"Fuck you!"

Spike Lee über New York nach dem 11.September, George W. Bushs Dreistigkeit und "25th HOUR"

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"Fuck you!" - Iren, Juden, Puertoricaner, Schwarze, pakistanische Taxifahrer, weiße Basketballer, Priester, Jesus Christus, Osama Bin Laden - sie alle und viele andere, und vor allem Monty Brogan (Edward Norton) selbst trifft dieser Fluch vor dem Spiegel, der klingt wie eine Hymne, der mehr denn alles eine Liebeserklärung ist an den Melting Pot New York; ein, wenn nicht der Höhepunkt von Spike Lees neuestem Film.

Die 25te Stunde nähert sich unaufhaltsam für Monty Brogan. Am nächsten Morgen muss er, als Drogendealer kein ganz kleiner Fisch, für sieben Jahre in den Knast. Wenn er einst wieder herauskommt, wird nichts, auch er selbst, mehr so sein, wie zuvor. Diese 25te Stunde (nicht 25 STUNDEN, wie der deutsche Unsinnstitel für 25th HOUR lautet), beschreibt schon gestundete, überzählige Zeit.

Noch einmal geht Monty mit seinem Hund durch die Straßen seines Viertels, begegnet Freunden - jedes dieser Treffen ein Abschied. 25th HOUR ist ein Film über Vertrauen und Verrat; zugleich die eindringliche Momentaufnahme der Atmosphäre seiner Heimatstadt. Mehr als alles andere ist dies ein Film über das Post-11.September-New York - genau diese Aspekte fügte Lee (vgl. "Viele Leute warten nur darauf, dass wieder ein bisschen Rassismus erlaubt wird") der Romanvorlage hinzu. Und die Zeichen sind nicht übersehbar. Schon im Vorspann zeigte der Regisseur eindrücklich die riesige Lichtinstallation, die die Konturen des verschwundenen World Trade Center für einige Wochen noch einmal in den Himmel wachsen ließen, man entdeckt Verweise auf die gestorbenen Feuerwehrleute, blickt von oben auf Ground Zero. Untermalt von eindringlicher Musik ist 25th HOUR eine New-York-Nocturne, ein Traumstück, das Anspielungen auf Western und Film Noir zu einer hymnischen Liebeserklärung an die Stadt verschmelzen lässt, dabei Wunden nicht maskiert. Bis zum Ende konzentriert sich der Film aufs Fragen und Offenhalten, verzichtet auf vorschnelle Antworten. Das manchmal martialische Pathos Lees ist dagegen fast völlig verschwunden. Voller visueller und dramaturgischer Intelligenz gelingt ihm stattdessen ein prägnant erzähltes, reifes Zeitportrait, eine kluge politische Parabel über soziale Antagonismen, Integrations- und Ausschlussmechanismen im Amerika der Gegenwart.

Ist 25th HOUR ein Film über die Folgen des 11. September oder über die Stadt New York?

Lee: Beides kann man leider nicht voneinander unterscheiden. Die Romanvorlage wurde vor dem 11.September 2001 geschrieben. Ich interessierte mich für das Projekt auch davor, arbeitete schon etwas daran, und als es dann aber zum 11.September kam, war klar: Man durfte und konnte dies nicht ignorieren. Durch die Anschläge verlagerte sich das Gewicht des Films, wurde er erst zu dem, was ich machen wollte. Diese Entscheidung, den 11.September zu integrieren, fiel in einer Millisekunde. Aber es kostete uns viel Zeit und Überredungskunst, es auch durchzusetzen.

Spike Lee

Ihnen wurde nahegelegt, den 11.September zu ignorieren?

Lee: Na klar! Nach den Anschlägen wollte man erst gar nichts davon hören - sie wissen, dass aus vielen Filme Szenen und Motive getilgt wurden, die an die Attentate erinnern könnten. Was natürlich Blödsinn ist, aber so ist es nun mal.

