Saboteure oder Verteidiger der Demokratie?

Die Opposition in Venezuela setzt alles auf eine Karte: Mit einem Wirtschaftsboykott soll die Regierung in die Knie gezwungen werden

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Zu Beginn vierten großen Kampagne gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez am zweiten Dezember vergangenen Jahres legte die Opposition großen Wert auf ihr Ansehen. Nach dem gescheiterten Putsch Mitte April vergangenen Jahres (Chávez wieder an der Macht) berichteten die ausnahmslos der Opposition zugewandten Printmedien des südamerikanischen Erdölstaates in ihren Schlagzeilen dieser Tage von "Massendemonstrationen", vom "Volk gegen Chávez" und "überwältigendem Widerstand". Dieses Bild wurde weitgehend unkritisch von ausländischen Medien transportiert.

Sabotage oder Streik? Die Wirtschaft im Visier

Die Erinnerungen an die drei Apriltage, in denen es gerade Massenproteste waren, die den umstrittenen Präsidenten nach einem Putschversuch rechter Militärs wieder ins Amt zurückholten (Chávez wieder an der Macht), schienen noch so präsent, dass von Beginn an eine Doppelstrategie gefahren wurde. Neben den Protesten auf der Straße stand die Erdölindustrie im Visier der Opposition (Wie provoziert man einen Putsch?).

Ein "Abdrehen der Hähne", wie Carlos Ortega, der Präsident des mittelständischen Gewerkschaftsverbandes CTV damals ankündigte, sollte die Regierung über kurz oder lang auf dem Trockenen sitzen lassen. Die Rechnung war einfach, denn Erdöl ist das wirtschaftliche Rückgrat Venezuelas. Die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA lässt zwischen 70 und 80 Prozent der Deviseneinnahmen in die Staatskasse fließen.

Seit der Nationalisierung dieses primären Wirtschaftszweiges 1974 ist jeder Präsident damit nicht nur vom Öl, sondern auch von denen abhängig, die es kontrollieren. Hier liegen die Wurzeln des nur vordergründig politischen Konfliktes, der Venezuela in diesen Tagen und Wochen einem Bürgerkriegsland gleichen lässt. Mit Chávez' vorsichtigen Reformen - er nennt sie "Revolution" - wurde 1998 ein Prozess in Gang gebracht, der die Macht einer parasitären Öl-Oligarchie offen legte.

Ein Blick auf die Einkommen in der Branche macht deutlich, wer in Venezuela auf welcher Seite steht. Neben der US-amerikanischen Ölgesellschaft Exxon Mobil verzeichnet der venezolanische Ölkonzern PDVSA die weltweit höchsten Gehälter. Das trifft nicht auf alle Beschäftigten zu, sicher aber auf die überraschend große Gruppe von Mitgliedern der höheren Führungsebene. Von den 870 Managern sind rund 650 in Caracas beschäftigt, dem Zentrum des Aufruhrs gegen Chávez. Während die totalen Personalkosten der Gesellschaft mit 1,4 Milliarden Dollar angegeben werden, entfallen auf die Führungsebene 208 Millionen US-Dollar. 80 Prozent der Bevölkerung gelten als arm gelten und nach Angaben des UN-Entwicklungsprogrammes (UNDP) leben gut zehn Prozent der Venezolaner in absoluter Armut, müssen also mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen. Ein Fehlschluss wäre es indes auch, die Ölgesellschaft partout zu verteufeln. Im Geschäftsjahr 2001 wurden hier bei einfachen Facharbeitern in den Raffinerien Lohnkosten in Höhe von gut 760 Millionen Dollar "eingespart".

Von Agrarherrschern zu Ölmultis: Die Oberschicht Venezuelas

Um die Rolle der Ölgesellschaft PDVSA als Machtfaktor, wenn nicht als das Machtzentrum in Venezuela zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte des Landes. Noch in den zwanziger Jahren waren die Unterschiede zwischen Venezuela und seinem Nachbarn Kolumbien äußerst gering. Von ländlichen Cliquen beherrscht existierte in Venezuela kaum eine zentrale Verwaltung, das Land war fest in der Hand der Agrararistokratie.

