Kinder brauchen Gewaltdarstellungen

In einem Expertengutachten für ein Gericht versuchen zahlreiche Wissenschaftler zu belegen, dass es wissenschaftlich keine Beweise für einen Kausalzusammenhang zwischen Gewalt in den Medien und in der Wirklichkeit gibt

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Auch wenn das Pentagon zum Anwerben von Rekruten und überhaupt zur Propaganda seit kurzem ein ziemlich realistisches Kriegsspiel kostenlos für Kinder und Jugendliche anbietet, gibt es auch in den USA weiterhin die Diskussion darüber, inwiefern Killerspiele unerwünschte Gewalt im wirklichen Leben fördern. Unter der Annahme einer kausalen Beziehung zwischen Computerspielen mit Gewaltdarstellungen und der Ausübung wirklicher Gewalt hat der St. Louis County in Missouri eine Anordnung erlassen, dass Computerspiele nur mit ausdrücklicher Genehmigung von Erziehungsberechtigten an Minderjährige verkauft, verliehen oder übergeben werden dürfen.

screenshots aus dem vom Pentagon entwickelten Computerspiel "America's Army"

Gegen diese Anordnung haben die Interactive Digital Software Association und andere Organisationen Klage mit der Begründung eingereicht, dass ein derartiges Verbot die amerikanische Verfassung verletze, weil es die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst über Gebühr einschränke. Das Bezirksgericht hatte in seinem Urteil Mitte April diese Ansicht nicht geteilt (Killerspiele sind nichts für Minderjährige). Nach Ansicht des Gerichts gleichen Computerspiele wie Doom nicht Filmen, sondern Spielen wie Basketball und enthalten daher keine von der Verfassung geschützte "Rede". Überdies verbiete die Anordnung nicht die Herstellung von bestimmten Computerspielen, sondern regle nur, an wen sie gelangen dürfen. Die Anordnung stütze sich auf die allgemeine Überzeugung der Menschen und auf wissenschaftliche Belege, dass es einen Zusammengang zwischen Killerspielen und Gewaltneigung gebe.

Die Kläger sind nun vor ein höheres Gericht gezogen und haben für ihre Sache nun Unterstützung durch ein Expertengutachten erhalten, das von 33 Wissenschaftler von Universitäten wie dem MIT, der UCLA, der Columbia University oder der University London - vermutlich nicht ganz uneigennützig - verfertigt wurde. Ihr Gutachten soll dem Gericht zu einem besseren Verständnis der Medien helfen. Die Wissenschaftler äußern Besorgnis, dass wie in diesem Fall ein Gericht sich "auf zwar allgemein verbreitete, aber falsche Überzeugungen über einen bewiesene Kausalverbindung zwischen Gewalt in der Unterhaltung und gewalttätigem Verhalten stützt, um ein Zensurgesetz zu verteidigen". Die Beziehungen zwischen Unterhaltungsmedien und Verhalten seien komplex und vielschichtig, so dass kaum von einem einfachen Kausalverhältnis ausgegangen werden könne.

Die meisten Untersuchungen über Computerspiele hätten gezeigt, was die Wissenschaftler mit einem kritischen Streifzug durch die entsprechende Literatur zu belegen versuchen, dass es keine schädlichen Wirkungen gäbe. Und bei den Untersuchungen, die positive Ergebnisse berichteten, habe es sich nur um "kleine statistische Differenzen" gehandelt, wobei "zweifelhafte Stellvertreter" herangezogen wurden, um Aggression zu belegen. Ganz allgemein habe die Medienwirkungsforschung keine Beweise erbringen können, dass Gewaltdarstellungen auch nur ein Risikofaktor für wirkliches Gewaltverhalten sei. In Wirklichkeit aber sei beispielsweise im letzten Jahrzehnt, während Computerspiele mit Gewaltdarstellungen populär wurden, ein Rückgang der Gewalt bei Jugendlichen zu beobachten gewesen.

