Die Massenhysterie der Schiiten in Kerbela

Schon Karl May beschrieb die schiitischen "Todeskarawanen", den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten und die Distanz gegenüber den Ungläubigen, die sich heute gegen die Amerikaner richtet

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Schiiten bilden den größten Bevölkerungsteil im Irak. Sie wurden mitsamt ihrer Religion vom sunnitischen Hussein-Regime unterdrückt. Ermuntert von den USA unternahmen sie nach dem Golfkrieg 1991 wie die Kurden einen Aufstand, wurden dann aber von den Amerikanern nicht unterstützt, weswegen die irakische Armee die Revolte brutal zerschlagen konnte. Nicht nur die Erinnerung daran lässt die Schiiten zwar die Befreiung von Hussein begrüßen, aber zugleich auch fordern, dass die Amerikaner möglichst schnell abziehen sollen. Das wurde jetzt auch wieder bei den Feierlichkeiten in Kerbela deutlich, bei denen sich eine Million Schiiten versammelt hatten. Dass die Amerikaner größeren Widerstand oder die Errichtung eines islamischen Staates nach dem Vorbild des schiitischen Iran fürchten, zeigt auch die Warnung, die die US-Regierung an den Iran gerichtet hat, sich nicht in den Aufbau der Regierung einzumischen.

Vor einem Monat war Ashura, der zehnte Tag des islamischen Monats Muharram, der wichtigste Feiertag der Schiiten. Der "Trauermonat", der jetzt zu Ende geht, ist für die Gläubigen im Irak so wichtig wie Weihnachten für Christen oder das Pessach-Fest für Juden. Ashura erinnert an den Tod des ersten Imams Hussein Ibn Ali Ibn Abi Talib, der im Jahr 680 in der Schlacht von Kerbela den Märtyrertod starb. Der Sohn des Kalifen Ali (der Schwiegersohn des Propheten Muhammed) sollte zum Kalifen der irakischen Stadt Kufa ausgerufen werden, geriet aber mitsamt seinen 72 Gefährten in eine Hinterhalt der Soldaten des Omaijaden-Herrschers Yazid von Damaskus und wurde nach erbittertem Kampf grausam abgeschlachtet.

Nur in Deutschland gehört das Wissen um diese Ereignisse im heutigen Irak zum humanistischen Bildungskanon. Die Passionsspiele von Kerbela, die blutige Massenhysterie der Gläubigen zum Gedenken des Martyriums und die Tradition der Todeskarawanen hat der "Volksschriftsteller" Karl May detailliert geschildert. Von Bagdad nach Stambul und der aktuell anmutende Titel In den Trümmern von Babylon werden sogar noch von heutige Orient-Experten zur Lektüre empfohlen. Peter Scholl-Latour schildert in "Allah ist mit den Standhaften" seinen Aufenthalt in Nedschef und Kerbela mit düsteren Worten:

"Schon Karl May, der sich sehr gewissenhaft mit dem Orient befaßt hatte, schilderte die Leichenkarawanen aus Persien, die mit ihren verwesenden Kadavern, entsetzlichen Gestank und Pest verbreitend, durch die Wüste nach Kerbela zogen...Der Kult des Todes, dem sich die Schiia verschrieben hatte, legte sich dem Besucher auf die Brust. Die Luft schien mit Verwesung und Klage gefüllt."

"Todeskarawane, Karwan el Amwat, wie der Beduine sagt, was ist das?" so fragt Karl May seine Leser im Kapitel Beim Turm von Babel. Er schildert dann die Geschichte und die Spaltung des Islam nach dem Tode Mohammeds so korrekt, dass man seine Bücher George Walker Bush statt christlicher Traktate zur Nachtlektüre empfehlen könnte. Die Schiiten wünschen in der Nähe der Begräbnisstätten ihrer heiligen Imame begraben zu werden, weil das garantiert, unmittelbar ins Paradies zu kommen. Seit Jahrhunderten werden die Leichen der Schiiten in so genannten "Todeskarawanen" nach Kerbela und Nedschef gebracht, um dort bestattet zu werden.

"Die Todten liegen in leichten Särgen, welche in der Hitze zerspringen, oder sie sind in Filzdecken gehüllt, die von den Produkten der Verwesung zerstört oder doch durchdrungen werden; und so ist es denn kein Wunder, daß das hohläugige Gespenst der Pest auf hagerem Klepper jenen Todeszügen auf dem Fuße folgt."

