Der Mediencoup im Theater

Bei der Geiselnahme im Theater spielten Medien eine neue Rolle; der Terrorakt muss aber auch als Grund für ein scharfes Zensurgesetz und bei den Terroristen für die Ankündigung einer veränderten Strategie dienen

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Die Besetzung des Moskauer Theaters und die Geiselnahme von 800 Menschen war auch ein Ereignis, das für die Medien, deren quotenträchtige Höhepunkte in der Live-Berichterstattung über spektakuläre Katastrophen liegen, Neuland war. Die russische Regierung, ganz traditionell der Medienfreiheit nicht sehr zugetan, nutzte das schreckliche Ereignis, um schnell ein neues Mediengesetz zu verabschieden. Eine kritische Auseinandersetzung beispielsweise über die Folgen der russischen Besatzung Tschetschenien wird damit nicht mehr stattfinden können.

Terroranschläge sind Medieninszenierungen, die als "Propaganda der Tat" öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen suchen. Je spektakulärer, größer, bedrohlicher sie ausfallen, desto eher werden sie zu einem globalen Ereignis (Das terroristische Wettrüsten). Den Auftakt bildeten dazu sicherlich die Anschläge vom 11.9. , die mitsamt der Gegenreaktion eine aufgeladene Atmosphäre schufen, durch die sich Nachahmungsanschläge häufen und die Medien noch sensibler als kollektive Aufmerksamkeitsorgane auf die für sie zugeschnittenen Spektakel reagieren (Bomben und Explosionen sind medienästhetisch kaum zu überbieten).

Das Spiel mit den Medien

Die tschetschenischen Terroristen/Rebellen sollen, wie der für Medien zuständige russische Minister Michail Lesin in einem Zeitungsinterview unterstellte, für ihre Aktion auch einen Medienplan ausgearbeitet haben. Wie durchdacht dieser gewesen ist, lässt sich mangels Informationen nicht sagen. Anders als bei den 1995 und 1996 ausgeführten Massengeiselnahmen fand diese mitten in Moskau statt, was auch eine prompte internationale Medienberichterstattung garantierte. Vielleicht ging man auch davon aus, dass Ausländer im Publikum sein würden. Mit der sofort einsetzenden Beobachtung der Vorgehensweise der russischen Regierung durch ausländische Medien war gewährleistet, dass diese überlegter handeln und auf keinen Fall ein schnelles Massaker riskieren würde.

Vielleicht ist bereits die Wahl eines Theaters - die früheren Massengeiselnahmen fanden in einem Krankenhaus und einem Dorf statt -, könnte für eine Medienplan sprechen. Schließlich ist das Theater bereits selbst ein Medium, zudem trifft es hier Menschen, die wie in Bali oder Tunesien in ihrer Freizeit oder im Urlaub zu zufälligen Opfern eines Anaschlags werden. Auch dass bereits ein fernsehgerechtes Video vorbereitet wurde, auf dem der Rebellenanführer Mowsar Barajew die Motive und Ziele der Aktion darlegte und die Frauen ihre Todesbereitschaft demonstrierten, bestätigt das Vorhandensein einer medialen Strategie. Da die russischen Mediengesetze auch vor dem Anschlag schon streng waren, konnten die Geiselnehmer damit rechnen, dass ihre Begründungen und Forderungen über die russischen Medien nicht verbreitet würden und damit auch nicht an die Weltöffentlichkeit gelangen würden. Das Video dem Sender al-Dschasira zu schicken, war eine Garantie dafür, dass die russische Regierung die Information nicht unterdrücken konnte, mit der die Geiselnehmer wohl nicht nur ihre Entschlossenheit demonstrieren, sondern auch Verständnis für ihre Aktion erzeugen wollten und auf den Druck setzten, den die Weltöffentlichkeit auf die russische Regierung für eine nicht gewaltsame Lösung ausüben könnte.

