Das Diktat der Schwatzköppe

Ist der ideale Kollege wirklich extrovertiert und eloquent? Ein Plädoyer für den "autistischen Nerd"

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"Der ist ja autistisch" - so fluchte ein Ex-Chef über einen Mitarbeiter, der eher unauffällig war. Sicher übertrieben, doch wird die Arbeit fleißiger, aber stiller Menschen tatsächlich meist weniger gewürdigt als die der herumblökenden Dampfplauderer.

"Computernerds" - den Ruf haben Computerfachleute weg, seit es sie gibt: "Anständige Leute beschäftigen sich doch nicht mit so Technik-Kram." Erst seitdem auch Sexkontakte online möglich sind und sich das vor allem auch überall herumgesprochen hat, stürzen sich plötzlich auch die BMW-Fahrer ins Netz.

Neu ist das alles nicht: In meiner Jugend waren Computer zwar noch große Schränke, die sich kaum jemand nach Hause gestellt hätte, und man bastelte eher an Radios, Funkgeräten und anderer Elektronik. Und doch kam es schon mal vor, dass ein Mädel jammerte: "Also auf meine Stereoanlage und den Farbfernseher würde ich nicht verzichten wollen - aber dass Du Dich auch noch dafür interessierst und weißt, wie so was funktioniert, das kann ich nicht verstehen, damit komme ich nicht klar!"

Thomas Gottschalk erklärte sogar einmal, nicht zu wissen und auch nicht wissen zu wollen, wie man eine Glühbirne wechselt. Wüsste er nicht, wer Kant war oder wie man Auto fährt, wäre er in der Öffentlichkeit ohne Zweifel unten durch. Aber im Dunkeln aufs Klo gehen zu müssen, weil der Elektriker gerade keinen Termin frei hat? Das ist sicherlich nicht lebensbedrohend, aber doch irgendwie unbequem - offensichtlich zumindest uns Deutschen jedoch überhaupt nicht peinlich.

"Wieviele TV-Ansager braucht es, um eine Glühbirne zu wechseln?"

In der schreibenden Zunft ist das Ergebnis der eigenen Arbeit schwarz auf weiß vorweisbar. Dies ist in den meisten Berufen nicht so. Dort zieht der stille Arbeiter gegenüber einem schwätzenden Kollegen meist den Kürzeren. Und schon in der Schulzeit werden normalerweise die stillen Kinder von den lautstarken Bengels getriezt und dabei auch unbewusst spätere Mobbingtaktiken eintrainiert.

Fast alle Psychotests für Personalleute bewerten übrigens Extrovertiertheit als vorteilhaft; nur wenige differenzieren und empfehlen sie nur für Verkäufer und Marketingleute, während sie bei Entwicklern und Programmierern eher unerwünscht ist. Deren Arbeit ist so komplex, dass sie nie fertig würde, wenn sie sie ständig unterbrächen, um über jedes gelegte Ei zu gackern. Auch würde die Konzentration leiden, wenn ständig Kollegen zum Quasseln vorbeikämen.

Ein Irrtum ist jedoch, dass die stillen Leute nun generell weniger kommunizieren - dies ist keineswegs der Fall. Sie lehnen nur den oberflächlichen Smalltalk ab. Sie treten in Kneipen eher als Beobachter auf denn als jemand, der lautstark über den üblichen Schmonz von Bier- Auto- oder Zigarettenmarken und natürlich Fußballvereinen diskutiert. Nur wenn es um Frauen bzw. Männer geht, da sind sie mit dabei. Wenn sie aber etwas sagen, dann hat dies durchaus Substanz. Und der Mailverkehr der stillen Kollegen ist meist zehnmal so hoch wie jener der Dauerquassler.

Ins Extrem führt dies beim Autismus. Der ist eigentlich eine Krankheit - oder eben mittlerweile auch ein Schimpfwort. Manch besonders schweigsamer Zeitgenosse bezeichnet sich inzwischen schon freiwillig als Autist, wie beispielsweise Jasmin O'Neill, Autorin des Buchs Autismus von innen. Andere sehen im Autismus wiederum die Lebensform der Zukunft (vgl.Die Geek-Autismus-Connection).

Doch in normalen Firmen ist dieser extreme Typ höchstens im Entwicklungslabor und als Programmierer zu finden. Der Entwickler oder Programmierer wird traditionell ohnehin im Labor gehalten und soll schon deshalb möglichst still sein, damit bei Erfolg seiner Bemühungen der Vorgesetzte den Ruhm alleine einstreichen kann. Denken wir nur an die Entstehung von Turbo-Pascal, dessen genialer Programmierer Anders Heilsberg vom Borland-Chef Philippe Kahn die ersten Jahre unter Verschluss gehalten wurde. Stattdessen tat Kahn so, als habe er selbst Turbo-Pascal programmiert.

Genies hält man im Kämmerchen unter Verschluss

Woran liegt es nun, dass jemand als "anders" und introvertiert gilt? Das ist eine Frage der Kultur. Bei den Asiaten mag als "ungesellig" gelten, wer nach Dienstschluss beim Karaoke nicht mitsingt, bei den Amerikanern dagegen, wer bei offiziellem Arbeitsbeginn um 8 Uhr nicht schon um halb acht mit den Kollegen und dem Chef um die Kaffeemaschine herumhängt - schlecht für Morgenmuffel, die eigentlich erst mal unauffällig alleine in ihrer Bürozelle wach werden wollen, bevor sie sich freiwillig in Gesellschaft begeben. Bei uns heißt es dagegen schon mal: "Der sitzt beim Mittagessen immer so still in der Ecke, sagt nix und kaut auf seinem Steak rum", als ob wir die Weisheit "Mit vollem Mund spricht man nicht" aus Kindertagen längst vergessen hätten. Vielleicht ist das Kommunikationsbedürfnis des Kollegen nach vier Stunden Getöse im Großraumbüro ja nur einfach erschöpft.

