Sind Internet- und Multimedia-Dienstleister anders?

Entwicklungstrends von Branche und Berufen

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Zwischen 1995 und 2000 fand die explosionsartige Entwicklung der Internet- und Multimediadienstleister in einer Art neuer Jugendbewegung statt. Die New Economy der neuen Generation trug auch zu einer Entgrenzung des geregelten Karriereweges. Doch dann fiel fast ebenso schnell wie entstanden die Branche wieder in sich zusammen. Die einst blühende Internetblume ist verwelkt oder hat sich mit der traditionellen Medien- oder Werbebranche verschmolzen. Heute "normalisiert" sich die Branche mit allen Merkmalen eines Sektors der "Old-Economy": Kapitalverknappung, Kapitalaufnahme über Fremdverschuldung, arbeitsteilige Aufgabenstellungen, die Einführung von Ausbildungsberufen, Arbeitnehmervertretung durch Betriebsräte, Einsatz von Controllern, mehr oder weniger geregelte Arbeitszeiten, Lohnzahlungen auf normalem Niveau ohne exotische Optionsschein-Bonuspakete.

Rückblick: 1995- 2000 EXPANSION/EXPLOSION

Der eigentliche Durchbruch des Internets begann 1993 mit dem Erscheinen des ersten attraktiven und auf grafischen Benutzeroberflächen laufenden WWW-Browsers Mosaic, entwickelt von einem gewissen Marc Andreessen vom NCSA, dem National Center for Supercomputing Applications.

Ende 1993, nachdem "The Guardian" oder die "New York Times" von dem aufstrebenden Projekt berichtet hatten, wurde erstmals die breitere Öffentlichkeit auf das Web aufmerksam. Besonders die "Jugendszene" sprach auf das neue Medium an und sorgte für eine Aufmerksamkeit und Begeisterung, die sich wohl nur aus einer Mischung von Zufall und "Reife der Zeit" erklären lässt. Jedenfalls erlebte die Welt beim WWW seit 1994 eine Ausbreitungsgeschwindigkeit, die in der Mediengeschichte keinen Vergleich kennt.

Marc Andreessen, durch den plötzlichen Boom ins Zentrum der Ereignisse gerückt, stieg beim NCSA aus und gründete eine eigene Firma, um seine Browser-Software weiterzuentwickeln - die Firma Netscape. 1995 setzte der Netscape-Browser neue HTML-Standards durch und rüttelte auch kommerzielle Anbieter wach. Deshalb beginnt mein Rückblick in die Arbeitswelt der Internet- und Multimediadienstleister in diesem für die Branche schicksalsträchtigen Jahr 1995.

Ein weiterer Faktor, der entscheidend zur nun beginnenden Boom-Phase beitrug, war die immer stärker Marktdurchsetzung von Personalcomputern mit den Betriebssystemen Microsoft und Macintosh, deren Leistungen bei sinkenden Preisen ständig stiegen.

Besonders bei männlichen Jugendlichen der gehobenen Mittelklasse wurde der eigene Computer zusehends zum Prestigeobjekt. Der PC ersetzte die elektrische Eisenbahn als das bevorzugte Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenk. Computerspiele waren dabei wichtiger als das Officepaket und bald zeigten erste Statistiken, das diese Spiele und das Surfen im Internet sich als echte Alternative zum Fernsehen entwickelten.

Dabei trennte sich schnell die Spreu vom Weizen. Auf der einen Seite die reinen User, auf der anderen Seite, wenn auch in geringerer Zahl, die jungen Bastler und Schrauber, die ihre Rechner selbst zusammenbauten, konfigurierten, sich zu nächtlicher Stunde Informatikgrundkenntnisse beibrachten und selber kleine Anwendungen schrieben. Mit den ersten Netscape Browsern und der leicht zu erlernenden Internet-Beschreibungssprache HTML, die in ihrem sich schnell erweiterndem Standard immer mehr Möglichkeiten zur multimedialen Gestaltung bot, gesellten sich nun auch die "Kreativen" zu den "Schraubern". Aus diesen zwei Interessens- oder Neigungslagen entstand schnell ein explosives Gemisch aus neuer Technologie, Kreativität und Business, das alle Grenzen sprengen sollte. Begriffe wie "medienübergreifend" und "global" machten die Runde, der Traum vom unendlichen, ungebremsten Wachstum schien realisierbar.

