Deutschland sucht das Superrezept

Viel Peitsche und wenig Heilsalbe unter den Vorschlägen zu einer Gesundheitsreform

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Vom "Elektronischen Gesundheitspass" bis zur Ausgliederung von Zahnbehandlungen reichen derzeit die Vorschläge der politischen Parteien für eine "Reform" des Gesundheitswesens. Und sie alle bewegen sich bei genauerer Betrachtung auf einem ähnlichem Niveau wie die Leistungen der Kandidaten aus der RTL-Serie "Deutschland sucht den Superstar" (vgl. Schlimmer geht's immer)

Big Brother - Die Karte

So plant das Gesundheitsministerium die Einführung einer Chip-Karte mit allen Patientendaten (vgl. Elektronischer Gesundheitspass bis 2006). Ob diese tatsächlich überflüssige Untersuchungen verringern hilft, ist zweifelhaft. Zwar könnte das System den Betrug mit gestohlenen Karten verringern (vgl. Betrug beim Arzt), doch dafür birgt solch eine Karte ein ganz anderes Missbrauchspotential in sich. So werden Arbeitgeber oder Versicherungen der Möglichkeit eines "freiwilligen" Einblicks kaum widerstehen können. Das Beispiel Österreich zeigt derzeit, dass Regierungen den Verkauf solcher Datenanhäufungen zunehmend als unauffällige Finanzierungsquelle jenseits von Steuern oder Abgaben ansehen (vgl. Verkauf von Meldedaten zur Geldbeschaffung.

Hlg. Privatisierung steh' uns bei

Soweit zu den Plänen der Bundesregierung - doch hat die Opposition tatsächlich effektivere Konzepte? Die Christlich Demokratische Union klammert sich nach ihrer Entfremdung vom Papst (vgl. Wollt ihr den gerechten Krieg oder eine teure, unspektakuläre Mission?) mit religiöser Inbrunst an den Glauben an die Allheilkräfte von "Privatisierungen" und will neben einer jährlichen "Selbstbeteiligung" von 150-300 € die Zahnbehandlung komplett aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen streichen.

Für Zahnarztbesuche soll stattdessen eine private Zwangsversicherung eingeführt werden. Abgesehen davon, dass solch eine Ausgliederung von Leistungen für die Versicherten, die jahre- oder jahrzehntelang nicht nur fleißig die Zähne putzten, sondern auch fleißig in die gesetzlichen Kassen einzahlten, eine Enteignung wäre, klingt die von der Union genannte Summe in Höhe von 20-25 Euro monatlich für die private Zahnarztversicherung für viele noch bezahlbar. Doch bleibt es tatsächlich bei Beiträgen in dieser Höhe?

Vorbild Schweiz

Im Gegensatz zu anderen Liberalisierungsmaßnahmen hatte die unüberlegt durchgeführte Privatisierung der Zahnbehandlung in der Schweiz ausschließlich negative Auswirkungen - außer für Zahnärzte. Bereits kurz nachdem die Schweiz die Zahnbehandlung nach Unionsmuster privatisierte, explodierten sowohl die Kosten der Zahnbehandlung als auch die Beiträge zu den Versicherungen. Die CDU-Kalkulationen beruhen auf der von den gesetzlichen Kassen für Zahnbehandlungen ausgegebenen Summe - zu erwarten ist jedoch ein ähnlicher Anstieg der Kosten wie in der Schweiz. Ein Vergleich zeigt, dass der Zahnarzt für eine Zahnkrone in Deutschland 420,28 € in der Schweiz aber mittlerweile 1273,12 € kassiert - etwa dreimal soviel. Nimmt man für Deutschland ein ähnliches Preisniveau an, läge der monatliche Beitrag nicht bei 25, sondern bei 75 €.

Herr Klein, Referent bei der CDU-Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, der Verfasserin des CDU-Thesenpapiers zur Gesundheitsreform meint, dass die Zahl von 20 - 25 € von "verschiedenen privaten Versicherungen" errechnet wurde. Nun haben aber Versicherungskonzerne potentiell wenig Interesse, sich ein fettes Geschäft durch die abschreckende Wirkung realistischer Beitragsätze verderben zu lassen. Und weil es für Privatversicherte keinen Schutz gegen unbotmäßige Erhöhungen gibt, lässt sich der Beitrag nach der Einführung sehr schnell auf eine ganz andere Höhe bringen. Konkrete Maßnahmen zur Begrenzung von Beiträgen oder Beitragserhöhungen sucht man in dem CDU-Thesenpapier deshalb vergeblich.

Wettbewerb

CDU-Referent Klein meint stattdessen, dass die Erhöhungsproblematik durch eine "schrittweise Einführung" des Modells abgemildert werden solle. Warum solch eine schrittweise Einführung diese Erhöhungen effektiv verringern soll, kann er nicht erklären, verweist aber stattdessen darauf, dass der "Wettbewerb" die Preise schon senken werde. Nur - wo findet der Wettbewerb statt?

