Ups....falscher Planet!

Immer mehr Menschen bewegen sich im autistischen Spektrum, Forscher sprechen von einer Epidemie

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Eine Studie, die vom M.I.N.D. Institute der University of California in Auftrag gegeben, unter der Leitung von Dr. Robert Byrd durchgeführt, und in vielen großen US-amerikanischen Tageszeitungen referiert wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass die drastische Zunahme von autistischen Symptomen nicht - wie gehofft -mit erweiterten diagnostischen Kriterien, verbesserten Diagnosemöglichkeiten oder statistischen Anomalien zusammenhängt.

Plötzlich ist überall von einer Epidemie die Rede. "Es ist eine dramatische Epidemie und sie verbreitet sich weltweit", so Bernard Rimland, Gründer des Autism Research Institute in San Diego und weiland psychologischer Berater bei den Dreharbeiten zu "Rain Man".

Autismus, auch "Oooops...wrong planet!"- Syndrom genannt, ist eine Folge von Entwicklungsstörungen des Stammhirns, die bereits sehr früh im Mutterleib beginnen. Asperger Syndrom nennt man eine leichte Form des Autismus, die meist mit guter Sprachbegabung, überdurchschnittlicher Intelligenz und obsessiv betriebenen - häufig technischen - Interessen verbunden ist. (Es gibt online einen ganz guten Test)

Der Wiener Kinderarzt Hans Asperger, dem die Entdeckung des nach ihm benannten Syndroms zugeschrieben wird, notierte 1944, dass einer seiner kleinen Patienten sich "fantastische Erfindungen wie Raumschiffe" ausdenke und fügte hinzu: "Man sieht, wie realitätsfremd die autistischen Interessen sind." Als ihm Jahre später die ersten Raumschiffe zu Ohren kamen, beliebte er zu scherzen, sie seien wohl von Autisten erdacht (vgl. Die Geek-Autismus-Connection).

Für die Zeitspanne von 1987 bis 1998 hat das California Department of Developmental Services nun ein Anwachsen von 273 Prozent registriert, täglich kommen in Kalifornien etwa neun Fälle hinzu. Zum Vergleich: Epilepsieerkrankungen nahmen, konsistent zum Bevölkerungszuwachs, nur um 30 bis 40 Prozent zu. Dass vor allem Kalifornien so alarmierende Zahlen hat, liegt nach Expertenmeinung daran, dass es hier genauere Datenerhebungen gibt. Vielleicht spielt aber auch der Genpool der Technikfreaks des Silicon Valley eine Rolle? Explodierende Autismus-Zahlen sind ebenso in der Umgebung von Boston (Route 128) gesammelt worden.

Die DNS-Scripts für Autismus werden auch von Eltern weitergegeben, die nur einige der Symptome aufweisen. Oft werden Eltern erst diagnostiziert, nachdem ihre Kinder diagnostiziert wurden. Die Panik, die sich jetzt ausbreitet, ist die, dass als eine Folge des essortative mating in Geek-Enklaven Eltern, die ein leichtes Asperger Syndrom haben, bald hordenweise autistische Kinder zur Welt bringen, die ohne therapeutische Hilfe nicht zurechtkommen.

Laut einer Studie, die das International Molecular Genetic Study of Autism Consortium im September letzten Jahres in der Zeitschrift American Journal of Human Genetics veröffentlichte, gibt es Gene auf den Chromosomen 2, 7,16 und 17, die Autismus begünstigen, wobei Erbanlagen auf Chromosom 2 die größte Bedeutung zu haben scheinen.

Gene allein lösen laut Robert Byrd vom M.I.N.D. Institute keine Epidemie aus. So werden alle möglichen Medikamente verdächtigt, welche Kleinkindern verabreicht werden, Vermutungen für die es keinerlei Beweise gibt.

"Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" für Autisten

Autisten fehlt die Theory of Mind, wie Psychologen es nennen, die Fähigkeit, Gefühle und Gedanken anderer zu erkennen. Während beim Autismus im Sinne Aspergers die Probleme der Wahrnehmungsverarbeitung im Vordergrund stehen und weniger Probleme des Denkens und der geistig-intellektuellen Funktionen, kommen bei der aus Rain Man bekannten autistischen Störung, wie sie Leo Kanner beschrieben hat, schwerwiegende kognitive Funktionsbeeinträchtigungen hinzu, die Übergänge zwischen beiden fließen. Gesichtsausdruck und Mienenspiel auf ihren emotionalen Inhalt hin zu entschlüsseln, beispielsweise, wenn entsprechende Fotografien vorgelegt werden, ist für jemanden, der sich im autistischen Spektrum bewegt, eine schwierige bis unlösbare Aufgabe.

