Mit kalten Materiewolken auf der Jagd nach der exakten Zeit

Innsbrucker Forscher erzeugten erstmals Bose-Einstein-Kondensat mit Cäsiumatomen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Einem Innsbrucker Forscherteam ist es gelungen, einen Effekt zu generieren, mit dem sich künftige Atomuhren optimieren lassen. Wie die Forscher in der aktuellen Ausgabe des Science Express (Dezember 5/2002) berichten, versetzten sie bei sehr tiefen Temperaturen eine Wolke aus rund 20.000 Cäsiumatomen in einen Bose-Einstein-Zustand. Bei solchen "kalten Materiewolken" verhalten sich Atome identisch. Atomuhren, aber auch das globale Ortungs- und Navigationssystem GPS, könnten von dem BEC-Effekt profitieren.

Unseren Vorfahren mangelte es fürwahr nicht an Ideen, Zeit zu definieren und zu messen. Von Sonnen-, Wasser- über Kerzen- bis hin zu Sand- und Öluhren - die menschlichen Anstrengungen, der Zeit auf optische Weise Leben einzuhauchen, waren oft mannigfaltig, selten jedoch exakt. Erst als 1370 die Uhrwerkhemmung wiederentdeckt wurde - sie war schon in der Antike bekannt -, gab sich die Zeit auch auf akustischem Wege durch das Ticken des Uhrwerks zu erkennen.

Wettlauf mit der Zeit und um die Zeit

Völlig lautlos hingegen operieren die exaktesten Zeitmessgeräte der Postmoderne: die Atomuhren. Seit 1967, als Atomschwingungen im Mikrowellenbereich als offizieller Taktgeber eingesetzt werden, und seitdem die Physikalische Technische Bundesanstalt in Braunschweig (PTB) durch das Zeitgesetz vom 25. Juli 1978 zum Wächter der Zeit avancierte, müssen sich beispielsweise alle "deutschen" Uhren dem Diktat der vier PTB-Cäsium-Atomuhren unterwerfen. Diese sind mit über 230 Atomuhren in aller Welt abgestimmt und verbreiten die "richtige" Zeit über den Langwellensender DCF 77 an Millionen von inländischen Funkuhren. In punkto Präzision sind sie bislang konkurrenzlos: Jährlich gehen sie nur um weniger als eine Millionstel Sekunde nach oder vor.

Flugzeitbilder nach 50ms freier Expansion für drei verschiedene Fallentiefen am Ende der Evaporationsrampe. Jedes Bild zeigt einen Ausschnitt von 1,6 x 1,4mm. Bild: Institut für Experimentalphysik der Universität Innsbruck.

Link zum Bild: http://exphys.uibk.ac.at/ultracold/csbec/d_csimage.html

Um die Länge einer Sekunde zu definieren, zwingen die PTB-Forscher ein Cäsiumatom dazu, seinen Energiezustand zu wechseln. Es gibt zwei energetisch unterschiedliche Grundzustände des Cäsiumatoms. Ein Wechsel des Energiezustandes erfolgt genau dann, wenn die Strahlung die Frequenz 9.192.631.770 Hertz hat. Eine Sekunde dauert demnach so lange wie 9.192.631.770 Periodendauern dieser Strahlung.

Eigentlich sollte hiermit ein temporärer Zenit erreicht sein. Und dennoch ist schon seit geraumer Zeit ein Wettlauf mit der Zeit und um die Zeit in vollem Gange. Neben der PTB kämpfen zahlreiche metrologische Institute rund um den Globus darum, die Zeit mit immer besseren Equipment und Methoden "einzufangen" und zu messen.

Der fünfte Aggregatzustand

Nunmehr haben Physiker, die eigentlich gar nicht darauf erpicht waren, den exaktesten Chronometer zu konstruieren, einen Effekt generiert, der bei der Weiterentwicklung der nächsten Atomuhr-Generation prägenden Einfluss haben dürfte. Bei dem Forscherteam handelt es sich um eine Wissenschaftlergruppe vom Institut für Experimentalphysik der Universität Innsbruck. Ihnen gelang es am 5. Oktober 2002 erstmals, aus Cäsiumatomen ein Bose-Einstein-Kondensat zu erzeugen. Über ihren Erfolg berichten die Forscher in der aktuellen Ausgabe des Science-Express.