Die Erdölressourcen des Landes wurden unter der Diktatur des Militärs Juan Vicente Gómez erschlossen, der sich bis zu seinem Tod 1935 knapp 27 Jahre lang an der Macht hielt. Der aus einer Familie von Großgrundbesitzern stammende Gómez verteilte ganze Landstriche großzügig an seine Gefolgsleute, die alsbald mit Ölmultis paktierten, die ihrerseits massiv auf den jungen venezolanischen Markt drängten. Als Gómez 1935 starb, war der Markt aufgeteilt. Rund zwei Drittel entfielen auf nordamerikanische und britische Ölmultis unter der Führung des US-Konzerns Standart Oil, den Rest okkupierte die niederländisch-britische Shell-Gruppe. Seither lebt die alte Oligarchie ausschließlich von dem Geschäft mit dem "schwarzen Gold".

An diesem Umstand hat die "Demokratisierung" nach dem Sturz des vorerst letzten Diktators Marcos Pérez Jiménez 1958 ebenso wenig geändert wie die Verstaatlichung des Erdölsektors 1974. Die Krise mit den USA hiernach war nur von kurzer Dauer und endete, als die gute Kooperationsbereitschaft der neuen Öl-Herrscher in Washington bekannt wurde. Das Geschäft boomte und warf Gewinn für alle ab. Während die Fördermenge venezolanischen Erdöls von 1972 bis 1980 um ein Drittel sank, stiegen die Gewinne von fünf Milliarden US-Dollar auf sagenhafte 37 Milliarden US-Dollar.

Durch die starke Kongruenz wirtschaftlicher und politischer Macht bestand bei den Machthabern Venezuelas nie ein ernsthaftes Interesse, sich dem Rest der Bevölkerung zuzuwenden. Dieser Rest, das sind die achtzig Prozent der venezolanischen Bevölkerung, die von den Vereinten Nationen heute als arm eingestuft werden. Gleiches trifft auf den Staat zu. Seit 1982 der Ölpreis verfiel, stieg die Staatsverschuldung von acht Milliarden Bolívar (ein US-Dollar entspricht gut 1500 Bolívar) Mitte der siebziger Jahre ins Unermessliche. 1983 verschlang der Schuldendienst mit 15 Milliarden US-Dollar erstmals die gesamten Einnahmen aus dem Ölgeschäft, heute liegt die Staatsverschuldung bei über 20 Milliarden US-Dollar. Venezuelas Wirtschaft war in der Sackgasse und mit der wirtschaftlichen verschärfte sich die soziale und politische Krise.

Als es 1989, kurz nach der erneuten Vereidigung des Sozialdemokraten Carlos Andrés Pérez ("Acción Democrática") in Caracas zu sozialen Unruhen kam und die Armee wahllos in die von Hunger auf die Straße getriebene Menge schoss, starb mit zahllosen Demonstranten auch das traditionelle politische Gefüge Venezuelas. Dieses Feld hat Hugo Chávez 1998 erfolgreich übernommen. Die wirtschaftliche Macht der alten Herrscher indes ist ungebrochen.

Die internationalen Interessen

Im einem Beitrag für das alternative Internetmagazin Z-Mag warf der kolumbianische Wirtschaftswissenschaftler Hector Mondragon Anfang Januar einen Blick auf die Partner der PDVSA. Zu denen, schrieb Mondragon, zählt vor allem das US-venezolanische Joint-Venture INTESA, das sich auf computergestützte Steuerungssysteme spezialisiert hat. Das Mischunternehmen kontrolliert die gesamte hochmoderne Kontrolltechnik der venezolanischen Ölindustrie.

INTESA wiederum kooperiert mit dem US-Konzern SAIC (Science Applications International Corporation). In dessen Führungsebene finden sich mit William Perry und Melvin Laird gleich zwei ehemalige US-Verteidigungsminister. Flankiert wird das illustre Duo von den ehemaligen CIA-Direktoren John Deutsch und Robert Gates, sowie US-Admiral a.D. Bobby Ray Inman, Ex-Direktor des Nachrichtendienstes NSA. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Die Übernahme der aktiven Öltanker durch die Opposition vor wenigen Wochen wurde von den Kontrollzentren der INTESA und SAIC aus geleitet. Die "Rückeroberung" der gekaperten Tanker durch Marineeinheiten hilft der Regierung nur provisorisch, denn auch weiterhin sitzen mit den US-Unternehmen die politischen Gegner an den Hebeln der Macht - im wahrsten Sinne des Wortes. Deutlich wurde das, als während der Besetzung von Raffinerien im Dezember kurzerhand auch die Gaszufuhr für die Stahlwerke im Osten des Landes gekappt wurde.

