Diderots Traumtagebuch

Tanz der Gehirne, Teil 3

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Wikipedia ist nicht die einzige Website, deren Inhalte von vielen Nutzern gemeinsam erstellt werden. Spin-Off-Projekte verwenden die Wikipedia-Software für andere Ziele, Info-Communities wie Everything2 und H2G2 heben sich durch eigene Regeln, Funktionen und Oberflächen von der Welt der Wikis ab. Doch während in Wikis jeder alles bearbeiten darf, wird hier getrennt gewerkelt, häufig an Artikeln zum gleichen Thema. Auch diese Communities zeigen, wie groß die Bereitschaft der Nutzer ist, ihr gesammeltes Wissen anderen frei zur Verfügung zu stellen - aber auch, wie bedeutsam die Idee des "Open Content" ist, und wie schwer es sein kann, hochwertige Informationen zu finden.

Die frei verfügbare Wikipedia-Software ist ideal für Wissensbasen aller Art, und so verwundert es nicht, dass verschiedene Spin-Off-Projekte entstanden sind. Das bekannteste davon ist wohl die Disinfopedia von Sheldon Rampton. Rampton ist zusammen mit John Stauber Autor der Bestseller "Toxic Sludge is Good For You" und "Trust Us, We're Experts", die im Detail erklären, wie PR-Agenturen und Think-Tanks die öffentliche Meinung zugunsten ihrer Auftraggeber beeinflussen. Die Bücher handeln von der Pseudowissenschaft der Tabakindustrie und vom Aufbau falscher "Graswurzel-Bewegungen", die sich im Namen der Konsumenten gegen deren Rechte engagieren; von Auftragswissenschaftlern und solchen, deren Forschungsergebnisse gezielt vertuscht wurden; vom Einsatz von Propaganda in Kriegen und Unternehmenskrisen.

Rampton hat sich damit international einen Namen als "Desinfo"-Experte gemacht; im Rahmen seiner Organisation Center for Media and Democracy betreibt er bereits seit längerem die Website P.R. Watch, die einen täglichen Newsletter über die Machenschaften der Propaganda-Industrie herausgibt. Von Wikipedia erfuhr er erstmals auf der World Information Conference in Amsterdam im Dezember 2002. Sofort war er von der Idee begeistert und nutzte seine IT-Kenntnisse, um mit der Software zu experimentieren. Die erste Version von Disinfopedia machte er noch im gleichen Monat ausgewählten Besuchern zugänglich, die nächsten Wochen verbrachte er damit, die Website mit Inhalten zu füllen. Am 10. März ging das Projekt schließlich an die Öffentlichkeit.

Die Website grüßt mit dem ehemaligen Logo der Pentagon-Überwachungsinitiative Total Information Awareness: das leuchtende Auge in der Pyramide, das die ganze Welt erfasst - ein gefundenes Fressen für Verschwörungstheoretiker. "Total Disinformation Awareness" verspricht die Website, und verzeichnet mittlerweile immerhin um die 1000 Texte. Dabei handelt es sich oft um längere Artikel aus den Büchern oder Zitate von relevanten Websites.

Wie Wikipedia steht auch Disinfopedia unter der GNU FDL. Dank der kompatiblen Lizenzen können Texte direkt aus Wikipedia übernommen werden. Anstatt der Doktrin vom neutralen Standpunkt soll sich in Disinfopedia aber alles "fair und akkurat" abspielen; wenn ein Standpunkt nur von einer Minderheit aus finanziellen Motiven verbreitet wird, verdient er in Disinfopedia keine ausführliche Behandlung.

Die Meinungsmacher

Wie Propaganda funktioniert soll mit Fallstudien illustriert werden. Der Artikel Coalition for Southern Africa erklärt beispielsweise, wie Shell mit Hilfe einer PR-Agentur versuchte, Boykotte wegen seiner Geschäftsbeziehungen zum Apartheid-Regime in Südafrika abzuwenden: Eine "Koalition für Südafrika" wurde gegründet, die in der Öffentlichkeit betonen sollte, wie sehr sich Shell doch gegen Apartheid und für die Gleichstellung von Schwarzen einsetze. Auch aktuelle Themen werden behandelt: Der öffentlich organisierte Sturz der Hussein-Statue in Bagdad wird kurz dokumentiert, der Artikel über SARS vergleicht die Reaktion auf die Lungenkrankheit durch die kanadische und die chinesische Regierung.

Ein Verzeichnis listet die zahlreichen industriefinanzierten "Experten" auf, die als Kronzeugen gegen "Mythen" wie die globale Erwärmung oder die Schädlichkeit des Passivrauchens angeführt werden, aber auch Think Tanks und industrie-freundliche Organisationen werden katalogisiert.

Disinfopedia ist eine wichtige Ressource, doch das Themenspektrum erfordert viel Vorwissen. Bisher gibt es das Projekt nur auf Englisch, eine deutsche Version ließe sich bei Bedarf aber leicht aufsetzen. Bleibt die Frage, inwieweit Disinfopedia selbst zum Ziel von Desinfo-Kampagnen werden könnte. Nicht industriefreundliche Kampagnen wären das Problem, sondern hochmotivierte Nutzer, die scheinbar korrekte Informationen mit unscheinbaren Fehlern, falschen Quellenangaben usw. einfügen oder die Glaubwürdigkeit des Projekts auf andere Weise unterminieren.

Andere Spin-Off-Projekte von Wikipedia existieren. Die AsiaOSC Open Source Knowledge Base und das deutsche OpenFacts-Projekt verfolgen ähnliche Ziele. Beide wollen das Wissen der OSS-Bewegung dokumentieren, wobei sich AsiaOSC auf Entwicklungen im asiatischen Raum konzentriert und OpenFacts auf die Erstellung von Dokumentation. OpenFacts ist verhältnismäßig inaktiv, aber eng an die BerliOS-Entwicklerplattform gekoppelt - jedes bei BerliOS registrierte Projekt erhält automatisch eine Seite im Wiki.

Das Consumerium-Projekt möchte freie Software für die Verwaltung von Produktinformationen für Konsumenten entwickeln und bedient sich zur Informationsorganisation eines Wikipedia-basierten Wikis. Unilang dagegen ist eine schnell wachsende Community "von und für Sprach-Freaks", die Informationen über Grammatiken und Vokabular der verschiedensten Sprachen sammelt. Das Wikipedia-Team hat zu einem ähnlichen Zweck das Wiktionary-Projekt gestartet, das sich zum weltgrößten Wörterbuch in allen Sprachen entwickeln soll. Mit immerhin schon rund 2700 Einträgen wächst Wiktionary recht schnell, doch hier gibt es zahlreiche kostenlose Alternativen im Web, die i.d.R. noch deutlich umfangreichere Infos bringen. Alle diese Projekte sind Open Content, OpenFacts verwendet anstelle der FDL die Public Domain.

Wikipedia-Spinoffs profitieren von der schnellen Entwicklung der Software, unterscheiden sich aber natürlich in ihrer Funktionalität nicht wesentlich vom großen Vorbild. Anders sieht es bei den Projekten Everything2 und H2G2 aus: Bei beiden handelt es sich um offene Wissensdatenbanken, doch sie funktionieren gänzlich anders als die bisher diskutierten Wikis.