Unter einem Bose-Einstein-Kondensat (BEC, das 1924 von Albert Einstein und von dem indischen Physiker Satyendra Nath Bose vorgesagt und 1995 erstmals experimentell nachgewiesen wurde, verstehen die Physiker einen Materiezustand, bei dem die Atome gemeinsam den niedrigst möglichen Energiezustand einnehmen. Generiert wird dieser Zustand, indem die Atome fast bis zum absoluten Temperatur-Nullpunkt - also 0 Kelvin (minus 273,15 Grad Celsius) - abgekühlt werden.

Beim Übergang zum Bose-Einstein-Kondensat, das neben den vier bekannten Aggregatzuständen (fest, flüssig, gas- und plasmaförmig) sich als fünfter etabliert hat, finden in dem jeweiligen Material keine thermalen Fluktuationen mehr, sondern nur noch Quanten-Fluktuationen statt. Die Atome geben ihre Eigenständigkeit auf, vereinigen sich zu einer Art "Superatom", wobei sie gemäss der Heisenbergschen Unschärferelation denselben Ort einnehmen, dieselbe Geschwindigkeit besitzen und dasselbe Energieniveau haben. Kurzum: Sie nehmen die Eigenschaften einer Welle an.

Genau dies setzten Prof. Rudolf Grimm und sein Team vom Institut für Experimentalphysik unter Laborbedingungen in die Tat um, indem sie eine Wolke aus rund 20.000 Cäsiumatomen bei sehr tiefen Temperaturen in den Bose-Einstein-Zustand versetzten und die Cäsiumatome praktisch dazu zwangen, sich identisch zu verhalten. Unter Zuhilfenahme von zwei CO2-Laserstrahlen mit jeweils 100 Watt fingen die Forscher die Atome im Kreuzungspunkt der beiden Strahlen ein und kühlten dieselbigen solange mit Laserstrahlen ab, bis in der Mitte der Vakuum-Kammer eine Temperatur von nur wenigen Nanokelvin vorherrschte. "Hier ist ein fünf Jahre alter Traum in Erfüllung gegangen", sagt Rudolf Grimm, der sich bis vor kurzem noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Forschern in Oxford lieferte, die an demselben Projekt arbeiten.

Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten

Dank des erstmals kreierten Bose-Einstein-Kondensats aus Cäsiumatomen könnten die Physiker schon in naher Zukunft die Genauigkeit von Atomuhren noch weiter verbessern, was wiederum dabei helfen würde, zeitliche Veränderlichkeiten von Naturkonstanten exakter zu entschlüsseln. So könnten zum Beispiel die Astrophysiker mit Hilfe einer optimierten Atomuhr die von Einstein vorhergesagten Effekte der Relativitätstheorie, vor allem den Zusammenhang von Schwerkraft und Zeit, noch gründlicher prüfen. Daneben würden auch Radioastronomen und Geophysiker von der Fontänenuhr profitieren, ließe sich doch mit ihr das Pulsieren der Neutronensterne und der Drift der Kontinente noch besser präzisieren.

Mithilfe der kalten Materiewolken könnten aber auch technische Innovation und bestimmte andere technische Geräte weiterentwickelt werden - wie etwa das globale Ortungs- und Navigationssystem GPS (Global Positioning System), das auf Laufzeitmessungen von Radiosignalen zwischen den im Orbit kreisenden Satelliten (die mit Atomuhren ausgestattet sind) und den irdischen Empfängern beruht und in Flugzeugen, Schiffen und einigen Autos längst Standard ist.

Gleichwohl könnte auch die internationale Datenkommunikation von BEC-Kondensaten profitieren. Zum Beispiel könnten Cäsiumatomen in Bose-Einstein-Kondensaten als mögliche Bauteile für einen Quantencomputer zum Einsatz kommen. Außerdem lassen sich auf diese Weise auch fundamentale Symmetrien der Natur ohne den vergleichsweise großen Aufwand von Teilchenbeschleunigern untersuchen.