Auf der Suche nach dem "Krimino-Gen"

Zur Koppelung von Umweltbedingungen und Genen

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Sollte Robert Steinhäuser, der juvenile Killer von Erfurt, unschuldig sein? Sollten nicht die Gewaltfantasien von Quake 3 und CS seine Psyche vernebelt haben, wie es voreilige Medienkritiker behaupten, sondern Robert Opfer eines unerkannten Killer-Gens gewesen sein? Zugegeben, auch das wäre höchst spekulativ. Die oft unfruchtbaren Streitigkeiten zwischen Umwelt- und Vererbungstheorie, zwischen freiem Willen und Triebschicksal könnten jetzt aber plausibleren Differenzierungen weichen. Kinder, die misshandelt worden sind und zugleich eine besondere genetische Disposition haben, entwickeln sich mit größerer Wahrscheinlichkeit zu aggressiven, a(nti)-sozialen Erwachsenen. Das jedenfalls behauptet eine in Science veröffentlichte Studie, die bereits 1972 gestartet wurde und in Neuseeland 442 Probanden von Geburt an auf aggressive Verhaltensauffälligkeiten und die Besonderheiten ihrer genetischen Ausstattung hin untersuchte.

Die Studie "Role of Genotype in the Cycle of Violence in Maltreated Children" von Avshalom Caspi et al. stellt wohl die erste eindeutige Beziehung her zwischen dem Zusammenspiel von Genen und Umwelt. Das Team um Avshalom Caspi und Terrie E. Moffitt vom King's College in London beobachtete, dass ungefähr ein Drittel aller Männer eine genetische Disposition haben, die Produktion des Enzyms "Monoaminoxidase A (MAOA)" besonders zu drosseln. Das Enzym ist im Signaltransfer des Hirnstoffwechsels dafür ursächlich, verschiedene Neurotransmitter wie Norepinephrin, Serotonin und Dopamin herunterzufahren. Die Botenstoffe bilden sich bei einer gestörten Enzymproduktion dieser Art stärker aus, sodass - wie bereits der Mäusetest gezeigt hat - Aggressionen steigen.

Da das MAOA-Gen auf dem X Chromosom liegt, sind Männer von diesem Effekt besonders betroffen, während bei Frauen das Gen mit der niedrigen Aktivitätsvariante durch die Hochaktivitätsvariante auf dem anderen X-Chromosom ausgeglichen werden kann. Bei Männern besteht also ein ungleich höheres Risiko, dass die Botenstoffe unzulänglich abgebaut werden, mit der Folge, dass die Widerstandskraft gegenüber traumatischen Kindheitserlebnissen geschwächt wird und die Aggressionsbereitschaft zunimmt.

Die statistischen Feststellungen in der untersuchten Gruppe stellen sich so dar: Von 442 Männer erlitten 154 in ihrer Kindheit körperliche und psychische Misshandlungen, einen häufigen Wechsel von Bezugspersonen oder eine Ablehnung durch die Mutter. Bei 55 Probanden dieser Gruppe waren die strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen aber doppelt so hoch wie in der Gruppe der übrigen 99 misshandelten Teilnehmern, die den Hochaktivitäts-Genotyp besitzen. Obwohl die kritische Gruppe nur 12% der Gesamtgruppe ausmacht, waren sie für 44% aller verübten Straftaten verantwortlich. Terrie Moffitt konstatierte mithin, dass von dieser Gruppe ca. vier Mal so viele Verbrechen - Vergewaltigung, Raub und tätliche Angriffe - verübt wurden. Zudem beobachteten die Forscher, dass je früher solche negativen Erfahrungen gemacht werden, desto wahrscheinlicher die spätere Delinquenz ist. Die Kombination von niedrigaktiven MAOA-Genotyp und gravierenden Missbrauchserlebnissen lässt antisoziale Verhaltensweisen mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen, fasste Moffitt das zentrale Ergebnis der Studie zusammen.

Die Studie gilt als nicht abgeschlossen, und mehr als Teilerklärungen, warum etwa Frauen seltener Gewalttaten als Männer verüben, sind nicht zu erwarten. Auch dürften noch mehr Gene menschliches Gewaltverhalten im Verein mit besonderen Umweltbedingungen prägen. Nach Greg Carey, einem Genetiker von der "University of Colorado", ist die Präsenz des männlichen Y-Chromosoms die deutlichste genetische Markierung für Gewalt. Auch die Frage, ob nun Therapien und Drogen eingesetzt werden sollten, um die Effekte der niedrigen MAOA-Aktivität zu konterkarieren, sollte nicht vorschnell beantwortet werden.

Dass nun der Bioethiker Stephen Post von der "Case Western University" allerdings vor gewaltvorbeugenden Medikamenten warnte, ist der übliche gesellschaftliche Automatismus, der bei allen Sorten von "happy pills" den freien Willen gefährdet sieht und wohl allein den Einwurf von Migränemitteln für zulässig erachtet. Immerhin könnte für Sozialarbeiter das Risiko späterer Aggressionen ihrer Lämmchen besser erkennbar sein, wenngleich der Zusammenhang zwischen frühkindlichen Misshandlungserfahrungen und zukünftiger Kriminalität den einschlägigen Berufsgruppen auch nicht gerade neu ist. Zudem wird man antisoziale, genetisch begünstigte Verhaltensweisen wiederum auf soziale Situationen zurückbeziehen müssen, die in besonderer Weise "kriminogen" sind.

Immerhin sollten Strafjustiz und Psychiatrie damit aber zukünftig tauglichere Erkenntnis erhalten, als sie Cesare Lombroso im 19. Jahrhundert präsentierte, der noch glaubte, typische Verbrecher an ihren zusammengewachsenen Augenbrauen erkennen zu können. Für Strafverteidiger erschließt sich jedenfalls hier ein neuer Argumentationsspielraum, die ohnehin schwammigen Gesetzeskonstruktionen zwischen Schuld, verminderter Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit noch weiter zu provozieren: "Unschuldig, Euer Ehren. Hier stehe ich und mein Krimino-Gen konnte nicht anders."