-E jetzt belehrt, dass bayerische Schüler vergleichsweise noch ganz passabel abschneiden, merkt der Insider verwundert auf und traut seinen Augen nicht. Wie schlecht müssen erst die Schüler im Norden, Osten und Westen der Republik sein, wenn die Bayern und Baden-Württemberger sich im vorderen Mittelfeld behaupten?

Es war von vornherein klar, dass man mit Schuldzuweisungen schnell bei der Hand sein würde. Immerhin ist Wahlkampf und die Parteien wetteifern um die Gunst der Wähler. Und da Alternativen zwischen Kanzler und Kandidat rar sind, bietet der regionale Vergleich einen willkommenen Anlass, eklatante Unterschiede und Gegensätze zwischen den Politiken des Amtsinhabers und seines bayerischen Herausforderers zu markieren.

Schuldzuweisungen grassieren

Doch wer trägt die Verantwortung am generellen Versagen der schulischen Anstalten? Wer ist schuld, dass das einst so hoch gelobte deutsche Bildungssystem im Ranking mit anderen Staaten auf die hinteren Plätze zurückgefallen ist? Liegt es an der so genannten "Kuschelpädagogik", der systematischen Herabsetzung von Leistung und Erziehung durch gleichmacherische Lehrer, wie konservative Bildungspolitiker vermuten? Oder vielleicht am dreigliedrigen Schulsystem, das mit seiner rigiden Selektionspraxis und der Unmenge von Prüfungen und Zensuren eine gehörige Portion dazu beiträgt, dass die Förderung der Zurückgebliebenen, die Verwirklichung von mehr Chancengleichheit auf der Strecke bleibt?

Welche Mitschuld haben kribbelige, von Konsum und Medien verwöhnte Schüler, die jede größere Anstrengung meiden und statt Bücher zu studieren und Gedichte zu rezitieren sich dem Genuss von Markenartikeln, Fun und Computerspielen hingeben? Oder muss man diese an der mangelnden Qualität des Personals festmachen, das sich unaufgeschlossen für neue Unterrichtstechniken und -methoden (Freiarbeit, Projektunterricht, E-Learning) zeigt und nach wie vor überholte Verfahren (Frontalunterricht) im Unterricht bevorzugt? Welche Rolle spielen dabei ein Lehrplan, der dem Nachwuchs überholte, verstaubte oder "unvermittelbare" Bildungsinhalte vermittelt, oder die staatliche Aufsicht, die den Schulen zu wenig Gestaltungsfreiheit gewährt und sie am bildungspolitischen Gängelband hält?

Oder muss man nicht auch den Eltern, Vorhaltungen machen, die zwar im Allgemeinen hohe Ansprüche und Erwartungen an ihre Sprösslinge stellen, die häusliche Erziehungsarbeit, Hausaufgabenkontrolle und Lernen aber lieber an Schulen und Lehrer delegieren, ihre Kinder vernachlässigen oder sich selbst überlassen und andere Lebensschwerpunkte setzen. Der Praxisbericht eines bayerischen Lehrers einer gymnasialen Oberstufe, den die F.A.Z. am 3. Juli mit dem Titel "Lieber zum Shopping nach München" abgedruckt hat, vermischt alle diese Momente und und spiegelt gekonnt diesen Befund.

An Rezepten besteht kein Mangel

Viele Fragen, auf die man bekanntlich stets andere Antworten erhält, je nachdem, wen man befragt, Lehrer oder Schüler, Eltern oder Politiker, Schulpädagogen oder Hinz und Kunz. Schuld sind immer die anderen, "faule" Lehrer, "dumme Schüler", "langweiliger" Unterricht oder "kaputte Familien" usw. Und auch die Rezepte, die jetzt als Allheilmittel gegen die Bildungsmisere gehandelt werden, unterscheiden sich davon nicht. Wollen die Erziehungsbewegten eine neue Unterrichtskultur (kindorientiertes Lernen, problemorientierter Unterricht, Verzicht auf Zensuren, Lerncoaching ...) realisieren, erhoffen sich die Schulreformer die Lösung der Probleme durch eine rasche Modernisierung des Schulsystems. Entbürokratisierung der Schulen, Entrümpelung von Lehrplänen und Einführung des Bildungssponsoring einerseits; Evaluierung des Unterrichts, Förderung von Hochbegabten und Einbindung der Eltern andererseits sollen mithelfen, Schulen in Ganztagsverwahranstalten und Bildungsservicecenter umzuwandeln. Und während Ostpolitiker allen Ernstes eine Rückkehr zum DDR-Erziehungsverwahrsystem empfehlen, Kinder- und Sportärzte mehr Bewegung und Sportunterricht verlangen, weil Stillsitzen dumm mache, fordert der Bundeselternrat tatsächlich von den Verantwortlichen in Politik und Kultur "ein durchgestyltes Konzept für eine umfassende Persönlichkeitsbildung".

