Heute vor sieben Jahren wurde die Ignoranz im Usenet in eine behördliche Formel gefasst

Was ist eine Merkbefreiung? - Solange Du keine bekommst, brauchst Du es nicht zu wissen. Danach ist es zu spät.

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Am 28. August 1995 postete Kristian Koehntopp zum ersten Mal den amtlichen Vordruck zur Merkbefreiung. Das Formular breitete sich von de.talk.bizarre über das gesamte deutschsprachige Usenet aus und wurde - neben der Bielefeld-Verschwörung - Teil der Folklore (vgl. Tobias Nüssel) in de.alt.folklore.usenet).

Ob die Bielefeld-Verschwörung jedoch wirklich existiert bleibt so umstritten wie die Herkunft der Merkbefreiung. Bezeichnend ist, dass angebliche Bielefelder Studenten die Internet-Nutzer auf der Suche nach dem Bundesamt für Merkbefreiung bewusst in die Irre führen - wie Andreas Ferber im Offiziellen detebe ZwischenNetzPräsenzVerzeichnis.

Da sowohl die Merkbefreiung als auch die These, dass Bielefeld nicht existiere, aus Kiel (dem Mekka der Merkbefreiung laut Hermann Busch) stammen, gehen Historiker angesichts der Quellenlage davon aus, dass der wichtigste Teil der deutschen Usenet-Folklore dem Konflikt zwischen der RFC 822 und dem proprietären Datenformat des Z-Netzes zu verdanken ist. Sowohl Kristian Koehntopp als auch Achim Held, der die Bielefeld-Verschwörung entdeckte, waren Mitglieder des Hohen Rathes der Dreizehn Weisen vom Feed in de.talk.bizarre. Held hat aber nie behauptet, dass es Bielefeld nicht gebe, sondern, wie Hauke Moeller schon 1996 richtig bemerkte, nur ernste Zweifel angemeldet.

Die These wurde ihm später von den Medien untergeschoben.. Sowohl die Merkbefreiung als auch die Bielefeld-Verschwörung stammen daher, wie historische Funde belegen, aus einer Clique Kieler Fans von Rollenspielen.

Wie viele Menschen bisher merkbefreit wurde, kann nur in mühsamer Handarbeit der Archivare des Usenet eruiert werden. Vorhandene Listen sind unvollständig. Die einzig echte Merkbefreiung hat jedoch hat ältere Wurzeln als das Original-Formular Koehntopps suggeriert. Der erste Merkbefreite war ein Unteroffizier der Bundeswehr.

Das ursprüngliche digitale Formular stammt nicht aus de.talk.bizarre, sondern aus dem Kiel-Netz (heute die newsgroup kiel/dfue, vgl. Geile Schweine fuer heisse Strandspiele?), als dessen Moderator Koehntopp damals amtierte. Leider ist das Original der Merkbefreiung, damals noch korrekt als "Merkbefreiungsschein" bezeichnet, verloren gegangen, da nicht alle Postings der GABELN archiviert wurden. Sie muss vor dem 1. März 1995 entstanden sein.

Was die Merkbefreiung im Einzelfall bedeutet und wie sie im Detail auszusehen hat, ist umstritten. Gerd Bogler geht davon aus, dass der Betreffende "gar nichts" oder - so Thomas Lahn - "nichts mehr" merkt. Thomas G. Liesner formuliert einprägsamer: "Eine sehr bandbreitenverschwendende Ausdrucksweise für "Du bist so bescheuert, dass es dir nicht mal mehr selber auffällt". Frank Kuenzel vergleicht die Merkbefreiung sinnig mit einem "Gratis-Tattoo". Oft, und das erscheint ein wenig unfair, führt schon die bloße Frage, was eine Merkbefeiung sei, zu einer solchen.

Dieses Schicksal erleiden auch Kandidaten, die fragen, ob eine Merkbefreiung weh tut, was eine Doppelpackung zu bedeuten habe oder die sich nach Zwiebeltüten erkundigen. Ansgar Kursave weist in diesem Zusammenhang auf den interessanten Titel goldener Vollquottel des Monats hin, der oft in Zusammenhang mit Merkbefreiungen zu verleihen ist. Stefan Wenzel ,der sich detailliert mit dem Troll- und Elchwesen beschäftigt, schlug 1997 eine Merkbefreiung 1. Klasse vor. Diese Unterteilung hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Praktikabel ist eine Merkbefreiung ohne amtliches Formular.