Das große Geld kommt

Die Amerikaner hatten es vorgemacht. Anfang 1995 wurden die Herren Filo und Yang, die jungen Erfinder der Suchmaschine YAHOO von Marc Andreessen, dazu aufgefordert, Yahoo! von seinem bisherigen Standort Stanford University zu Netscape selbst zu übersiedeln. Dank der zahlreichen Kontakte von Netscape im World Wide Web konnte so die Erfolgsstory von Yahoo! nicht mehr aufgehalten werden, und der Name "Yahoo!" wurde als Trademark weltweit geschützt. Im September /Oktober 1996 wurde die Dachmarke "Yahoo!" um europäische Angebote erweitert: Yahoo! Großbritannien & Irland, Frankreich und Deutschland nahmen ihren Betrieb auf und konnten schon binnen kürzester Zeit enorme Erfolge verbuchen. Das große Geld begann sich für das Internet zu begeistern. Die ersten Venture-Kapitalgesellschaften sammelten in Windeseile Millionenbeträge, die sich wie durch ein Wunder beim ersten Börsengang in Milliardenerträge verwandelten.

Überall auf der Welt schossen nun die Internet-Buden der jugendlichen Techies und Kreativen aus dem Boden. Eine Firma war schnell gegründet, wer scherte sich anfangs schon um die Unterschiede zwischen GbR, GmbH oder AG? Papas Garage oder Keller gab es umsonst, die Miete in alten stillgelegten Fabriketagen war superbillig, das Produktionsmittel PC entweder vom letzten Weihnachtsfest vorhanden oder billig zu erstehen. Um Gesetze, Buchhaltung oder Gehälter kümmerte man sich wenig oder gar nicht. Man war voller Ideen, jung, hipp und unter sich.

Eine neue Jugendbewegung

Der Unterschied zwischen Freizeit und Arbeit war entgrenzt. Dasselbe Gerät, auf dem vorher Spiele gespielt wurden, war nun das Arbeitsgerät und keiner meckerte rum, wenn auch während der Arbeit ein Game gespielt wurde oder nur im Internet gesurft wurde. Die neue Firma ersetzte das Familienleben zu Hause, dessen soziale Funktion durch zerrüttete Ehe oder der Notwendigkeit eines doppelten Einkommens, schon einige Zeit zuvor abhanden gekommen war. Hierarchien im Betrieb waren meist flacher als innerhalb der eigenen Familie. Man arbeitete auf Zuruf, der Chef war gleichzeitig auch der Duz-Freund.

Rückblickend kann gesagt werden, dass in diesen Internet-Buden, wie sie Lothar Spät so gerne nennt, eine neue Jugendbewegung entstand. Eine Bewegung, wie es sie seit der Vorgängergeneration der 68er mit ihrem Politidealismus und ihrer ostasiatisch geprägten Hippiephilosophie nicht mehr gegeben hatte.

Es gab jedoch einen Unterschied. Die 68er Generation hatte sich gegen das bestehende System aufgelehnt, war politisch-revolutionär geprägt, der Generationskonflikt wurde ausgetragen. Die neue Jugendbewegung hingegen zeigte sich unpolitisch, der grenzensetzende Generationskonflikt wurde nicht ausgetragen, sondern schlichtweg ignoriert, ausgeklammert. Möglichweise eine Antwort auf die Entfremdung der Familie, die die Kindheitsjahre der meisten dieser jungen Menschen geprägt hatte. Das Revolutionäre in ihren Köpfen war die neue Technologie, die phantastischen, unendlichen Einsatzmöglichkeiten des Internets, einem Medium, das erstmals seit der Erfindung des Telefons, multidirektionale Kommunikations- und Vermarktungsmöglichkeiten zu Billigpreisen versprach.

Das beherrschende politische System des Kapitalismus wurde in keiner Weise angezweifelt, sondern mit jeder neuen Erfolgsmeldung von den Weltbörsen immer mehr in den Mittelpunkt der Sinngebung gestellt. Möglicherweise wurden hier die Weichen gestellt, die den Kapitalismus zunehmend vom politischen System zur neuen Weltreligion befördern.