Der Tanker bewegt sich nicht

Dass das mit der Umkrempelung des Erziehungs- und Bildungssystems alles andere als einfach ist, kann der Leser dem neuen Buch des Soziologen Niklas Luhmann entnehmen, das jüngst aus seinem Nachlass veröffentlicht worden ist (Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Herausgegeben von Dieter Lenzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, 236 Seiten, 24,90 Euro). Selbstverständlich ist auch hier wieder das Erziehungssystem Zelle und Teil der modernen, in Funktionen differenzierten Gesellschaft. Für diese hat es bestimmte Aufgaben zu erfüllen, nämlich Begabungen, Talente und Kompetenzen zu entwickeln, auf die andere Systeme später zugreifen können. Wie alle anderen sozialen Systeme (Politik, Wirtschaft, Recht ...) führt auch das Bildungssystem ein "eigenständiges Dasein". Es erzeugt, behandelt und löst seine Probleme kommunikativ nach eigenen Regeln, hier nach dem Code vermittelbar/unvermittelbar. Das Medium ist diesmal "das Kind", wahlweise auch der "Lebenslauf", der durch Personwerdung zur und in Form gebracht wird.

Zwar lässt sich das Bildungssystem durch "fachfremde" Eingriffe von außen, etwa durch die Rechtssprechung von Gerichten, durch gesetzliche Initiativen oder Forderungen der Wirtschaft nach besser ausgebildetem Personal irritieren. Doch verarbeitet und beantwortet es alle diese Forderungen, Absichten und Ziele, die ihm von der Politik, der Wirtschaft, dem Recht oder der Wissenschaft angetragen werden, nach selbst bestimmten Regeln autonom und in Eigenregie. Da im Erziehungssystem unterschiedliche Traditionen, Gedächtnisse, Rollen, Interessen, Ziele, Zuweisungen, Handlungsabsichten, Motivationen usw. aufeinanderprallen, die gemeinsame Vereinbarungen, Entscheidungen und Regelungen erschweren, funktionieren Kausalattribuierungen (Schuldzuweisungen) und Lösungsansätze, die an einzelnen Symptomen herumdoktern, in aller Regel nicht. Daher können Maßnahmen weitere Maßnahmen mit unerwünschten Nebenfolgen auslösen, die sich dann vielleicht blockieren oder sogar gegenseitig neutralisieren.

Beobachter haben dann oft den Eindruck, dass sich im System nichts oder kaum etwas bewegt und der Tanker "Bildung und Schule" sich nur schwer steuern oder lenken lässt. Sie sprechen dann meist von Reformstau oder gar von Reformresistenz, wenn pädagogische Ziele an der "Erziehungswirklichkeit" scheitern oder eine Entwicklung nehmen, die so nicht beabsichtigt war. Angehende Lehrer machen diese Erfahrung genauso wie ältere Erzieher. Bei Berufseinsteigern spricht die Wissenschaft vom so genannten "Praxis-Schock", bei erfahrenen Lehrkräften hingegen vom "Burn-Out- Syndrom". Bereits Ende der Siebziger Jahre hatte der Soziologe allzu reformerpichte und erziehungsbewegte Pädagogen meist erfolglos auf diese eklatanten Diskrepanzen zwischen den proklamierten humanistischen Idealen der Erzieher und den realen Bedingungen und Leistungen des Schulsystems (Selektion und Zuteilung) aufmerksam gemacht und diese Ausblendung der schulsoziologischen Wirklichkeit als "Technologiedefizit" gebrandmarkt. In dem gemeinsam mit dem verstorbenen Hamburger Pädagogen Karl-Eberhard Schorr herausgegebenen "Reflexionsproblemen im Erziehungssystem" stellte er der Erziehungswissenschaft eine Soziologie des Lehrplans, der Didaktik und ihrer Methodik zur Verfügung, worauf diese leider "defensiv", wie er in der Einleitung sagt, reagiert hat und darauf umso munterer mit neuen Lernprogrammen und Lehrverfahren weiterzumachen.