Rätselhaft ist noch immer, ob die Geiselnehmer wegen des Gasangriffs oder aus anderen, von ihnen unvorhergesehenen oder schlicht zufälligen Gründen den Sprengstoff nicht gezündet haben oder ob sie eigentlich damit gerechnet hatten, das Theater und sich selbst gar nicht in die Luft jagen zu müssen, weil über die Medienberichterstattung und die Kommunikation der Geiseln nach Außen der Druck auf die russische Regierung zu stark sein würde. Die Rebellen entließen nicht nur Geiseln, sondern ließen auch Politiker, Ärzte und Fernsehteams ins Theater. Möglicherweise hätte dann auch der gewählte tschetschenische Präsident Aslan Maschadow, der nach der erneuten Invasion des Landes durch Putin in den Untergrund flüchtete, seine Vermittlung zur Lösung angeboten. Ob er tatsächlich, wie die russische Regierung behauptet, hinter der Geiselnahme stand oder nur zur Vermittlung von den Geiselnehmern aus dem Theater, wie abgehörte Gespräche zeigen, angerufen wurde, dürfte kaum bekannt werden.

Putin wünscht ganz offensichtlich - darin der Strategie von Scharon vergleichbar - keine Verhandlungspartner, setzt auf die militärische Strategie, mit der er auch an die Macht gekommen ist, und nutzt die Chance, die tschetschenische Exilregierung als Terroristen zu bezeichnen. Kreml-Sprecher Sergei Jastrschembski machte die Haltung der russischen Regierung deutlich, als er sagte: "Maschadow kann nicht länger als legitimer Repräsentant des Widerstands betrachtet werden. Wir müssen die Kommandanten der Bewegung auslöschen. Es gibt niemandem aus dem tschetschenischen Untergrund, mit dem wir bereit wären zu sprechen." Die Verhaftung des tschetschenischen Vizepräsident Achmed Sakajew in Dänemark auf Antrag der russischen Behörden ist eine Folge dieses Vorgehens. Sakajew befand sich in Kopenhagen wegen einer Konferenz, die friedliche Lösungen des Tschetschenienkonflikts diskutieren wollte.

"The goal of the operation was an attempt to stop the war, to stop genocide of the Chechen people and in case of a failure to demonstrate to the whole world that the Russian leadership without hesitation and regret is capable of annihilating its own citizens in the center of Moscow in the most brutal way; to force all Russian nationalists to feel through their own experience (on their own skin) all the niceties of the war unleashed by Russia and force it back to where it belongs (where is has come from).

Although, unfortunately, we did not achieve our main goal - cessation of the war and stopping of genocide of the Chechen people, we have achieve realization of the majority of the goals pursued by us, Insha Allah, and we thank God for the help and grace which he has bestowed on us . There were up to forty shaheeds involved in this operation who have sacrificed their lives for the sake of Faith, Honor, Freedom and independence of our Motherland. They have been rewarded by Allah and may Allah give us all the strength, courage, piousness to follow to the end in this path straight and with dignity. We admire their faith, courage, determination and May Allah let us also finish our life path with dignity in the path of Allah and in the name of Allah. Allah Akbar!" - Schamil Basajew

Inzwischen hat der Rebellen- oder Terroristenführer Schamil Basajew behauptet, für die Planung und Durchführung der Geiselnahme verantwortlich zu sein. Maschadow hätte damit nichts zu tun. Basajew will sich angeblich von seinem "Posten" als Kommandeur zurückziehen, aber er werde weiter für die Märtyrereinheit "Riyadus-Salihin" arbeiten, die die Geiselnahme unter der LOsung "Sieg oder das Paradies" ausgeführt hat. Für die nächsten Anschläge gab er bekannt, dass diese weniger auf die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit aus sein werden, sondern vor allem daraus, "dem Feind den größtmöglichen Schaden" zuzufügen. Es würden keine Forderungen mehr gestellt und keine Geiseln gemacht. Das heißt, es wird nach dem Scheitern der Aktion auf eine andere Art der Aufmerksamkeitserzeugung gesetzt, die sich vermutlich eher in die Reihe der Anschläge vom 11.9 bis Bali einfügen dürfte.