Die neue Physik des Gruppenzwangs

Wähler als Eisenpartikel -Kann man das Wahlverhalten mit den Wirkungen des Magnetismus erklären?

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Immer wieder haben die Naturwissenschaften versucht, mit ihren klaren und eindeutigen Theorien auch das komplexe Wesen des Menschen zu erklären. Die so genannte Soziophysik (Englisch: sociophysics) versucht jetzt auch das Wahlverhalten mittels der Wirkungen des Magnetismus zu erklären.

Massachusetts Institute of Technology

Während die Meinungsforscher in Deutschland nach dem Kanzlerkandidaten-Duell gleich wieder jede Menge repräsentativer Umfragen veröffentlichen und jede Verschiebung von Prozentpunkten ausführlich von Experten diskutiert wird, wagen die Physiker mal wieder einen Vorstoß in die Soziologie. Sie erklären der staunenden Sozialwissenschaft, was die bisher ein Drittel Unentschlossener letztlich dazu bringen wird, ihr Kreuz am 22. September der ein oder anderen Partei zu verpassen. Soziologen kämen nie auf die Idee, mit ihren Ansätzen das Verhalten von Atomen beschreiben zu wollen, aber für Naturwissenschaftler ist offensichtlich die prinzipiell universelle Gültigkeit ihrer Erklärungsmuster selbstverständlich.

Das Problem solcher Differenzierungen hatten die Wissenschaftler vergangener Jahrhunderte nicht, sie arbeiteten sowieso interdisziplinär. Der Gelehrte Adolphe Quetelet lebte von 1796 bis 1874, studierte Mathematik und Astronomie, um dann die "soziale Physik" zu entwickeln. Er ging von statistischen Erhebungen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen aus, um den Menschen, seine Eigenschaften, Aktivitäten und Neigungen zu beschreiben. Er gilt als Begründer der Sozialstatistik und ungeheurer Popularität erfreut sich immer noch der von ihm entworfene "Quetelet index", neudeutsch "Body Mass Index" (BMI genannt, mit dem man sein Übergewicht bestimmen kann. Quetelet versuchte sich dem "homme moyen" zu nähern, dem durchschnittlichen Menschen, sozusagen Otto Normalverbraucher mit genormtem Verhalten.

Die naturwissenschaftlichen, quantitativen Methoden wurden eine Grundlage der Soziologie. Statistik und der Versuch der Berechnung menschlichen Verhaltens sind selbstverständlicher Teil dieser Wissenschaft. Die Physik sah sich aber weiterhin berufen, ihre Gesetzmäßigkeiten immer wieder an das Gruppenverhalten von Menschen anzulegen. Nicht zuletzt ist dabei das Wählen eine spannende Sache. Ein Heer von Meinungsforschern bemüht sich redlich, da möchten die Physiker nicht abseits stehen, sondern mit quantitativer Modellierung und Computersimulationen zur Erkenntnis über soziale Systeme beitragen.

Die neue Physik des Gruppenzwangs erhielt 2000 gewaltigen Aufschwung, als das Ehepaar Josef Sznajd und Katarzyna Sznajd-Weron von der Polish Academy of Sciences das "Sznajd-Modell" vorstellten. Die beiden bezogen sich dabei auf das Ising-Modell, mit dem magnetische Eigenschaften von Stoffen gezeigt werden können. Das Modell geht davon aus, dass die Nachbarteilchen in einer Gitterstruktur direkt energetisch Einfluss nehmen und damit die Eigenschaft der ganzen Gruppe verändern können. Das Material wird magnetisch oder nicht. Überträgt man das Modell des Magneten auf das Wahlverhalten des Menschen kommt man zum Gruppenzwang.

Ausgangsituation sind eine Reihe Personen, die sich entweder für Partei oder Partei B entscheiden können. Jeder hat eine spontane Entscheidung getroffen, bevor er in Interaktion mit seinen Nachbarn tritt. Wenn beide Nachbarn Partei A bevorzugen, wird die Person in der Mitte auch zu dieser Partei umschwenken, wenn das nicht sowieso schon ihrer Überzeugung entsprach. Gilt dito natürlich auch für Partei B. Das Ganze kann entsprechend in Computersimulationen berechnet werden und erwies sich als erstaunlich schlüssig - wenn auch sehr eindimensional. Also machten sich weitere Physiker daran, der Sache etwas mehr realistische Tiefenstruktur zu verleihen.

Dietrich Stauffer von der Universität Köln hat das Sznajd-Modell erforscht und erweitert. Er erlaubt zweidimensionale Gitterstrukturen, dann rechteckige und kubische bis hin zu Mustern sozialer Netzwerke. (Vgl. Monte Carlo simulations of Sznajd models in JASSS) Die Ergebnisse seines Teams bestätigen, dass Wähler vor allem von ihren direkten Nachbarn, Verwandten, Freunden und Kollegen in ihrem Wahlverhalten beeinflusst werden. Auch Meinungsforschung beeinflusst das Wahlvolk. In Simulationen hat Stauffer fest gestellt, dass wer bei Halbzeit-Umfragen an zweiter Stelle liegt, bei der Wahl schlechte Chancen hat. In 92% der Fälle wird er letztlich Dritter. "Erster oder Dritter zu sein ist gut", erklärte Stauffer gegenüber dem Newscientist, "der zweite Platz ist gefährlich."

Nicht gerade eine echte Neuigkeit, denn die von ihren Feinden wenig liebevoll "Kanzler-Glucke" genannte Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann hat über Wahlen und Gruppenzwang schon vor zwanzig Jahren mit ihrer umstrittenen Schweigespirale geschrieben und die Medienwirkung miteinbezogen. Aber inzwischen hat eben die Physik den Gruppenzwang und das Individuum entdeckt. Bliebt abzuwarten, ob die Wähler wie die Eisenpartikel an den Positionen ihrer Nachbarn hängen bleiben oder ob sie vielleicht nicht doch etwas vielschichtiger verschiedene Meinungen hören, abwägen und dann ihren eigenen Interessen gemäß abstimmen.