Oft handelt es sich aber auch um vorauseilenden Gehorsam seitens einiger Macher. Und die Einflussnahme geschieht selten ganz direkt, aber man spürt, was in der Luft liegt. Es war deutlich: Je weniger wir darauf eingehen würden, desto besser. Glücklicherweise habe ich den Final Cut. Es war für uns dann aber auch schwierig, das Ganze umzusetzen, da wir es natürlich nicht Hollywood-like machen wollten. Und es sollte nicht aufdringlich wirken: Wir wollten den 11.9. in seiner alltäglichen Präsenz zeigen. So kam es zur Eingangssequenz, die mir auch deshalb gefällt, weil sie die Handlung des Films zeitlich genau lokalisiert, indem wir jene große Lichtinstallation zeigen, die einen Monat lang das World Trade Center mit Scheinwerfersäulen nachstellte. Das haben wir für den ersten Hinweis auf den 11.9. benutzt. Dann die Figur, die Barry Pepper spielt: Das ist ja ein Wall-Street-Typ - also war es nur plausibel, ihn in einem Luxus-Appartment wohnen zu lassen, das direkt an Ground-Zero grenzt. Nach dem 11.9. konnte man nirgendwo in den USA entlanggehen, ohne das Sternenbanner zu sehen - also haben wir auch das übernommen.

Schließlich: Der größte Teil des New-York-Fire-Department ist irisch-stämmig. Sie erlitten auch die größten Verluste bei den Rettungsarbeiten im World-Trade-Center - über 100 Männer und Frauen. Weil Monty irisch ist, konnten wir diese Elemente leicht integrieren. Der Schrein für die toten Feuerwehrleute, der im Film zu sehen ist, ist echt: Wir haben ihn von einer betroffenen Einheit geborgt. Und dann ist da noch die gefühlvolle Musik von Bruce Springsteen, den ich immer sehr geschätzt habe.

Entspricht die melancholische Atmosphäre ihres Films, die die Bilder, die Musik, alles durchzieht, tatsächlich der derzeitigen Atmosphäre von New York?

Lee: Derzeit schon. New York ist weiterhin in einem Zustand der Angst. Der Tablettenverbrauch hat unter den Menschen von Manhattan enorm zugenommen. Manche New Yorker kleben ihre Fenster mit Klebeband zu - aus Angst vor Gas.

25th HOUR wurde bereits im Herbst 2002 fertig. Wenn wir uns das derzeitige politisch-soziale Klima in den USA vergegenwärtigen: Würden Sie heute etwas an Ihrem Film anders machen?

Lee: Wir würden uns mehr auf Bush konzentrieren. [Lacht] Es ist gut, dass ihr Deutschen Euch nicht von Bush und Blair niederwalzen lasst. Es ist empörend, dass die sich erdreisten, sich als moralische Autorität aufzuspielen, und anderen Ländern die Außenpolitik zu diktieren. Gratulation an Deutschland! Seien wir ehrlich: Bevor die Bushs Präsidenten wurden, waren sie Texas-Cowboy-Ölbarone. Punkt!

George W. Bush ist unter fragwürdigen Umständen an die Macht gekommen. Es stinkt nach Betrug. Warum blieb es trotzdem still im Land, warum lassen die Leute in Amerika sich das gefallen?

Lee: Weil alle "Wer wird Millionär?" glotzen. Und diese anderen stupiden Sendungen und Reality-Shows. Das ist eine der großen Gefahren des Fernsehens: Es narkotisiert. Die Leute stehen einfach unter Drogen.

Sind die Bush's also clever, weil sie verstehen, die Verhältnisse zu manipulieren?

Lee: Ich glaube nicht, dass sie clever sind. Sie sind einfach dreist. Ich denke nicht, dass sie die Wahlen auf sehr clevere Art gestohlen haben. Sie haben noch nicht mal versucht, besonders glitschig zu sein. Sie haben es einfach gemacht: "So. Wir tun das, in breitem Tageslicht - die ganze Welt schaut zu. Scheiß drauf! " Tough! "Wir klauen die Wahlen!" Sie sind tough.

