Arabische Musterdemokratien von morgen

Wie viel Demokratie verträgt die islamische Welt?

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Stellen wir uns vor: Eine mächtige Arabische Liga, ausgestattet mit der Waffentechnologie der Zukunft, beratschlagt angesichts der ökonomischen Rezession Euroamerikas, wie es in westlichen Demokratien zum Wohl der Bürger weitergehen soll. Sind westliche Gesellschaften islamisierungsfähig? Lassen sich die Irrlehren der Demokratie, der Gleichheit aller Menschen und des Pluralismus erfolgreich austreiben? Dauerhaft sollten die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Fehlentwicklungen der USA wie Europas heilbar sein. Sicher wird der Widerstand des demokratischen Fundamentalismus, vor allem im alten Europa und im Herzland der Freiheit, Schwierigkeiten bereiten. Schließlich muss sich aber die historische Überlegenheit des Islam auch in westlichen Demokratien durchsetzen. Gedämpfter Optimismus ist also kurz- und mittelfristig berechtigt und langfristig kann es ohnehin keine ungläubigen Gesellschaften geben.

Immerhin gibt es einige islamische Gründe für das Prinzip Hoffnung: Die früheren sozialistischen Staaten Osteuropas haben einige Erfahrung in der Ausbildung hierarchischer Gesellschaftsordnungen. Aber selbst im Zentrum des westlichen Denkens nistet immer wieder der Glauben, dass die Demokratie eine Irrlehre ist. Der späte Heidegger und weniger prominente Alt- wie Neukonservative äußerten massive Zweifel, dass Demokratie die Regierungsform der Zukunft sei. Offensichtlich blieb Heidegger auch nach seiner so intimen wie fatalen Verbindung mit dem Nationalsozialismus bei der Vorstellung, dass auch zukünftig Führer oder mächtige Eliten die Geschicke einer homogenen Gesellschaft bestimmen würden. Sollte es also eine Zukunft für die wahre Lehre und ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen auch in den Ländern der Ungläubigen geben?

Mit Rückschlägen ist freilich zu rechnen. Radikalfundamentalistische Demokraten könnten sich mit Terrorkommandos gegen ihre Bekehrung wehren. Wehrfähige Demokratieschulen und westliche Piratensender mit dem Gift der Aufklärung könnten die Bevölkerung immer wieder aufstacheln oder zumindest irritieren. Die jahrhundertelange Konditionierung der Aufklärung, weit reichende Individualfreiheiten, ziviler Ungehorsam und parlamentarisches Chaos sind nicht mit einem Federstrich des Koran oder Hadit aus der Welt zu schaffen. Lange Lernprozesse würden notwendig, bis der freie Westen begreift, dass seine säkularen Vorurteile gegen eine Gesellschaft der wahren Lehre gering wiegen.

Entspricht diese Miniatur-Utopie den umgekehrten Anmutungen, mit denen Amerika und andere kämpferische Demokratien wenigstens einigen arabischen Ländern nun eine neugestaltete gesellschaftliche Zukunft mit umgekehrtem Vorzeichen bescheren wollen?

Wer hat die Zukunft gepachtet?

Für den freien Westen ist es schwer vorstellbar, gegenüber der Demokratie andere Formen gesellschaftlicher Machtorganisation überhaupt für diskussionswürdig zu halten. Wenn Demokratie eine evolutionäre Form ist, die sich historisch zwangsläufig einstellt, müssten autoritäre, fundamentalistische oder diktatorische Staaten von begrenzter Haltbarkeit sein. Ist das die geschichtsteleologische Hybris, die westliche Demokratisierungskonzepte als ideologische Exportschlager neben Öl-Pipelines und Coca-Cola von vorneherein zum Scheitern verurteilt? Sind die amerikanischen Freiheits- und Demokratieverheißungen als Universalheilmittel der Welt nichts anderes als kulturelle Vorurteile gegenüber dem Fremden, wie es etwa Samuel Huntington glaubt? Bleiben nichtdemokratische Herrschaftsformen ernsthafte historische Konkurrenten, die man eindämmen, aber letztlich nicht besiegen kann?