Eigenlogik des Unterrichts

All das spielt im Nachlassband auch eine Rolle, sie werden auf den Stand von vor etwa zehn Jahren gebracht und der eigenen "konstruktivistischen Entwicklung" angepasst. Allerdings wird die Blickrichtung neu justiert. Im Zentrum von Luhmanns Interesse steht nun die Unterrichtssituation, die "Interaktion unter Anwesenden". Dort, zwischen Zweierbänken, Gruppentischen oder Hufeisenform wird getestet, was an der Erziehung bloß "Wille und Vorstellung" ist und was vom Lehrplan und seiner Didaktik, die Erziehungswissenschaftler im Auftrag des Staates ersinnen, für den Papierkorb produziert worden ist. Hier, im face-to-face von Lehrer und Schüler trifft der "pädagogische Bezug" auf den Benotungszwang. Und hier, im Klassenzimmer, werden all die "Tugenden" erworben und angewendet, die den Erzieher nerven und den Bildungszielen diametral zuwiderlaufen: Biopolitik, Disziplinierungen und Schulverweise einerseits, Provokationen, Störaktionen und Unfug treibende Schüler, die das alles genießen, andererseits.

Mit der Ausrichtung von Schulklassen als Systemen der Interaktion unter Anwesenden sind weittragende Konsequenzen verbunden, die sich aus den Formen des Systembaus der Interaktion ergeben.

Niklas Luhman

Daran ändern auch "kumpelhafte" Lehrertypen, ein lockerer Führungsstil oder ein wie auch immer am Schüler orientierter Unterricht nichts. Was Bildungsplaner, Ministerialbeamte und Erzieher für wichtig halten, müssen Schüler noch lange nicht für wichtig halten. Auch das ständige Hinterherhasten nach zeitgeistigeren Themen und Inhalten, um Schüler dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden, wird bei Schülern meist als gestohlene Lebenszeit empfunden. Den Ärger und Frust der Schüler darüber muss in der Regel der Lehrer ausbaden, weil er im Klassenraum den Schülern unmittelbar gegenübersteht. Je nachdem, wie er darauf reagiert, ob mit Nachsicht, Milde oder Strenge, wird ihm das dann als professionelle Schwäche oder Stärke ausgelegt. Nur wer sich mit diesen "Wirklichkeiten", die die "Interaktion unter Anwesenden" schafft, am besten zu arrangieren weiß, kann in der Schule "überleben". Das gilt für Schüler wie für Lehrer.

Der Tod Luhmanns hat nun leider dazu geführt, dass ausgerechnet dieser zentrale Punkt des Erziehungssystem, das "Interaktionssystem Unterricht", unausgearbeitet geblieben ist. Die Frage: "Welche Schule haben wir?" müssen folglich andere beantworten. Doch an nüchterner Analyse und bildungssoziologischen Klartext scheint kein Interesse zu bestehen. Weder in der Erziehungswissenschaft, die primär nach neuen Schulmodellen (Ganztagsbetreuung), Unterrichtsformen (Projektarbeit), Ausbildungsgängen (Praktika, Didaktiken, Psychologien) und finanziellen Investitionen (Milliarden) ruft, noch im öffentlichen Raum. Davon zeugen all die Interviews und TV-Talkshows, in denen "Volkserzieher" und scheinbare "Experten" wie der Quizmaster Günther Jauch, der Schlagersänger Guildo Horn oder die Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf Erziehungsmodelle für die Zukunft vorstellen; und davon zeugen auch die vielstimmigen und geschwätzigen Meinungen, Kommentare und Urteile von Künstlern, Wissenschaftlern und Schriftstellern. Auf die Frage: "Welche Schule wollen wir?" geben sie öffentlich Auskunft über ihre ganz persönlichen Neurosen und Schultraumata.

