Rechtsfreie Räume in Russland

Amnesty International hat eine Kampagne zu den Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation gestartet

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Mehr als zehn Jahre ist die Auflösung der Sowjetunion her und es hat sich viel getan in dem großen Land. Doch auch wenn der Schulterschluss mit dem Westen immer enger wird, mit Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ist es noch nicht weit her. Um auf dieses Missverhältnis hinzuweisen, hat die Menschenrechtsorganisation amnesty international kürzlich einen aktuellen Bericht über die Menschenrechtssituation in Russland vorgelegt und zeitgleich eine einjährige Kampagne mit dem Motto "Solidarität mit Russland" gestartet. Das erklärte Ziel ist es, die Zivilgesellschaft in Russland zu stärken und Gerechtigkeit für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu erreichen.

Auf sechs Punkte konzentriert sich der ai-Bericht. Auf Folter und Misshandlungen durch Polizei und Sicherheitskräfte, die in Russland an der Tagesordnung sind und nicht angezeigt werden, weil die Opfer sich vor Rache fürchten und die Täter weitgehend straflos bleiben. Auf die katastrophalen Verhältnisse in den russischen Gefängnissen, wo mit Gewalt schnelle Geständnisse erpresst werden und die hygienischen Verhältnisse jeder Beschreibung spotten. Auf die Situation in Tschetschenien, wo Menschenrechtsverstöße in Form von extralegalen Hinrichtungen, Folter und Vergewaltigungen sowie das Verschwindenlassen von Menschen Systemcharakter erreicht haben, aber strafrechtlich folgenlos bleiben, obwohl sie einen gravierenden Bruch des humanitären Völkerrechts bedeuten.

Amnesty prangert auch die Situation der Kinder an, denen die in internationalen Abkommen garantierten Grundrechte verweigert werden. Nach ai-Angaben hat die Polizei im vergangenen Jahr gegen mehr als eine Million Kinder und Jugendliche Strafanzeige erstattet. Sie werden oft monate- und z. T. jahrelang in Untersuchungshaft gehalten und häufig schon wegen kleiner Delikte zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Amnesty nennt das Beispiel von Anatolij Semenkow, der mit 15 Jahren wegen des Diebstahl eines Feuerzeugs mit fünf Jahren Gefängnis bestraft wurde.

Wenig Erfreuliches auch über die Situation der Frauen: Nach den offiziellen russischen Zahlen sterben jährlich rund 14.000 Frauen als Folge häuslicher Auseinandersetzungen. Die Polizei, die ansonsten nicht zimperlich ist, hält sich bei prügelnden Ehemännern dezent zurück. Auch der Gesetzgeber will trotz der eindeutig belegten Zunahme von Gewalt im häuslichen Bereich nicht eingreifen: Fast 50 Entwürfe eines Gesetzes zu diesem Thema sind im Parlament bislang einfach nicht vorangekommen.

Ein weiterer Punkt sind die ethnischen Minderheiten, allen voran die Menschen aus dem Kaukasus, die der Willkür der russischen Rechtsorgane ausgesetzt sind. Sie gelten - verstärkt seit dem 11. September und dem Moskauer Geiseldrama - stereotyp als Terroristen, als Freiwild für Polizei und Bürger, die sich mal eben abreagieren wollen.

Seit Russland sich der Antiterror-Allianz angeschlossen hat, ist Kritik an den bekannten Menschenrechtsverletzungen weitgehend im Westen verstummt

Russland fordert seinen Platz an der Seite der westlichen Demokratien, doch den humanitären Maßstäben will es sich nicht anpassen. Das Land hat eine Vielzahl internationaler Abkommen unterzeichnet, die Menschenrechte garantieren, aber in der Praxis nicht eingehalten werden. Es sind rechtsfreie Räumen entstanden, weil die Täter für ihre Verstöße nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Die Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet der Russischen Föderation sind im Westen gut bekannt. Doch seit Wladimir Putin in die Allianz der Antiterror-Kämpfer eingetreten ist, will sie keiner mehr öffentlich kritisieren. Es gibt keine klaren politischen Stellungnahmen oder Forderungen, obwohl immer wieder offenkundig wird, dass das, was man so gerne ignorieren würde, sich tatsächlich nicht so einfach ignorieren lässt.

Ein Beispiel ist das diplomatische Gerangel um den tschetschenischen Politiker Achmed Sakajew. Nachdem Dänemark dem Auslieferungsgesuch des russischen Generalstaatsanwalts aus Mangel an Beweisen nicht stattgegeben hat, muss er sich jetzt in Großbritannien demselben Verfahren unterwerfen. Ausliefern will man ihn nicht, Stellung für ihn beziehen und womöglich das Thema Tschetschenien aufrollen, aber auch nicht. Immerhin, ätzte die Moscow Times, habe die bisherige Aktion doch wenigstens eines geschafft: Sie habe den letzten für Moskau akzeptablen tschetschenischen Verhandlungspartner international kaltgestellt.

Mit einem anderen heiklen Fall müssen sich die deutschen Behörden herumplagen. Es ist der Fall einer Tschetschenin, die vor sieben Jahren in Grosny vier Militärs getötet hat und seit 1999 als anerkannter Flüchtling in Deutschland lebt. Weil sie im Oktober während des Moskauer Geiseldramas im Fernsehen öffentlich über ihre Tat sprach, ist ihr Fall mit einem Schlag zum Politikum avanciert. Auf Druck auch von russischer Seite hat die deutsche Staatsanwaltschaft sich nun gezwungen gesehen, ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags in vier Fällen zu eröffnen. Das könnte noch peinlich enden für Bundeskanzler Schröder, der russischen Politikern in dieser Sache schon mehrfach Rede und Antwort stehen musste und seinem Freund Wladimir vielleicht einmal erklären muss, warum ein deutsches Gericht befunden hat, dass dann, wenn Soldaten Frauen systematisch quälen, diese völlig rechtmäßig in Notwehr schießen dürfen.

Amnesty International wird uns im kommenden Jahr noch häufiger aus Russland berichten. Um lokale Menschenrechtsorganisation zu unterstützen, wurde ein Büro in Moskau eröffnet und es sind mehrere Ermittlungsreisen im Land geplant.