Der wirtschaftliche Schaden durch die Blockade der Ölindustrie ist schon jetzt enorm. Geschätzt werden die Verluste im Ölgeschäft auf bislang 1,5 Milliarden Dollar. Nach wohl schöngefärbten Schätzungen des Ministers für wirtschaftliche Planung, Felipe Pérez, sollen bis Ende Januar 1,16 Millionen Barrel gefördert werden. Vor Beginn der Kampagne der Opposition waren es gut 2,6 Millionen Barrel (ein Barrel entspricht 159 Litern). Nach und nach erst läuft die Produktion wieder an.

Ausschlaggebend dafür war auch das Wort des neuen brasilianischen Präsidenten Ignacio "Lula" da Silva. Er hatte Chávez bereitwillig Hilfe angeboten, als dieser Anfang Januar zu dessen Amtseinführung reiste. Sowohl mit Fachpersonal wie auch mit Öllieferungen könne ausgeholfen werden, hieß es in Brasilia. In Caracas erkannte die Opposition das Gewicht dieser Worte und wechselte ihr Betätigungsfeld.

Mit dem am 10. Januar ausgerufenen Bankenstreik rückte das Finanzwesen ins Zentrum der Aktion. Auch wenn der Erfolg Augenzeugenberichten nach mäßig war, wiegt das Moment der Massenpsychologie stärker. Die Unsicherheit in der Bevölkerung soll ebenso geschürt werden wie die Angst vor einem Zusammenbruch des Finanzsystems, der wohl ähnlich verheerende Folgen wie in Argentinien und Uruguay hätte. Und obgleich die Mehrzahl der Banken die Türe auch am "Streiktag" öffnete, fiel der Wert des Bolívar seit Beginn des Jahres um zwölf Prozent.

Chávez rief zur Gegenoffensive. Nach knapp 50 Tagen "Streik" wurden in der vergangenen Woche zweitausend Funktionäre der PDVSA entlassen. Mit dem Personalwechsel hofft die Regierung nach Jahren der Auseinandersetzungen die Kontrolle über das immerhin doch staatliche Unternehmen zu erlangen. Für die Opposition indes gibt es kaum mehr einen Rückweg. Nach der "Säuberung" der PDVSA steht das Bündnis aus Funktionären und Unternehmern mit dem Rücken an der Wand. Ab jetzt helfen ihnen keine Gespräche um Kompromisse mehr, die Machtfrage steht endgültig auf der Tagesordnung. Die Reaktion der Chávez-Gegner ist entsprechend. Nach der Ölindustrie und Banken setzt die Opposition auf eine Blockade der Nahrungsmittelindustrie und des Bildungswesens. Mit aller Macht soll der Ausnahmezustand herbeigeführt werden.

Chávez: Öl oder Sand ins Getriebe der USA?

Der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramargo beschrieb die Lage Venezuelas so prägnant wie einsichtig: "Wäre das Land nicht der weltweit fünftgrößte Erdölexporteur, gäbe es kaum eine solche Aufregung, und wäre Irak nicht der weltweit zweitgrößte Erdölexporteur, würde ihm kein Krieg drohen."

Weltweit wird derzeit eine politische Debatte um die Positionierung gegenüber Hugo Chávez und seiner "Bolivarianischen Revolution" geführt. Dass die den Vergleich mit sozialistischen Umbrüchen des vergangenen Jahrhunderts so wenig standhält wie Chávez ein Sozialist ist, muss von der Linken akzeptiert werden.

In Anbetracht der globalen Bedeutung der dem Konflikt zu Grunde liegenden Ressource Erdöl jedoch stellt sich die Lage einfacher dar. Der in den politischen Ruhestand geschickte PDVSA-Vorstand Edgar Paredes hatte in einem Interview zwei Ziele formuliert, würde er über die Kontrolle des Unternehmens (des venezolanischen Öls also) verfügen: Zum einen würde er die Fördermenge bis zur maximalen Auslastung steigern, zweites Ziel wäre der schnellstmögliche Austritt seines Landes aus der "Organisation Erdöl exportierender Staaten" (OPEC). Beides könnte ihm aus Washington diktiert worden sein.