Auch die Konflikte zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten, die sich heute im Irak abzeichnen, werden von Karl May literarisch thematisiert.

"Es ist Blut, sehr viel Blut geflossen; es sind Grausamkeiten verübt worden, welche niederzuschreiben sich die Feder sträubt, und noch heut ist dieser Haß nicht verlöscht. Er glimmt fort und fort und bricht bei jeder Veranlassung in helle, vernichtende Flammen aus. Es versteht sich ganz von selbst, daß diese Erbitterung ihre meisten Opfer in den Gegenden sucht und findet, wo Sunniten und Schiiten vermischt wohnen oder aber öfters aufeinander stoßen, und das findet ganz besonders statt in der Grenzprovinz Irak Arabi mit den beiden nicht weit von Bagdad liegenden heiligen schiitischen Städten Nedschef Ali und Kerbela."

Sein Alter Ego Kara Ben Nemsi alias Old Shatterhand und sein Gefährte, dessen Namen auswendig zu lernen schon immer ein Vergnügen war: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah, sehen in Bagdad die Leichenkarawane und geraten mit einem Zuschauer in Streit. Der pöbelt den Sunniten Haschi Halef Omar an:

"Mann, deine Rede ist stolz! Du bist ein Sunnit. Ihr habt Herzeleid gebracht über den echten Kalifen und seine Söhne. Allah verdamme euch bis in die finsterste Tiefe der Hölle hinab!"

Er wendete sich mit einer drohenden Handbewegung von uns ab, und wir hatten da gleich ein Beispiel des unversöhnlichen Hasses, welcher - je länger, desto heller - zwischen Sunna und Schia lodert. Dieser Mensch wagte es, uns in der unmittelbaren Nähe einer Bevölkerung von Tausenden von Sunniten zu beschimpfen; wie erst muß es da einem Manne ergehen, den man in Nedschef Ali oder gar in Kerbela als Nichtschiit entdeckt!

Der Nobelpreisträger Elias Cannetti nimmt den schiitischen Todeskult in Kerbela in seinem Hauptwerk "Masse und Macht" als Beispiel für die "Klagemasse": Klagereligionen seien "für den seelischen Haushalt der Menschen unentbehrlich". Das Ritual des öffentlichen und gemeinsamen Klagens, forciert durch Bußpraktiken wie Geißeln, ersetze das kollektive "Töten in Meuten". Die gläubige Ekstase, in die sich die Schiiten zu den Gedenktagen an den Märtyrertod Husseins fallen lassen, ist eine Art symbolischer Krieg gegen die Ungläubigen, die ihre Gefühle nicht teilen. Die Religion konstituiert sich im rituellen Akt der Klage: "Sie schließen sich einem an, der für sie stirbt, und in der Klage um ihn fühlen sie sich selber als Verfolgte."

Canetti schildert das Muharramfest im April in Kerbela anhand der Reiseerinnerungen des Joseph Arthur Graf von Gobineau, des französischen Gesandten in Persien Mitte des 19. Jahrhunderts. Sein Werk Les Réligions et Philosophies dans l'Asie centrale erschien 1866 und diente auch Karl May als Quelle.

Die literarische Warnung Karl Mays, "Ungläubige" sollten sich in Kerbela und Nedschef sehr vorsichtig benehmen und möglichst unauffällig verhalten, ist also immer noch aktuell. Auch der Konflikt innerhalb der irakischen Schiiten hat schon zu bürgerkriegsähnlichen Situationen geführt. Für den vor einigen Wochen ermordeten Abdel Madschid al-Khoei und seinen Vater waren sowohl Saddam Hussein als auch die Amerikaner gleichermaßen Ungläubige, die sie bekämpften. Jeder, der wie der irakische Oppositionspolitiker Ahmed Dschalabi, in den Verdacht gerät, eine Marionette des Auslands zu sein, ist bei den Schiiten ohne Chance, Einfluss zu gewinnen.

Und das ist unabhängig vom Datum: "Imam Husayn und seine Gefährten haben uns gezeigt, dass man sich keinem ungerechten Menschen unterwerfen darf. Ein Muslim unterwerft sich nur Allah! Aus diesem Grunde heißt es: 'Jeder Tag ist Aschura, jeder Ort ist Kerbala, und jeder Monat ist Muharrem!'"