"Schüler" – die unbekannte Störgröße

Und noch etwas ist laut Luhmann dafür verantwortlich, dass gut gemeinte Absichten, Ziele und Pläne im Unterricht häufig wirkungslos verpuffen: der Schüler. Die kybernetische Unterrichtswissenschaft hat ihn darum einst als "Störgröße" bezeichnet. Er, um seinetwillen Lernfabriken gebaut, Computer angeschafft, Unterricht organisiert werden und Lehrer ein Hochschulstudium absolvieren, ist die große Unbekannte des Erziehungssystems. Den Schüler kann man höchstens irritieren oder bestenfalls anleiten, dass er gefährliche Dinge unterlässt und die Folgen seines Handelns wenigstens vorher bedenkt. Steuern oder gar fernlenken kann man ihn aber nicht. Er bleibt eine eigensinnige, nicht-triviale Maschine, dessen Verhalten und Handeln sich weder eindeutig voraussagen noch determinieren lassen.

Hurra! Wir Blöden!

Schülerplakat

Und doch behandeln Pädagogen ihn, als ob er das wäre, eine triviale Maschine, die richtige Antworten ausspuckt, wenn man sie mit entsprechenden Fragen füttert. Sie behaupten über Bildungsstandards, Leistungsniveaus und Maßstäbe richtigen Wissens und Verhaltens zu befinden, die der Adressat des Bildungsprozesses zu erwerben hat. Sagt der Schüler dann aber Unsinniges und Falsches oder zeigt er sich als unbelehrbar und renitent, muss er entweder gefördert oder therapiert und, im schlimmsten Fall, repariert werden.

Weil das so ist und Erzieher darum wissen, laufen sie meist mit schlechtem Gewissen herum. Sie geben sich häufig die Schuld am Versagen ihrer Zöglinge und erfinden dann alle möglichen Programme und Methoden: Projektunterricht, Freiarbeit, schülerorientiertes Lernen, Bonusgarantien bei Lernleistungsschwächen usw. um dann, wenn es um Abgleichung der Leistungen mit den aufgestellten Bildungszielen geht, erneut auf ebendiese Form der Trivialisierung zu verfallen. Schließlich sollen am Ende, nachdem Grundwerte, Gedichte, Rechtschreibregeln oder physikalische Formeln gepaukt und eingeübt worden sind, kompetente und sozial gewitzte Jungerwachsene herauskommen, die zugleich das Kulturerbe bewahren und die moderne Gesellschaft voranbringen.

Alles wird besser

Vom Unterricht geplagte und durch Presseberichte und Bildungspläne verunsicherte Erzieher und Lehrer werden bei Niklas Luhmann Trost finden. Sein kühler und distanzierter Blick ermöglicht allen, die über manchem, das in der Schule vorkommt, in Depression verfallen, Abstand zu gewinnen und scheinbar Undurchschaubares, Widerständiges und Paradoxales, die sie geneigt sind, verschwörungstheoretisch unbekannten oder höheren Mächten zuzuweisen, überhaupt erst einmal zu durchschauen. Andererseits werden Beobachter wie Betroffene viel gelassener auf all jene Reformvorschläge reagieren, die gerade jetzt wieder die Runde machen. Auch nach dem Sputnik-Schock berief man eine Bildungskommission ein, den "Deutschen Bildungsrat", der eine neue Forschungspraxis und -kultur angeleiert hat. Und während Georg Picht die "deutsche Bildungskatastrophe" prophezeite, Ralf Dahrendorf "Bildung zur Bürgerpflicht" erklärte, Willy Brandt zu mehr "Demokratie wagen" in den Schulen ermahnte und Gerhard Roth zur "Begabung der Begabungen" aufrief, schwärmten die Werber in die Arbeitermilieus aus, um dort die erhofften Bildungsreserven aufzuspüren und sie für die "höhere Bildung" zu mobilisieren. Die bildungs- und schulsoziologischen Ruinen, den dieser bildungspolitische Amoklauf der 68er-Generation beschert und ihre Bildungsstürmer in unseren Schulen und Universitäten hinterlassen haben, reflektiert das Buch. Freundlich fällt dieser Befund für die Bildungsreformer und -planer gerade nicht aus.