Entgrenzung des Kapitalmarkts und der Firmenstruktur

Die Reaktion der älteren Generation ließ nicht lange auf sich warten. Dies war die Jugend, die man immer erwartet hatte. Hier wurde nicht gekämpft, endlos debattiert und gestreikt, hier wurde gearbeitet, wurden Firmen gegründet, Businesspläne erstellt, Börsengänge vorbereitet, Millionen verdient. Eine systemimmanente oder besser noch systembeschleunigende Jugend, die hatte man sich schon immer gewünscht. Die Belohnung ließ nicht lange auf sich warten. Das Taschengeld wurde erhöht und zwar, wie sich herausstellte, in gigantischem Maße. Über Venturekapitalfirmen oder den schnell etablierten "Neuen-Markt" flossen riesige Beträge in die Taschen der jungen Gründer.

Ein weiterer grenzsetzender Mechanismus, den der Beschaffung von Kapital über den Weg der Fremdfinanzierung, der Kreditaufnahme, war damit außer Kraft getreten. Nicht Fremdkapital, sondern Eigenkapital hieß der neue Weg in Unabhängigkeit und Wohlstand. Dass die Kapitalgeber in ihrer Begeisterung über diese neue Jugend dabei jedes Augenmaß verloren, sollte sich erst später rächen. Noch vertraute man blind. Überall diese tollen, jungen Menschen urkapitalistischer Prägung - dass man als älterer, erfahrener Mensch in der Regel die neue Technologie nicht verstand - man wendete sie ja auch nicht an - und deshalb die den Börsengängen zugrundeliegenden Geschäftsideen kaum durchschaute, spielte eine untergeordnete Rolle. Die Kinder spielten Monopoly und endlich konnte wieder gemeinsam gespielt werden. Der Einsatz wurde verdoppelt und verdreifacht, der Kapitalismus auf die Turboebene katapultiert - und das war gut so.

Die Entgrenzung des Kapitalmarktes fand ihr Äquivalent in der Entgrenzung der Firmenstruktur, der Arbeitswelt. Dort, wo nicht mehr mühsam Produkte, sondern Ideen verkauft wurden, ließ es sich gut leben. Die permanente Bestätigung durch den ständigen Kapitalzufluss förderte das "Wir-Gefühl". Zwar wurde bis an die Grenzen des physisch Möglichen gearbeitet, aber die aufgeblähte Psyche, die mangelnde Kontrolle eines Betriebsrates und die starke soziale Anbindung an die Firma ermöglichte dies. Die größte Not bestand nicht mehr - wie bisher üblich - in der Akquise der zur produktionsreifen Umsetzung der Idee benötigten Finanzen oder in der Kostenkontrolle des Produktionsprozesses, sondern in der Rekrutierung der zur Umsetzung benötigten qualifizierten Human Ressources.

Von der vorangegangenen wirtschaftlichen Flaute geprägt, befanden sich Mitte der neunziger Jahre eine große Zahl hochqualifizierter junger Menschen, zumeist Akademiker, in der Arbeitslosigkeit. Erstaunlicherweise reagierte nun der Staat in Form der Bundesanstalt für Arbeit und der Landesarbeitsämter mit bisher nicht gekannter Geschwindigkeit. Getrieben von einer immer schneller wachsenden Zahl privatwirtschaftlich orientierter Bildungsträger, die innerhalb kürzester Zeit auf die sprunghaft steigende Nachfrage an Internetfachkräften mit teilweise fantasievollsten Kursangeboten reagierte, begann die öffentliche Hand Multimedia-Weiterbildung mit Milliardenbeträgen zu fördern - und zwar mit großem Erfolg. Durch die hohe Mitarbeiternachfrage lagen die Vermittlungsquoten der Schulungseinrichtungen bei bisher für astronomisch gehaltenen 80 - 90 Prozent.