Der freie Wechsel zwischen Versicherungen ist wegen der diskriminiatorischen Beitragsstaffelung nicht möglich. Nicht einmal die Altersrückstellungen können bei einem Versicherungswechsel mitgenommen werden. Dies hat zur Folge, dass die Opportunitätskosten (vgl.Gratisdienste und Opportunitätskosten) für Versicherte so hoch sind, dass ein Preiswettbewerb nicht stattfindet.

Auswege böten eine Aufnahmepflicht für private Versicherungen und ein Diskriminierungsverbot nach Alter, Geschlecht oder körperlichen Prädispositionen. Sie sind - auch im Hinblick auf künftig mögliche Gentests - Voraussetzung für einen Wettbewerb, der nicht über Ausschluss, sondern über Effizienz ausgetragen wird (vgl. Für ein Antidiskriminierungsgesetz im Gesundheitswesen). Doch nach solchen Schutzvorschriften sucht man im Unionspapier vergeblich. Klein meint hierzu, ein Diskriminierungsverbot würde "Quersubventionierung" erzeugen. Allerdings ist "Quersubventionierung" gerade das Wesen und der Sinn einer jeden Versicherung und unterscheidet sie von der Wette.

Die privaten Abrechnungssätze sind zudem wesentlich höher als sie auf den ersten Blick scheinen: Weil ein Arzt oder Zahnarzt nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) bzw. der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) ohne weitere Begründung den 2,3-fachen Satz der festgelegten Behandlungssumme berechnen darf, wird dieser Betrag von den privaten Kassen ohne weitere Nachfragen erstattet. Eine der "privaten" Krankenversicherungen mit dem außerordentlich an Effizienz und Leistung gemahnenden Namen "Bayerische Beamtenkrankenkasse" bestätigt, dass der 2,3-fache Satz "normal" sei und nicht weiter geprüft werde. Ironischerweise ist es für den Patienten sogar billiger, auf die private Versicherung zu verzichten, weil dann Ärzte häufig nur den 1-1,7-fachen Satz für die Behandlung verlangen.

Höchst fragwürdig scheinen auch die Kriterien, nach denen Ärzte einen noch höheren Satz berechen dürfen. Funktionär Martin Eulitz nennt als Beispiel, bei dem der Arzt den 3,5-fachen Satz verlangen kann, einen "nervösen Patienten". Das private Abrechnungssystem stellt so einen Anreiz für Ärzte und Zahnärzte dar, ihre Patienten bei der Behandlung zu verunsichern, um so für die gleiche Leistung deutlich mehr abrechnen zu können. Abgesehen von dieser Nervosität des Patienten darf jeder Zahnarzt laut Gebührenordnung gleich viel verlangen - egal wie gut oder schlecht er arbeitet. Gerade die ehemalige FDP-Klientel frönt so fröhlich einem Sozialismus der Standeskartelle.

Bei einer privatisierten Zahnversicherung können nicht einmal Verwaltungskosten gespart werden. Entgegen des weit verbreiteten Volksglaubens arbeiten die privaten Krankenkassen mit weit größerem bürokratischen Aufwand als die gesetzlichen. Nicht nur, dass bei ihnen Arzt- und Medikamentenrechnungen zwischen Ärzten, Patienten und Versicherungen hin- und hergeschickt werden müssen. Der Patient muss zudem für jeden Erstattungsantrag ein steuererklärungsähnliches Formular ausfüllen. Die vielgescholtenen gesetzlichen Kassen dagegen zahlen einen Pauschalbetrag an die Kassenärztliche Vereinigung, die das Geld dann zwischen den Ärzten verteilt. Interessanterweise bewegt sich Amerika weg von der bürokratischen Einzelabrechnung und hin zu HMOs die mittels "Flatrates" pauschal mit Ärzten, Apotheken und Pharmafirmen abrechnen.

Eine Privatisierung hat also die gegenteilige Wirkung, als von der Union angepriesen. Warum will die CDU trotzdem die Zahnbehandlung privatisieren? Der Sinn, so Klein, läge darin, dass die Zahnbehandlungskosten stark von der Vorsorge der Patienten abhingen. Doch nicht nur das Putzen - auch die Qualität der Zahnbehandlung ist maßgeblich am Gesundheitszustand der Zähne beteiligt. Und in Bereichen wie der Gesundheitsvorsorge, in denen der Patient die Qualität nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten prüfen kann, verhindern Informationsasymmetrien einen Preiswettbewerb. Die Folgen: Bei sinkender Qualität steigen die Preise. Ein Ausweg hieraus wäre, das Honorar stufenweise auszahlen - je nachdem wie lange die Zähne halten. Doch auch hier sieht das CDU-Papier keinen "Reformbedarf". Klein versucht zu erklären, dass so etwas abgelehnt werde, weil es zu "Ungerechtigkeiten" in der Bezahlung der Zahnärzte führen könne.