Es gibt Schätzungen, wonach 93 Prozent aller Kommunikation nonverbal abläuft. Jemand mit Autismus könnte diese Information vielleicht so interpretieren, dass nur sieben von hundert gesprochenen Wörtern wirklich Sinn machen. Die Auslegung, dass die meist unbewusst eingesetzte und schwer zu entschlüsselnde Körpersprache bis zu dreizehnmal informationsreicher sein kann als das gesprochene oder geschriebene Wort, widerspricht seiner Weltauffassung komplett.

Dr. Ami Klin von der Yale University hat gerade einen Report veröffentlicht, der unsere Einsicht noch differenziert: Offensichtlich konzentrieren sich autistisch veranlagte Menschen beim Beobachten von sozialen Situationen wesentlich mehr auf Mund und Körper als auf die Augen.

Fünfzehn Teilnehmer sahen sich den ob seiner emotionalen Intensität ausgewählten Film "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" an, wobei die Forscher mit Blickbewegungsmessung (Eye-tracking) die Zeitspannen festhielten, in denen sich die Augen auf Mund, Augen, Körper und Objekte richteten.

Je höher die soziale Kompetenz der Teilnehmer (die alle einen normalen IQ hatten), desto länger fokussierten sie die Münder der Protagonisten. Unter normalen Bedingungen aber gilt umgekehrt: Wer sich länger auf die Augen konzentriert, ist sozial geschickter. Das scheint darauf hinzuweisen, dass Menschen mit Autismus nicht nur sehr viel weniger auf Augen blicken als bisher angenommen, sondern auch, dass sie dort tatsächlich keinerlei Information vorfinden. Der starke Fokus auf den Mund mag ein Weg sein zu kompensieren, dass man die nonverbalen Infos, die Sprache der Augen vernachlässigen muss.

Mit dieser Studie gibt es laut Klin erstmals ein experimentelles Messverfahren, um in einem gewissen Maße soziale Kompetenz vorherzusagen und, mindestens genau so wichtig, eine Möglichkeit zur frühen Detektion von Autismus bei Kleinkindern.

Rehabilitierung durch Software?

Programmierer und Computerwissenschaftler wissen, dass es viel schwerer ist, einem Computer bestimmte einfache Handlungen beizubringen als einem Kind. Ein autistisches Kind sei hierbei, so der russische Forscher Boris Galitsky, einem Computer vergleichbar. Aus alltäglicher Perspektive sei es sehr schwer, ihm etwas scheinbar grundlegendes klar zu machen. Die Lösung: Eine neue Technologie (was sonst), welche autistische Kinder dergestalt "programmiert", dass sie verstehen können wie andere Menschen denken. Der These zufolge gibt es eine Anzahl von Standard-Axiomen für mentale Attribute, die genetisch angelegt sind, bei autistischen Kindern jedoch auf ganz eigene Weise. Die wichtigsten Begriffe sind demnach Intention (subsumiert Ziele und Wünsche), Wissen und Glaube. Dass im (weniger stark ausgeprägten) autistischen Spektrum eine ausgeprägte Vorliebe für Logik und logische Formeln herrscht, habe man sich zunutze gemacht: Die neue Methode, Computational Autism genannt, hat Galitsky erstmals im Juni auf der International Conference on Development and Learning in Cambridge vorgestellt.

Peter wird informiert, dass Nina etwas weiß. Galitsky drückt das folgendermaßen aus: "weiß (Nina, etwas)" Diese logischen Einheiten werden dann in zusammengesetzte Formeln eingebaut, um innerhalb der Formeln auf komplexere Ausdrücke wie "informieren", "täuschen", "erklären" und "vergeben" zu kommen. In dieser Technik werden bestimmte Regeln mit verschiedenen Variablen in einem Axiomensystem immer wieder durchgespielt.

Autistische Kinder können beispielsweise nicht lügen, etwas behaupten, das nicht ganz richtig ist, sie können nicht so tun als ob. Wenn sie jedoch Regeln, nicht unähnlich denen, welche einem Chatbot einprogrammiert werden, zur Hand haben, die sie nach Bedarf generalisieren, können sie so interagieren, als würden sie ihr Gegenüber täuschen. Genau genommen tun sie dann so, als ob sie ihr Gegenüber täuschen würden.