Amerikas Freiheitsproklamationen für autoritärer strukturierte Gesellschaften stoßen vor allem deshalb auf Zweifel, weil Demokratien historisch gewachsene Gebilde unter besonderen Bedingungen sind, die schwer kopierbar erscheinen. Deutschland und Japan nach dem 2. Weltkrieg gelten als Paradebeispiele für die Demokratisierbarkeit autoritärer Staaten. Aber Westdeutschland hatte immerhin vor dem Tausendjährigen Reich, wenn auch mit fragilen Ergebnissen, über eine Dekade Demokratie trainiert. Lässt sich Demokratie mit einer sportlichen Disziplin vergleichen, in der gleichermaßen Erfahrung und Talent eine Rolle spielen?

Historische Erfahrungen mit Gewaltherrschaft und Krieg, Aufklärung, ausreichende Sicherung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen, halbwegs funktionierende Schulsysteme und viele andere, nicht auf Kommando erscheinende Mentalitätsbedingungen haben sich im Westen historisch einmalig verbunden, um wenigstens den gröbsten Exzessen der Macht nicht immer, aber immer öfter Einhalt zu gebieten.

Legitimationsprobleme des westöstlichen Demokratietransfers

Wie darf man sich nun Demokratien in Gesellschaften vorstellen, die solche Voraussetzungen nur in weit geringerem Maße aufweisen? Ein langwieriger Prozess wie der der Aufklärung lässt sich nicht im Zeitraffer reproduzieren, weil die Internalisierung demokratischer Tugenden zeitaufwändig bleibt. Betrachtet man etwa die politischen Irrungen und Wirrungen Afrikas, lässt sich feststellen, dass die Unabhängigkeit von den Kolonialherren in den Sechzigerjahren zwar in vielen Ländern zunächst kurzfristig Formen der Freiheit mit sich brachte, aber die ungleich komplexeren Bedingungen der Demokratie nicht auf dem Fuße folgten. Bürgerkrieg und pseudodemokratische Autokratien, Wahlbetrug und Korruption der Verwaltung wurden zu den permanenten Fehlermeldungen vieler postkolonialistischer Länder.

Die Warnungen gegenüber westlichen Demokratiemissionen in der arabischen Welt stützen sich vor allem auf ein Argument: Solange keine Trennung von Kirche und Staat erfolgt, kann es keine wirkliche Demokratie geben. Fundamentalistische Regime gelten als a priori demokratieunfähig. Denn die Herrschaft des Volkes, so gefiltert durch Parlamente und Interessenverbände wie Parteien sie auch im Westen ist, ist nicht mit einer Religion kompatibel, die ihre Zukunftstauglichkeit im Rekurs auf ewige Lehren unter Beweis stellt. Westliche Demokratien gründen maßgeblich auf der Idee des Pluralismus und Toleranz. Religiöse Überzeugungen dürfen allenfalls mittelbar Einfluss auf die Gestaltung politischer Ordnung gewinnen. Gibt es dagegen nur einen Gott und sein unveränderliches Gesetz für alle Menschen, Gläubige wie Missionierungsbedürftige, macht Pluralismus keinen Sinn. Toleranz gegenüber Andersdenkenden und -gläubigen kann unter dieser Voraussetzung nur ein vorübergehender Aufschub sein, der entweder mit Feuer und Schwert oder friedlicher Überzeugungsbildung zu beenden ist.

Religion als missionarisch effizientes Betriebssystem einer Gesellschaft ist mit zahlreichen Folgedifferenzierungen verbunden: Während der Westen mit mehr oder weniger großer Emphase an die Fruchtbarkeit von Konflikten in der Ausbildung politischer Strukturen glaubt, wird in der arabischen Welt dieses verschlungene Spiel von Dissens, Kompromiss und schwer zu erringendem Konsens für ein destruktives Moment politischer Willensbildung gehalten. Die Idee der gespaltenen Machtspitze zwischen Regierung und Opposition (Niklas Luhmann) widerspricht dem arabischen Ideal eines breiten Konsenses, der sich regelmäßig in Wahlergebnissen niederschlägt, die denen früherer sozialistischer Regime nicht unähnlich sind.