Zu vermuten, dass nach PISA alles anders und besser würde, ist darum höchst vermessen. Denn statt Schule und Unterricht auf sein Kerngeschäft zurückzufahren, nämlich die Entwicklung des Denkens, Bewertens und Urteilens sowie die Entdeckung und Förderung von Talenten, Begabungen und Fertigkeiten, werden den Bildungseinrichtungen immer neue und zusätzliche Aufgaben und Funktionen aufgebürdet und zugemutet. Sie reichen inzwischen von der Gewaltprävention und der sozialpädagogischen Ganztagsbetreuung von Kindern über Gesundheitsvorsorge, Zahnpflege und gemeinsames Frühstücken mit den Schülern bis hin zur Pfadfinderkultur im gemeinsamen Abenteuerurlaub. Kein Wunder, dass Schulen ihren eigentlichen Aufgaben und Pflichten immer weniger nachkommen, seitdem Spaßkultur, Entertainement und Showeinlagen, Erlebnisunterricht, Freizeitprogramme und soziale Rundumversorgung das Lernen und Üben überlagern und mit ihnen konkurrieren.

Die Bildungswüste wächst

Es gibt nur ein' Rudi Völler

Beleg für PISA

Forderungen wie sie die bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier unmittelbar nach Erfurt und PISA erhoben hat, nämlich einen Erziehungspakt zwischen Lehrern, Psychologen und Eltern zu schließen, erweisen sich in der Praxis als wenig hilfreich und kontraproduktiv. Die Gemeinsamkeiten sind meist erschöpft, wenn der Sprössling den höheren Bildungsweg einschlagen soll, es aber dazu, trotz Ritalin, Prozac und anderer Stimulanzien, Nachhilfe- und Fördermaßnahmen, nicht reicht oder er dort scheitert. Lehrer, die dann Engagement zeigen und einen für das Kind "anspruchsloseren Lernweg" empfehlen, werden dann, wenn sie es "wagen", davon abzuraten oder mit ihrer Notengebung dem Streben der Eltern nach "Höherem" buchstäblich im Wege stehen, gern zum Gegner, Buhmann oder sogar Feind. Dann steht immerhin noch der Weg zum Rechtsanwalt offen, der Ansprüche vor Gericht einklagt oder fehlerhafte Diagnosen des Lehrers juristisch korrigiert, oder, wenn das nichts hilft, zumindest der Gang zum Arzt oder Psychologen, die Gutachten über Legasthenie, Dyskalkulie oder sonstige "Behinderungen" ausstellen, um mäßige Leistungen oder mangelhaften Leistungswillen kompensatorisch zu beschönigen. Ein Großteil des bildungspolitischen Dilemmas resultiert ja daraus, das über ein Drittel der Schülerschaft im falschen Bildungszweig "sitzt" und mit den dortigen Anforderungen schlichtweg überfordert ist. Den Mut, dies laut auszusprechen, hat aber niemand.

Begabungen sind eben höchst unterschiedlich verteilt. Unternehmer, Handwerker oder Otto Normalbürger beobachten das jeden Tag im Alltag. Was für Hinz gut ist, muss für Kunz noch lange nicht gut sein. Aus einem Trabi wird, so sehr er frisiert und getunt wird, partout kein Porsche; und aus einem x-beliebigen Autofahrer auch durch ständiges Üben, Fördern und Trainieren kein neuer Michael Schuhmacher. Schlimmer noch: In der globalen Medien- und Informationsgesellschaft gibt es einen steigenden Anteil förderungsresistenter Schüler und Schülerinnen (Analphabetentum). Bei ihnen wird der Code des Erziehungssystems: vermittelbar/unvermittelbar unmittelbar konkret und praktisch. Da kann der Staat noch so viel Geld und Fördermittel in Förderunterricht und zusätzliche Lehrkräfte und Erzieher stecken. Und weil diese Bildungswüste wächst, der Wunsch nach Teenstars oder anderen superschlauen Kids extrem der Schulrealität und Erziehungspraxis hinterherhinkt, gehört nicht viel Fantasie dazu, das Scheitern der angekündigten Bildungsanstrengungen vorauszusagen. Auch die neuen Milliarden werden in den Sand gesetzt sein. Und auch die geplante Einführung zentraler Leistungs- und Bildungstests wird keinem Schüler einen deut mehr Bildung und Erziehung bringen. Im Gegenteil: Sie wird höchstens dazu führen, dass die Schulakte jedes einzelnen Schülers um einiges dicker wird und Unlust und Frustrationen in den Klassenräumen und Schulstunden, bei Lehrern, Schülern und Eltern weiter ansteigen.