Die Gründe dafür sind einfach zu finden. Die benötigte Qualifizierung beruhte auf einer neuen Technologie, die noch in den Kinderschuhen steckte. Jeder einigermaßen lernbegierige und -willige Lehrgangsteilnehmer konnte sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne von maximal zwölf Monaten alle zur Arbeitsaufnahme notwendigen Kenntnisse aneignen, ganz besonders dann, wenn er durch ein naturwissenschaftliches oder Design-Studium schon die entsprechenden Grundkenntnisse erworben hatte und diese - nur noch - auf das neue Medium Internet umsetzen musste. Die steigende Nachfrage im Contentbereich, brachte dann in einer zweiten Welle auch die arbeitslosen Geisteswissenschaftlicher zügig in Lohn und Brot.

Mit zunehmender Komplexität der Anwendungen fielen die Firmenrekrutierer über die Universitäten her und köderten ganze Jahrgänge mit verlockendsten Gehaltsversprechungen aus den Informatikstudiengängen.

Die ergiebigste Ressource der nach Humankapital hungrigen Neue-Medien-Firmen war der oder die Quereinsteiger/in. Die Entgrenzung des geregelten Karriereweges hatte stattgefunden. Aus dem Ingenieur wurde der Netzwerkadministrator oder Webproducer, die Grafik- oder Kommunikationsdesignerin wurde zur Webdesigner/in, der Germanist zum Infobroker, der Philosoph zum Programmierer, der Architekt zum 3D-Developer, der Informatiker mit Studienabbruch zum E-Commerce-Developer, der Ungelernte wurde Projektleiter oder Firmenchef.

Parallel zu dieser Entwicklung verabschiedete der Staat vier neue IT-Ausbildungsberufe und zwei neue Mediengestalterberufe. Interessanterweise fand diese neue Gattung der Azubis in den ersten Jahren des Internetbooms nur selten einen Ausbildungsplatz in der mittlerweile so benannten "New Economy". Die Ausbildung erfolgte bei den alten Riesen der "Old Economy", bei der Telekom, bei Siemens oder in den traditionellen Verlagshäusern. Der Grund dafür lag nicht in der mangelnden Ausbildungsbereitschaft der New-Media-Firmeninhaber, sondern in dem Regelwerk, das sich mit dem Angebot eines Ausbildungsplatzes verbindet. Weder verfügten die jungen Dienstleisterbetriebe über Mitarbeiter mit der zur Ausbildung benötigten abgeschlossenen "Ausbildereignungsprüfung", noch waren sie willens, diese für die dafür vorgesehenen zweiwöchigen Handelskammer-Lehrgänge freizustellen. Erst zu einem sehr späten Zeitpunkt vollzogen die traditionsbewussten Kammern den Weg der Entgrenzung und verzichteten auf diese althergebrachte Bastion der Ausbildungsregelung.

Die Grenzen des Wachstums

Ende der neunziger Jahre hatten Hohepriester der deutschen New Economy wie Stephan Schambach, Oliver Sinner, Paulus Neef und Peter Kabel ihre in den Hinterhöfen gegründeten Firmen zu gigantischen AGs mit bis zu tausend Mitarbeiter/innen umgebaut. Der explosive Wachstum hatte die Grenzen der Entgrenzung erreicht. Die technologischen und organisatorischen Anforderungen erreichten nun einen Grad der Komplexität, die den Einsatz von Regelwerken unumgänglich machten. Auf Aktionärsversammlungen musste Rechenschaft abgelegt werden. Personalabteilungen wurden eingerichtet. Die Abwicklung der gestiegenen Kundenanforderungen und der mittlerweile hoch entwickelten Internettechnologie erforderte die Erledigung der Aufträge in arbeitsteiligen Teams.

Der Konkurrenzkampf zwischen Design und Technologie-Abteilung bahnte sich an und vertiefte sich. Unkommunikative, ausstudierte Informatiker verdrängten die Kreativen. Bei Großaufträgen wurde nicht mehr fest angestellt, sondern auf das durch die auf Hochtouren laufende Weiterbildungsmaschinerie ständig wachsende Heer freier Mitarbeiter zurückgegriffen. Der Wunsch der Aktionäre nach Rentabilität und zukünftiger Dividendenausschüttung bereitete den Boden für den Einsatz der Controller. Diese wiederum forderten feste, überprüfbare Arbeitszeiten. Projektleiter wandelten sich vom ehemaligen Freund und Kollegen zum gehassten Wachhund und Antreiber, der einem den Spaß verdarb. Doch noch stimmte das Gehalt, noch stieg fast tagtäglich der Börsenwert der als Bonus ausgegebenen Optionsscheine.