Das entgegengesetzte Schimpfwort - "Schwätzer" - ist dagegen aus dem Sprachgebrauch fast verschwunden. Stattdessen macht man Vielquasslern gerne das Kompliment: "Sie sind heute aber wieder eloquent". Das klingt gut und elitär. Doch reingefallen: Eloquent heißt nämlich nichts anderes als eben "schwatzhaft".

Nun ist es sicher lächerlich, wenn sich ohnehin nebeneinander sitzende Kollegen im Büro nicht unterhalten würden. Ein persönliches Gespräch zeigt mehr Nuancen als ein Telefonat und das wieder mehr als ein Brief oder eine E-Mail. Doch sieht der Kollege ja auch, wenn man gerade in ein Problem vertieft ist und wird dann nicht unnötig stören. Ein Anrufer sieht dies dagegen nicht und platzt so mitten in die Arbeit. Auch der persönlich anwesende Kollege muss warten, wenn plötzlich das Telefon geht, was absurderweise dazu führt, dass selbst innerhalb von Firmen oft à la Tischtelefonparty lieber von Schreibtisch zu Schreibtisch telefoniert wird, nur um nicht ständig unterbrochen zu werden. Denn nach einem Anruf ist es nicht immer leicht, den Faden wieder aufzunehmen, ob nun den eines (persönlichen) Gesprächs oder den eines Programms.

Die Härte war in dieser Hinsicht mein erster Job, in dem ich einerseits programmieren, andererseits aber am Telefon Kundenanfragen beantworten und dabei auch noch eine 20-Mann-Firma simulieren musste, obwohl außer mir nur der Chef, seine Frau und ein Kollege zum Team gehörten. Ein Grund, warum ich mich fortan sowohl vom Programmieren wie vom Vertrieb fern hielt.

Roter Alarm - ein Anruf!

Dennoch ist in den meisten Firmen das Telefon eine heilige Kuh: Es gibt Richtlinien, dass Gespräche spätestens mit dem zweiten oder dritten Klingeln angenommen werden müssen und auf gar keinen Fall Anrufbeantworter benutzt werden dürfen, denn das wäre ja unhöflich den Kunden gegenüber. Nein, die Kollegen müssen ran, die haben ja nichts besseres zu tun. Ein typischer daraus resultierender Telefondialog:

"Maier, Apparat Müller!"
"Könnte ich bitte Herrn Müller sprechen?"
"Nein, er ist anscheinend gerade nicht am Platz. Kann ich Ihnen helfen?"
"Wissen Sie denn auch über die Probleme in der Sperrschwingerschaltung bei Elsa Bescheid?"
"Nein, tut mir sehr leid, ich bin von der Buchhaltung."
"Wissen Sie zufällig, wann Herr Müller wieder zu sprechen ist?"
(Maier hält Telefon zu und ruft durchs Büro) "Ist der Müller heute da?"
"Ja, der raucht wohl grad eine, ist auf dem Klo, in Besprechung oder zu Mittag."
"Können Sie das nicht genauer sagen, wie lang braucht er denn?"
"Nun, er sagt mir nicht, ob er nun gerade klein oder groß muss..."
(Maier wieder ins Telefon) "Leider nein, kann ich etwas ausrichten?"
"Nicht nötig, ich rufe später wieder an!"

Spätestens beim dritten Versuch gibt der Anrufer dann entnervt auf - und ebenso der Buchhalter Maier, der nun seinerseits eine rauchen geht....

Da Anrufbeantworter untersagt sind, weicht man auf E-Mail aus. Ein hervorragendes Werkzeug, denn die Mail erreicht Müller auch dann am Arbeitsplatz, wenn er bei ihrem Eintreffen gerade auf dem bewussten Örtchen sitzt. Doch da kommt wieder das Vorurteil der Manager-Schwatzköppe ins Spiel: "Nur Sachbearbeiter und Computerfreaks schreiben und lesen Mails, echte Macher treiben sich nicht im Internet herum".

Chefs erreicht man so demnach nicht. Und sie mögen oft auch bei ihren Untergebenen das Mailen oft nicht: "Ein richtiger Journalist verwendet keine E-Mail", verkündete mir ein Chef eines Computermagazins (!) vor nicht mal vier Jahren, und ein anderer sagte gar direkt: "Du sollst hier gefälligst telefonieren und nicht herummailen." Denn nur so ist der Fleiß der Mitarbeiter im Großraumbüro hörbar. Nur die Chefs haben natürlich ihr eigenes Zimmerchen. Auch wenn sie gerne die Mitarbeiter beim Telefonieren belauschen, so wollen sie dies keinesfalls umgekehrt. Und wenn schon schriftliche Kommunikation, dann doch bitte zeit- und geldaufwendig auf totem Baum mit genormtem und markenrechtlich eingetragenen Firmenlogo. Extrem sind hier ältere Juristen, die einem glatt mitteilen: "Warum wollen Sie als Privatperson denn unbedingt per E-Mail kommunizieren, schicken Sie doch gefälligst einen Brief oder ein Fax wie unsereins!"

Schon kurios: Das Volk ist geschickt und höflich und mailt - die Mächtigen verplempern ihre Zeit dagegen mit Brief und Telefon. Es gibt sogar Sekretärinnen, die dem vom Dauerquasseln geplagten Manager dann auch noch den anspruchsvollen Job des eigenhändigen Nummernwählens abnehmen. Doch die Dinosaurier sind ja nach ein paar Jahrmillionen schließlich auch ausgestorben - in ein paar Jahren sind wir also vielleicht auch die Schwatzköppe los...