Ein weiteres kontradiktorisches Element zwischen westlichen und arabischen Gesellschaften ist die Idee der Gleichheit, die demokratischen Wahlsystemen und Regierungs- wie Parlamentsbildungen zu Grunde liegt. In der arabischen Welt sind Frauen Männern nicht gleichzustellen, die Bildungselite nicht den Analphabeten, Jüngere nicht Älteren etc. Ein Blick auf die patriarchalischen Familienstrukturen macht deutlich, dass die Idee einer väterlichen Herrschaft schon frühzeitig den muslimischen Untertan sozialisiert, dessen familiäre Obrigkeitstreue sich zwangsläufig in die politischen Strukturen hinein verlängert.

Die Idee natürlicher Hierarchien ist auch nicht lediglich als leicht erkennbares Systemversagen arabischer Gesellschaften zu entlarven, wie es eine naive Demokratietheorie hier zu Lande mitunter verkündet. Dem Westen ist es lediglich leidlich gelungen zu verdrängen, dass seine Eliten auch gleicher als gleich sind und sich gegenüber dem demokratischen Gewicht von Massen auf den undurchsichtigen Wegen indirekter Demokratien zur Macht durchsetzen. Dass Eliten Demokratien mehr oder minder beherrschen, ist auch für ihre gegenwärtigen Formen im freien Westen keine Ausnahme, sondern der Regelfall. Der Einfluss des Einzelnen, der nicht in einem mächtigen Parteiapparat und gestützt von pressure-groups agiert, ist so gering, dass die grassierende Demokratiemüdigkeit hier ihre guten Gründe findet. Die westliche Basisideologie der Gleichheit ist de facto überformt von politischen Eliten, wie es das Beispiel Amerikas mit seinen Tendenzen der Erbdemokratie besonders gut demonstriert. Gegen den Widerstand der US-Wirtschaft und ihre großzügige Wahlkampfspenden könnte wohl kaum ein Bürger Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein. Was wäre wohl die Bush-Family ohne die Ölindustrie-Lobby?

Arabischer Widerstand gegen Demokratisierung

Vordergründig verblüffend für westliche Demokratisierer ist der Umstand, dass die arabische Bekanntschaft mit der freien Welt längst nicht in Euphorie umschlägt, diese Werte zu assimilieren. Ein Blick auf die Terroristen des 11.September belegt, dass diese Männer mehrheitlich maßgebliche Lebenserfahrungen im Westen gewonnen hatten. Die hier erfahrene Arroganz der Ideologie freier Gesellschaften und ihre parareligiöse Technologie- und Ökonomiegläubigkeit wurde zu einer hervorragenden Quelle des islamischen Ressentiments.

Die westliche Demokratiemission und ihre neokolonialistische Selbstgefälligkeit wird nicht nur von Fundamentalisten zu Recht verdächtigt, den Islam für die falsche Religion zu halten, die dem christlichen Westen historisch unterlegen ist. Sind die Toleranzedikte unserer Gesellschaft, den Bau von Moscheen und die Unterweisung im Koran zuzulassen, mehr als vorübergehende Lippenbekenntnisse, die sich schnell repressiv outen würden, wenn es wirklich an das Eingemachte geht?

Der Krieg gegen den Terrorismus und höchst selektiv bestimmte Staatsschurken erscheint - nicht zuletzt in der bushistischen Diktion des Kreuzzugs - wie eine Neuauflage der Kolonisierung der arabischen Welt. Und von diesem elefantösen Auftritt im arabischen Porzellanbasar ist es nur noch ein kleiner Schritt für die Muslime, den Westen für das spirituell unterlegene System zu halten. Nun treten im Westen auch immer wieder Gewährsmänner eines demokratisierbaren und freiheitlichen Islam wie etwa Bassam Tibi auf, die nicht müde werden, alteuropäische Aufklärung und Islam für kompatibel zu halten. Aber schon wie bei Lessings - von der Milch der frommen Denkungsart durchtränkten - Ringparabel stellt sich hier die bisher unbeantwortete Frage, welchen Grund missionarische Religionen dauerhaft haben sollten, Ungläubige für nicht bekehrbar zu halten - wenn sie sich nicht wie das müde gewordene Christentum auf Grund ihrer politischen Machtlosigkeit in das Unabänderliche fügen.