Auch bei den vielen, kleinen Firmen zeigten sich die Grenzen des Wachstums. Realismus breitete sich aus. Die Spannkraft des Kapitalismus hat seine oberste Grenze erreicht. Irgendwann musste die Zeche bezahlt werden. Was sich in der Gründerphase als Beschleuniger erwiesen hatte, wurde nun zum Bremser. Der Internetkonsum zum fast Null-Tarif hatte zwar die Kunden in die schönen, neuen virtuellen Räume und Shopping Malls gelockt, aber keiner wollte Eintrittsgelder bezahlen, geschweige denn in der erhofften Weise konsumieren. In zunehmendem Maße erkannten die Bauherren der Internet-Welten, dass die Einnahmen die Kosten nicht decken werden. Immer mehr Bauvorhaben wurden ein oder zurückgestellt, Ernüchterung machte sich breit. Die ersten kleinen Firmen, die den Börsengang verpasst hatten, mussten erstmals Mitarbeiter/innen entlassen. Quereinsteiger und freie Mitarbeiter traf die einsetzende Krise zuerst. Sie werden zum Auslaufmodell. Insolvenzanmeldungen nehmen zu.

Nun brachen die alten Strukturen durch. Der Jungchef, gestern noch der gute Freund, offen und voller Elan, verschweigt den Ernst der Dinge, errichtet in seiner Not Hierarchien, verbietet den oberen Chargen die offene Kommunikation mit der unteren Ebene. Die vielen netten Bonuspakete, die freien Getränke, die gemeinsamen Partys, ja selbst die ständig gefüllte Obstschüssel werden ein Ding der Vergangenheit.

Aber noch hatte die Entgrenzung der Branche ihren eigentlichen Höhepunkt nicht erreicht. Und in geradezu grotesker Weise vollzieht sich diese nicht auf der Spielwiese der New Economy, sondern im alten Stadion der Old Economy, im Spiel zwischen den behäbigen Telekom-Riesen und der noch behäbigeren Nationalmannschaft BRD.

Lange hatten diese Traditionsmannschaften auf sich warten lassen, waren erst spät in die Ausscheidungskämpfe eingestiegen. Aber erst einmal in Fahrt gekommen, waren sie nicht mehr zu bremsen. Ihr Spieleifer kannte nun keine Grenzen mehr. Das Endspiel fand am 17.08.2000 statt. Als Preis winkten die Lizenzen für eine noch völlig undurchdachte und kaum erprobte Technologie mit dem Kürzel UMTS. Als Wetteinsatz stand die gigantische Summe von 98,8 Milliarden DM. Die Telekoms verloren und setzten damit den entferntesten Meilenstein der Entgrenzung.

Der scheinbar nicht endende Kapitalzufluss in die neue Multimediabranche, der diese seltene Welle der Entgrenzung losgetreten hatte, endete mit dem spektakulären Endergebnis 98,8 Milliarden zu Null. Dass sich bei diesem Spiel der einzige Neueinkauf, der junge, virtuos spielende Schleswig-Holsteiner Mobilcom eine vielleicht tödliche Verletzung zuzog, ahnte damals noch keiner.

Gegenwart: IMPLOSION 2000 - 2002

Von nun an ging alles sehr schnell. Ebenso rasant wie sich die neue Dienstleistungsbranche Internet entgrenzt hatte, fiel sie nun in sich zusammen. Der Luftballon war so stramm aufgeblasen worden, dass er zerplatzen musste.

Schon kurz vor der UMTS-Versteigerung hatten die Börsenkurse der New-Media-Unternehmen zu bröckeln begonnen. Nun machte sich allerorts die Erkenntnis breit, das man der jungen Szene auf den Leim gegangen war. Auch wenn Herr Späth noch heute von den tollen, jungen Unternehmern in den Berliner Internetbuden schwärmt - die einst so vielversprechende Jugendbewegung, auf die so mancher wortwörtlich die letzte Mark gesetzt hatte, hatte über Nacht ihren Zauber verloren. Die kühnen Träume ließen sich nicht verwirklichen, die fantasievollen Produkte fanden nur wenige Käufer. Bei den Kapitalgebern machte sich Panik breit, wer schnell genug war, verkaufte seine Internet-Aktien mit kleinen Verlusten, wer zu langsam war, verlor das letzte Hemd.