Selten jedoch tauchen Merkbefreiungen auf, die den Anschein erwecken, als habe der Kandidat das Formular selbst ausgefüllt. Die Wissenschaft akzeptiert heute weitgehend die klassische Definition Koehntopps, was eine Merkbefreiung sei: "Solange Du keine bekommst, brauchst Du es nicht zu wissen. Danach ist es zu spät."

Die durch eine Merkbefreiung amtlich festgestellte Verhaltensweise tritt, das legt die Quellenlage nahe, weniger in den Newsgroups de.alt.arnoo, de.alt.gruppenkasper, de.alt.dummschwatz oder de.talk.bizarre auf, deren Themen das erwarten lassen, sondern häufig in Foren mit per definitionem seriösen Inhalten. Einer der Rekordhalter für Merkbefreiungen war der verstorbene Helmut Goj, ehemals stellvertretender Landesvorsitzender NRW des "Bundes freier Bürger". Nach Goj wurde die Newsgroup z-netz.alt.fan.helmut_goj benannt. Einschlägige FAQs wie die GOJology-FAQ oder die FAQ de.alt gruppenkasper definieren Charakteristika, die für das Formular prädestinieren.

Derzeitiger Rekordhalter im deutschsprachigen Usenet dürfte Günter Lelarge sein, dessen zahlreiche Merkbefreiungen oft unbefristet ausgesprochen wurden und der als Meister der Merkbefreiung tituliert wird. Lelarges legendäre Postings vor allem in de.sci.geschichte wurden schon 1997 in einer Software zusammengefasst (gl.exe) und gelten als Beispiel für typisches Trollverhalten. Lelarge gehört mittlerweile so zum Inventar des Usenet wie die Merkbefreiung selbst, so dass niemand mehr auf die Idee kommen würde, eine Zwangseinweisung nach de.alt.gruppenkasper durch den zuständigen Netzverwalter vorzuschlagen. Diese Newsgroup besteht ausschließlich aus Pflegern und Patienten und kuriert Trulliertheit vornehmlich mit den in aktuellen Vordrucken des Merkbefreiungsscheins erwähnten Froschpillen.

Die Geschichte des Usenet dokumentiert sich in den Zusätzen, die seit 1993 das Formular erweitert haben. Der Index für Merkbefreiungen wurde erst in jüngerer Zeit durch das Äquivalent "5 AOL-CDs" erweitert; eine frühe Version aus dem letzten Jahr spricht noch von einer abgebrochenen AOL-CD. Erst im Juli 2001 wurde Bielefeld in das amtliche Formular der Merkbefreiung aufgenommen - von Huerbine von Pleuselspink. Spezielle Elch-Vorschriften, die Tischkanten vor dem Verbiss schützen sollen, werden in neueren Fassungen erwähnt, harren aber noch der Spezifizierung. Die Harald Blahovec'sche Erweiterung, die Zeitdauer der Merkbefreiung "bis zur Zerstörung Redmonds durch den Einsatz thermonuklearer Waffen und/oder Meteoriteneinschlag und/oder die zur Super-Nova werdenden Sonne" zu modifizieren, fand in der Usenet-Gemeinde keinen Anklang.

Bisher ist der Begriff "Merkbefreiung" noch nicht in die ausländischen Newsgroups vorgedrungen. Das liegt vermutlich am Nominalstil amtlicher deutscher Formulierungen, der kaum in andere Sprachen übersetzbar ist Es bedurfte eines genialen Denkers wie Wau Holland (R.I.P.), dem es als Einzigem gelang, "Merkbefreiung" ins Englische zu übertragen. Holland schlug MNEMO isolation vor.

Falls dieser Begriff sich durchsetzt, wird die deutsche Merkbefreiung vermutlich schnell Teil der internationalen Internet-Folklore werden - wie etwa die Flamers Bible. Die Bielefeld-Verschwörung ist, obwohl auf Deutschland beschränkt, schon jetzt eine klassische urbane Legende.