Einer der Höhepunkte Ihres neuen Films ist Montys Monolog vor dem Spiegel: Eine Anklage New Yorks, die in eine Selbstanklage mündet...

Lee: Ja, das ist toll. Die war zunächst gar nicht im Script, obwohl sie aus dem Roman stammt. Für mich ist das ein sehr visueller Moment: Man kann diesen Text zu einer Montage aus Bildern bündeln. Sie hat ihre Bedeutung auf zwei Ebenen: Es ist ein Liebes- und Hassbrief an New York. Und es charakterisiert die Entwicklung der Hauptfigur: Monty macht erst alle anderen verantwortlich für das, was ihm geschieht, aber dann begreift er: Der Schuldige bin ich selbst - so wird die Rede zum inneren Monolog.

Wie stark hasst ein New Yorker seine Stadt?

Lee: Natürlich gehen einem die Bewohner auf die Nerven - ich kurbele schon mal das Taxifenster runter, weil der Fahrer stinkt. Aber kein Hass ohne Liebe. Jeder New Yorker fühlt ambivalent - was ganz natürlich ist, wenn man sich die Stadt in ihrer Vielfalt, ihren Konflikten ansieht.

Ist New York der - realistische, weil komplizierte - Gegenentwurf zum Amerikanischen Westen?

Lee: Nein, ich glaube, das Gegenstück zum Westen ist das Gefängnis, das Monty droht.

Es gibt eine zweite, emotional sehr starke und aus dem Rest des Films auch stilistisch herausgelöste Szene: Eine Phantasie gegen Ende, in der Monty sein Entkommen erträumt, das Leben erträumt, das er vielleicht hätte führen können - eine innere Fahrt in den Westen der USA...

Lee: Das ist der Mythos des Westens: Alles ist frei, man kann neu anfangen; "go west, young man!" Aber es ist eben nur ein Mythos. Keiner redet davon, dass dort schon Leute leben, dass es mal einen Genozid gab... Der Moment im Film ist natürlich sehr emotional. Im Script ist der Text gar nicht so lang - aber wir hatten dann die Sequenz so lange geschnitten, weil wir die Bilder gut fanden. Darum mussten wir noch einiges dazuschreiben.

Sie gelten als Gründungsregisseur des afroamerikanischen Kinos, und zeigten oft "sozial schwächere" Milieus. In Ihren letzten drei Filmen scheinen Sie Neuland zu betreten...

Lee: Ich habe schon immer viele Interessen - und sehr verschiedene. Ich habe mich nicht verändert. In "Summer of Sam" dominiert bereits das Italo-Milieu. Wissen Sie: Ich bin ein unkomplizierter Typ. Wenn etwas zu mir spricht, dann werde ich es nicht ablehnen. Diesem Buch fühle ich mich sehr nahe. Der Film spricht für sich selbst.

Das letzte Jahr galt als Triumph des afro-amerikanischen Kinos - auch wegen der drei Oscars für Halle Berry, Denzel Washington und Sidney Portier... Wie geht es diesem Kino derzeit?

Lee: Es tritt auf der Stelle. Ich habe nie daran geglaubt, dass sich nach dem Vorjahr alles ändert. Und es gibt leider nicht viele Gemeinsamkeiten - stilistisch, politisch. Für mich persönlich war Michael Moores BOWLING FOR COLUMBINE der beste Film des Jahres.

Wo sehen Sie sich persönlich stehen? Ein Underdog sind Sie ja nicht mehr..

Lee: Ich bin weiter ein Underdog. Ich bin von Hollywood angebunden. Es sieht vielleicht nicht immer danach aus, aber das ist die Realität.

Fürchten Sie sich etwa davor, zum Establishment zu gehören?

Lee: Meine Furcht ist, keine Finanzierung für meinen nächsten Film zu bekommen. Das wird härter und härter und härter. Die gucken nur aufs Boxoffice - was anderes haben sie nicht im Kopf.