Ohne neue Aufträge und ohne neues Kapital ging den meisten großen deutschen Multimedia-Dienstleistern in kürzester Zeit die Luft aus. Die Spielräume wurden kleiner, täglich wurden mit alten Meilensteinen neue Grenzen gesetzt. Mitarbeiter/innen, die um ihren Arbeitsplatz fürchteten, entdeckten plötzlich die vorher viel geschmähten Gewerkschaften, richteten in letzter Minute als Bollwerk gegen die immer stärker werdende Willkür der Firmenbosse Betriebsräte ein. Die Geschäftsleitung reagierte mit fristlosen, betriebsbedingten Kündigungen. So mancher Arbeitnehmer musste innerhalb von Minuten unter Aufsicht von Firmenschutzpersonal seinen Arbeitsplatz räumen.

Aber auch der schnelle Mitarbeiterabbau half nur in einigen Fällen. Dem rasanten Anstieg folgte der implosionsartige Zusammenbruch. Bei vielen großen und kleinen Multimediadienstleistern gingen für immer die Lichter aus. Wer das Glück einer Festanstellung hatte, erhielt zumindest Arbeitslosengeld. Tausende ehemalige freie Mitarbeiter aber warten noch heute auf den gestundeten Entgelt für monatelange Arbeit, während sich die einstigen Firmengründer und Vorstandsmitglieder in ihren neuen Villen räkeln. Das einstige "Wir-Gefühl" ist der Alptraum von heute.

Ausblick 2002:: KONSOLIDIERUNG/NORMALISIERUNG

Welche Entwicklungstrends lassen sich Ende 2002 erkennen?

Ganz sicher hat die Konsolidierungswelle noch nicht ihren Tiefpunkt erreicht. Immer noch werden in der Internet/Multimedia Branche mehr Mitarbeiter entlassen als neu eingestellt. Das Bauen neuer Websites ist rückläufig. Durch ausgereifte Contentmanagement-Systeme und andere Tools können große Portale nun in immer kürzeren Produktionszeiten und weniger Personal erstellt werden.

Ein Phänomen ist zu beobachten, als läge ein Fluch über dem Ganzen, spricht heute kaum noch jemand von der Internet- oder der Multimedia-Branche. Sie scheint in der Bezeichnung "Medien- und IT-Branche" aufgegangen. Sicher ist es nicht nur die Furcht vor Stigmatisierung, die die Vermeidung dieser "Unworte" verursacht, es steckt auch ein Körnchen Realität dahinter. Die einst blühende Internetblume ist verwelkt oder hat sich mit der traditionellen Medien- oder Werbebranche verschmolzen. Der technologische Anteil einer heutigen Internetanwendung ist so komplex geworden, dass dieser mit Recht der IT-Branche zugeordnet werden kann. Medien müssen heute multimedial sein, eine Unterscheidung zwischen Multimedia- und Medien-Branche ist deshalb obsolet.

Hier liegt auch die Antwort auf die Ausgangsfrage: "Sind Internet- und Multimedia-Dienstleister anders?"

Ja, sie waren anders - nein, sie sind es nicht mehr. Diese völlig neue, revolutionäre, im Anfangsstadium leicht zu erlernende Technologie, die in kürzester Zeit von einer begeisterten Jugend adaptiert wurde, schon in den Kinderschuhen bis ins Letzte geschäftlich ausgeschlachtet wurde und einen Kapitalzufluss genoss, der nur selten in der Wirtschaftsgeschichte miterlebt werden darf, berechtigt rückblickend die Bejahung. Aber ebenso rasant wie die Branche ihre Kindheit und Jugend durchlebte, ist sie in die Jahre gekommen. Heute ist sie geprägt von den Merkmalen einer Branche der "Old-Economy". Kapitalverknappung, Kapitalaufnahme über Fremdverschuldung, arbeitsteilige Aufgabenstellungen, die Einführung von Ausbildungsberufen, Arbeitnehmervertretung durch Betriebsräte, Einsatz von Controllern, mehr oder weniger geregelte Arbeitszeiten, Lohnzahlungen auf normalem Niveau ohne exotische Optionsschein-Bonuspakete, all dies sind Indizien einer Normalisierung.

