Isolationszellen, Folterungen, politische Verhaftungen

Türkische Menschenrechtsorganisationen glauben nicht an eine Renaissance der Demokratie in ihrem Land

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"Europa wir kommen." Diese Schlagzeile des türkischen Massenblattes Milliyet vom 3.August klang fast wie das spätes Echo auf die Fußballweltmeisterschaft, die im Frühsommer die türkische Bevölkerung in eine Mischung aus Karneval und nationalen Taumel katapultierte. Was hier so metaphorisch gefeiert wurde, war die Verabschiedung eines Reformpaketes durch das türkische Parlament, dessen Konsequenzen auf die praktische Politik ungeachtet aller vollmundigen Erklärungen noch völlig offen sind.

Die Todesstrafe soll nur noch in Kriegszeiten vollstreckt, die Polizei stärker kontrolliert und der Einfluss des Militärs begrenzt werden. Auch die Freunde der kurdischen Sprache sollen künftig unter staatlicher Aufsicht die Möglichkeit haben, Lob auf die Größe der Türkei und des Staatsgründers Atatürk auf kurdisch zu formulieren. Staatskritische oder gar separatistische Propaganda werde dort keineswegs zugelassen. Pläne für einen staatlich kontrollierten kurdischen Sprachunterricht gab es schon unter der kurzen Präsidentschaft von Turgut Özal Mitte der 90er Jahre. "Gläserne Polizeiwachen" gehören zu den Wahlslogans der unterschiedlichsten Regierungen seit mindestens einem Jahrzehnt.

Die türkischen Menschenrechtsorganisationen sind denn auch skeptisch, ob die neuen Demokratieversprechen mehr als heiße Luft sind. Davon konnte sich eine Juristen- und Journalistendelegation überzeugen, die auf Initiative des Komitees gegen Isolationshaft mehrere Tage die Türkei besuchte. "Nur wenige Tage nach der Verabschiedung des Reformpakets wurden wir festgenommen, als wir gegen den Tod eines Mannes in Polizeigewahrsam protestierten", meinte eine Mitarbeiterin des Türkischen Menschenrechtsvereins IHD. Auch die Mitarbeiter der beiden linken türkischen Zeitungen Ekmek ve Adalet und Genclik haben von der viel beschworenen Renaissance der türkischen Demokratie bisher wenig mitbekommen. Nur wenige Tage nach der Verabschiedung der Reformen wurden ihre Redaktionsräume von der Polizei durchsucht und teilweise verwüstet. Computer und andere technischen Geräte wurden beschlagnahmt und die anwesenden Journalisten bis zu fünf Tagen in Polizeigewahrsam gehalten. Dabei kam es auch zu Folterungen. "Eigentlich war alles wie bisher" fasste eine Redaktionsmitarbeiterin ihre Erfahrungen zusammen.

Auch für türkische Juristen in der Türkei hat sich bisher nicht viel verändert. Die Vorsitzende des Fortschrittlichen Juristenverbandes aus Istanbul Several Demir würde zwar jede Reformbemühung begrüßen. Doch auch bei ihr überwiegt die Skepsis angesichts der jüngsten innenpolitischen Entwicklung am Bosporus. Sie erinnert auch daran, dass die Türkei von einem US-Angriff auf den Irak unmittelbar betroffen wäre. In Kriegszeiten aber würde selber die bisher beschlossene Abschaffung der Todesstrafe wieder rückgängig gemacht. Wenig Hoffnung können sich auch die politischen Gefangenen in der Türkei machen, die mit einem schon mehr als 22 Monate andauernden Hungerstreik gegen die Einführung der Isolationszellen protestieren. Erst kürzlich hat die neue türkische Justizministerin wieder bekräftigt, dass diese Zellen dem Standart der Europäischen Union entsprechen.

Wer dagegen protestiert, bekommt weiterhin die ganze Härte der türkischen Justiz zu spüren. So standen am 28.August 2002 neunzehn Menschen vor dem Staatssicherheitsgericht in Istanbul, elf von ihnen sind in Untersuchungshaft. Sie werden beschuldigt, die Forderungen der hungerstreikenden Gefangenen aktiv unterstützt zu haben. In der Anklageschrift wurde unter Anderem aufgeführt, dass sie Solidaritätstransparente aufgehängt und Parolen mit den Forderungen der Hungerstreikenden an die Häuserwände gemalt haben. Die Angeklagten kommen überwiegend aus dem linken Istanbuler Armenviertel Armutlu. Dort hatten auch Angehörige der hungerstreikenden Gefangenen an einem Solidaritätshungerstreik teilgenommen. Im November 2001 stürmte die türkische Polizei die Häuser, in denen sich die hungerstreikenden Frauen und Männer aufhielten. "Sie kamen mit einer militärischen Ausrüstung, als wollten sie ein Land erobern;" erklärten Augenzeugen. Vier Menschen, zwei Hungerstreikende und zwei Angehörige, wurden bei der Aktion getötet. Zahlreiche weitere wurden durch die Gaskatuschen und Geschosse der Polizei so schwer verletzt, dass sie irreparable gesundheitliche Schäden erlitten haben. Mehrere von ihnen gehören jetzt zu den Angeklagten des Mammutprozesses.

"Ich wurde in Armutlu durch eine Polizeikugel schwer verletzt und statt des verantwortlichen Polizisten stehe ich jetzt vor Gericht" erklärte ein sichtlich von den Verletzungen gezeichneter Mann in der Prozesserklärung." Fast alle anderen Angeklagten führten in ihren Erklärungen ähnliche Argumente für eine sofortige Einstellung des Verfahrens ins Feld. Dieser Forderung schlossen sich die an der Solidaritätsdelegation beteiligten Juristen aus Deutschland ausdrücklich an. "Der Charakter des Prozesses macht deutlich, dass hier eine politische Gesinnung und nicht eine konkrete Straftat geahndet werden soll"; meinte der Hamburger Rechtsanwalt Heinz-Jürgen Schneider. Doch der Richter entschied anders. Der Prozess wird auf den 20.November 2002 vertagt und die elf Inhaftierten bleiben bis dahin im Gefängnis