Man gewinnt so trotz der Beschwichtigungsversuche des zuständigen Referenten den Eindruck, dass sich die Qualität der Vorschläge des Unions-Gesundheitspolitikers Seehofer nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich mit dem Leistungsspektrum des Eggenfeldener Superstar-Kandidaten Daniel Küblböck deckt.

In der Bevölkerung ist der Glaube an Kostensenkung durch Privatisierung weniger weit verbreitet als beim bayerischen Gesundheitssuperstarkandidaten Seehofer: Während 61% eine Kürzung des Arbeitslosengeldes und 48% Abstriche bei der Rente hinnehmen würden, werden weitere Privatisierungsschritte im Gesundheitswesen von der Bevölkerung mit Dreiviertelmehrheit abgelehnt (vgl. Politbarometer). Man fragt sich, warum die unbeliebten Vorschläge zur Kostensteigerung im Gesundheitswesen trotzdem so "nachhaltig" vertreten werden. Will die CDU den freigewordenen Platz der "Zahnarztpartei" einnehmen, nachdem die FDP zur "Spaßpartei" mutierte? Ein Grund für die Medienpräsenz solcher Vorschläge liegt in jedem Fall in einer über mehr als ein Jahrzehnt betriebenen groß angelegte PR-Kampagne von Versicherungen, wie sie in den USA bereits erfolgreich für eine Teilprivatisierung der amerikanischen Rentenversicherung betrieben wurde. Diese hatte mittlerweile den Verlust zahlreicher Altersrückstellungen an der Börse zur Folge. Eine auch für die Unionspläne interessante Frage: Wer garantiert in dem angeblich auf Jahrzehnte hin ausgelegten Konzept, dass es die Versicherungen im Jahre 2010 noch gibt?

Obwohl vor allem von Unionsseite immer wieder betont wird, man wolle "tabulos" an einen Umbau der Sozialsysteme herangehen, werden eine ganze Reihe naheliegender Lösungen von keiner der beiden großen Parteien diskutiert.

So wird derzeit gegen eine vierstellige Zahl von Ärzten wegen der Abrechnung fingierter Leistungen mit den Daten toter Patienten ermittelt. Möglich wurde dieser Betrug durch das Abrechnungssystem, bei dem die Krankenkassen nicht direkt, sondern über die Kassenärztlichen Vereinigungen mit den Ärzten abrechnen. Die Ärzte speicherten mit einer von der Kassenärztlichen Vereinigung zugelassenen Software die Patientendaten über das erlaubte Vierteljahr hinaus und konnten so immer wieder nicht erbrachte Leistungen abrechnen (vgl. Geschäft mit toten Patienten). Heraus kam die Sache nur bei schon verstorbenen Patienten. Die Betrugsfälle mit noch lebenden Patienten dürften um ein vielfaches höher liegen. Bei einer Ausschaltung der Kassenärztlichen Vereinigung wäre den Krankenkassen eine effektive Kostenkontrolle möglich. Welchen Sinn die Abrechnungskartelle noch haben bleibt ohnehin offen. In ihrer Abschaffung läge ein wirklich effektiver Schritt zum Abbau von Verwaltungsbürokratie.

Auch bei den Annäherungen an Amerika geht die Politik bisher nur sehr selektiv vor. So finanziert sich das deutsche Gesundheitssystem ausschließlich aus einer etwa 14%igen Abgabe auf kleinere und mittlere Einkommen, während Großverdiener entweder privat versichert oder Selbstzahler sind. Eine Versorgungsmodell, in das alle Bürger anteilig einzahlen, würde eine durchaus "nachhaltigere" Lösung darstellen als die von Union und SPD propagierten Modelle. In den USA funktioniert die Gesundheitsversorgung für Rentner auf dieser Basis.

Das neben dem "Gesundheitspass" von der SPD propagierte Überweisungssystem kann zwar für eine gerechtere Verteilung des Einkommens von Ärzten sorgen - ob dadurch die Zahl der Arztbesuche verringert werden kann ist jedoch fraglich. Eine Maßnahme, die die Zahl unnötiger Arztbesuche tatsächlich deutlich verringern könnte, wäre die Anwendung des Verursacherprinzips bei Krankschreibungen. Erkältungen, Migräne, Regelbeschwerden sowie Magen- und Darmerkrankungen bedürfen nicht in jedem Fall ärztlicher Behandlung. Der Arzt wird in diesen Fällen häufig nur aufgesucht, weil der Arbeitgeber eine ärztliche Bescheinigung der Erkrankung verlangt. Wenn Arbeitgeber, die auch bei kurzfristigen Abwesenheiten eine ärztliche Bescheinigung fordern, die dadurch entstehenden Kosten allein tragen müssten, könnte in diesem Bereich eine Selbstregulierung angeregt werden.