Der Tenor des Gutachtens läuft darauf hinaus, dass seit dem Aufkommen des Kinos eine Art Voreingenommenheit gegenüber den Folgen des Medienkonsums bestanden habe, die sich auch wissenschaftlich und in der Wissenschaftsförderung niedergeschlagen haben. Zitiert wird zustimmend der Psychologe Guy Cumberbatch, der sagte, die Gewalt in den Medien sei Opfer einer "Lynchmob-Mentalität" geworden, da es fast keinen Hinweis gab, um deren Schuld zu beweisen. Die statistischen Daten seien mit "Folterinstrumenten" behandelt worden, "bis sie etwas gestanden haben, das eine Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Publikation gerechtfertigt hat".

Die Wissenschaftler unterziehen einige bekannte Untersuchungen einer kritischen Überprüfung und kommen eben zu dem Ergebnis, dass die meisten nicht die Kausalhypothese unterstützen oder, zugespitzt ausgedrückt, ein wenig manipuliert wurden. Das Gericht weisen sie darauf hin, dass mit statistischen Ergebnissen im positiven Fall nicht ein Kausalzusammenhang bewiesen werden könne, sondern nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs. Aggression oder Gewalt seien Begriffe, die jeweils unterschiedlich verwendet würden, so dass Verallgemeinerungen kaum zulässig seien. Zudem sei nicht jede Form der Aggression sozial verpönt, vor allem aber könne man aggressive Haltungen nicht umstandslos mit aggressivem Verhalten gleichsetzen. Auch reagieren unterschiedliche Menschen auf verschiedene Weise, abhängig auch von Umständen, auf gleiche Medienangebote. Die Kausalhypothese sei, kurz gesagt, zu einfach gestrickt.

Doch die Wissenschaftler weisen nicht nur zurück, dass es einen wissenschaftlich bewiesenen Kausalzusammenhang zwischen Mediendarstellungen und Gewalt gibt, sie machen sich gewissermaßen gegen die Imitationsanhänger für die Katharsis-Hypothese stark. Schon lange sei Experten für Kinder und Jugendlichen klar, welche Bedeutung Gewaltfantasien spielen, um Angst zu bewältigen, Ärger zu verarbeiten, mit Ohnmacht klar zu kommen, Aggression abzuführen oder zu erkunden, was in der Wirklichkeit unmöglich, gefährlich oder verboten ist. Dazu wird natürlich auch Bruno Bettelheim herbeigerufen, der bekanntlich sagte, dass Gewaltdarstellungen beispielsweise in Märchen für Kinder wichtig seien, weil sie "eine sichere Möglichkeit für die Fantasie bieten, Macht in einer Welt zu haben, die ansonsten darauf ausgerichtet zu sein scheint, sie zu zermalmen".

Angeblich würden nämlich gerade die friedlichsten Kinder mit dem größten Mitleid und Gewissen am stärksten von Gewaltdarstellungen fasziniert, auch wenn sie weiterhin gegen jede Gewalt sind. Die Übertreibungen in den Spielen würden dabei ebenso erkannt, wie selbst jungen Kindern der Unterschied zwischen Spiel und Wirklichkeit stets bewusst bleibe.

"Zensurgesetze" wie die Anordnung des County seien aufgrund fehlender wissenschaftlicher Beweise daher nicht nur unnötig, sondern womöglich sogar kontraproduktiv. Überdies würden sie von den wirklichen Ursachen von Gewalt ablenken. Doch nachdem diese Auseinandersetzung nicht erst seit 100 Jahren mit dem Aufkommen des Kinos, sondern mindestens schon seit 2000 Jahren stattfindet, ist, unabhängig vom Ausgang des Prozesses, gewiss nicht mit einer baldigen Lösung des Problems zu rechnen, welche Folgen Medien haben können ...

Um Computerspiele und Gewalt geht es übrigens auch im neuesten Telepolis-Buch: Virtuelle Welten - reale Gewalt.