Westlicher Demokratieoptimismus

Westliche Demokratieoptimisten folgen in ihren Heilsvorstellungen für die islamische Welt zumeist einem Konzept differenzierender Demokratisierung. Regelmäßig wird konzediert, dass der europäische oder amerikanische Weg zur Demokratie nicht der einzige ist. Gibt es aber ein basales Demokratiekonzept, das zwar nicht alle Eigenschaften westlicher Gesellschaften für exportfähig hält, aber zumindest egalitäre Grundstrukturen und einen elementaren Respekt vor den Menschenrechten?

Hingewiesen wird etwa auf Indonesien, den Staat mit den meisten Muslimen. Dort wurde das diktatorische Suharto-Regime von der Bevölkerung weggefegt. Auch im Emirat Bahrain gelang es den Bürgern, dem Emir Macht abzutrotzen. Paradigmatisch erscheint den Demokratieglobalisierern vor allem aber die Türkei. Die Türkei hat bereits im Blick auf die Integration in die EU ein wirtschafts- und machtpolitisches Interesse, wenigstens einige fundamentalere Eigenschaften westlicher Gesellschaft zu adaptieren. Aber zwischen der Türkei, dem Irak oder Afghanistan liegen ideologische Welten, die bestenfalls vermuten lassen, dass es mindestens so viele Demokratieformen wie gesellschaftliche, ethnische und nationale Besonderheiten geben könnte.

Die islamische Welt ist reich an Abschattierungen zwischen diktatorischen, autokratischen Gesellschaftsmomenten und liberaleren Zügen, wie sie etwa in der Türkei oder Jordanien zu beobachten sind. Irak oder Syrien, aber auch Ägypten sind dagegen über lange Zeiten stramme Ein-Parteien-Systeme, die Bushs gegenwärtigen Glauben, die arabischen Staaten könnten am amerikanischen Wesen genesen, schwer enttäuschen könnten. Selbst in den arabischen Ländern, in denen Opposition in bescheidenem Maße toleriert wird, würde man ihnen keine Macht attestieren, die wie im Westen zu relativ schnellen Fluktuationen zwischen den diversen gesellschaftlichen Einflussgruppen führen könnte.

Noch ist in Bushs Amerika die Diskussion zwischen "Realisten" wie etwa Henry Kissinger, die im Irak für "Regimewechsel" ohne demokratische Überformung optieren, und Neokonservativen, die dem demokratischen Werteuniversalismus anhängen, ein offenes Kapitel. Der Irak wird zwar nun zum Testfall, ob sich stärkere oder weichere Demokratiekonzepte durchsetzen. Eine universale Antwort wird aber unter den genannten Voraussetzungen der heterogenen Strukturen islamischer Gesellschaften auch die Zukunft des Irak nicht vermitteln.

Fest steht nur: Kurzfristige Revolutionen hin zum Ideal westlicher Demokratien sind in islamischen Ländern nicht zu erwarten und wer sie gleichwohl einleiten will, muss mit massiver Gegenwehr und neuen Motiven eines global agierenden Terrorismus rechnen. Die Domino-Theorie, demnach autoritäre Staaten wie labile Spielsteine einer nach dem anderen gleichsam mechanistisch umkippen, scheitert im Zweifel schon an der gesellschaftlichen Verschiedenartigkeit einer Welt, die sich insbesondere auch darin demonstrierte, dass eine panarabische Einigkeit immer eine vergebliche Hoffnung blieb.

Und wer weiß: Vielleicht erweist sich unsere Eingangsvision einer islamisch geeinigten Welt ja als das historisch überlegene Modell. Gerade die Fundamentalisierung, der breite islamistische Widerstand von unten gegen die autokratischen Herrscher, die mit den Herren der freien Welt paktieren, markiert ein unvorhergesehenes Demokratisierungsmoment, das dem Westen mit seinem säkular abgeklärten Demokratiemodell zukünftig noch unheimlich werden könnte.