Selbst dort wo die alten Narben des schnellen Wachstums noch zu erkennen sind haben sich die Wirtschafts- und Bildungskosmetiker der Aufgabe gestellt, diese Scharten zu beseitigen.

Ende 1998 erkannten die Sozialpartner, dass es der jungen Branche im Beruflichen an zwei Dingen mangelt: 1. an Transparenz, 2. an geregelten Karrierelaufbahnen. Beide sind Merkmale einer gereiften Branche, die mit geregelter Aus- und Weiterbildung, geregelten Berufsbezeichnungen und geregelten Lohntarifen arbeitet. Also setzte man sich zusammen und schuf ein neues Regularium, das im Mai 2002 als neue IT-Weiterbildungsverordnung im Berufsbildungsgesetz verabschiedet wurde.

Das Ergebnis sind insgesamt 35 - sogenannte - IT-Weiterbildungsberufe auf drei Ebenen. Auf der untersten Ebene 29 Spezialistenberufe, auf der mittleren Ebene 4 Operative Professional- und auf der obersten Ebene 2 strategische Professional-Berufe. Diese Gesetzgebung ermöglicht es nun auch den vielen Quereinsteigern, die der Branche nach wie vor wie eine zu schnell gegessene Mahlzeit auf dem Magen liegen, einen anerkannten Berufsabschluss zu erlangen. Damit fallen auch im Qualifizierungsbereich die letzten Bastionen der Entgrenzung.

Bemerkenswert dabei ist, dass die neue IT-Weiterbildung in erster Linie arbeitsprozessorientiert, also innerbetrieblich durchlaufen wird. Schwerpunkt liegt auf der Abwicklung und Dokumentation eines realen Projektes. Damit wird deutlich, dass auch die Sozialpartner die Umsetzung der Hartzmodelle flankieren. In den kommenden Jahren wird die Bundesanstalt für Arbeit ihre bisher in IT-Weiterbildung investierten Milliardenbeträge erheblich zurückfahren. Dieser Rückzug wird bei den auf Internet- und Multimedia spezialisierten Bildungsträgern gewaltige Bremsspuren hinterlassen.

Was aber geschieht mit den Tausenden freien Mitarbeitern, die auch heute noch in keiner Arbeitslosenstatistik erfasst sind, da sie niemals den Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben haben? Zu befürchten ist, dass diese Gruppe als herumvagabundierende Job-Nomaden das digitale Lumpenproletariat des begonnenen 21. Jahrhunderts bilden. Als Zeit- oder Telearbeiter oder als Ich-AG werden sie schlecht bezahlt von einem Job zum anderen hetzen, selbstausbeuterisch ihren eigenen Arbeitsplatz, sprich Wohnung und Rechner und mehr Zeit, als abzurechnen möglich ist, zur Verfügung stellen, getrieben von der Hoffnung, auf die immer seltener werdende Festanstellung. Einige werden den harten Weg der Existenzgründung wählen, die meisten werden scheitern.

Profitieren wird eine kleine Gruppe mobiler, flexibler und hochspezialisierter IT-Fachkräfte, die von den Großfirmen für die Abwicklung sehr komplexer Aufgabenstellung zielgenau zusammengestellt und angeheuert werden.

Eines aber ist sicher: Als Benchmark des Oszillationswertes zwischen Entgrenzungs- und Grenzsetzungs-, Ausschließungs- und Einschließungs-, Ausdehnungs- und Schrumpfungs-Potential der neuen Weltreligion Kapitalismus wird die so phänomenal schnell gewachsene und fast noch schneller gereifte und gealterte Internet- und Multimediabranche noch etliche Jahre ihre Funktion erfüllen.

Dierk Ladendorff ist Projektleiter von ServiceDigitaleArbeit im Bildungswerk Medien e.V. in Hamburg.