Die Jagd ist eröffnet

Die deutsche Militärpolitik wird umgekrempelt - niemand scheint es groß zu interessieren

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Viel wird in den deutschen Medien über die Veränderungen berichtet, die mit dem Amtsantritt Bushs, sowie 9-11 und den Konsequenzen über die US-amerkanische Gesellschaft hereingebrochen sind. Die teilweise alptraumhaften Konturen eines harscheren Standes der Dinge, von der Perspektive eines ewigen Kriegs gegen den Terror bis zum ewigen Kriegsrecht im Inneren werden in Deutschland mit großer Schärfe wahrgenommen. Dass Deutschland ernsthafte Anstrengungen unternimmt, im Rahmen seiner Möglichkeiten die USA nachzuahmen, ganz ohne Bush und 9-11, interessiert dagegen nicht wirklich. Oder man hält es bereits für selbstverständlich.

Denn wie anders ist es zu erklären, dass die Veränderungen in der deutschen Militärpolitik auf so wenig Resonanz im Inland stoßen? Dabei gäbe es allen Grund, die Ohren zu spitzen. Was aus dem Hause Struck als Strategiepapiere über eine Öffentlichkeit hereinbricht, die gerade woanders hinsieht, bereitet einen massiven Paradigmenwechsel vor.

Natürlich war die Bundeswehr nie eine Verteidigungsarmee. Reine Verteidigungsarmeen gibt es ohnehin nicht, und das ganze Hoffen der beiden Großparteien im Kalten Krieg bestand darin, vielleicht doch noch einen strategischen Vorteil über den Gegner zu erlangen, der einen Angriffskrieg zumindest denkbar erscheinen ließ, wobei die Sowjetunion und ihr Gefolge immer mehr ins Hintertreffen geriet - bis zum Zusammenbruch. Wie nicht anders zu erwarten hat dieser Zusammenbruch nicht nur im ehemaligen Ostblock die Karten neu gemischt - im Zeichen globaler kapitalistischer Konkurrenz ergeben sich auch in den Allianzen der Sieger von 1989 neue Bruchlinien und Verwerfungen. Diese Verwerfungen und Bruchlinien sind es, vor denen die Auseinadersetzungen zwischen den USA und dem "alten Europa" erst Sinn bekommen - genauso wie die neue deutsche Militärpolitik.

Und so darf sich jetzt die Bundeswehr laut Bundesverteidigungsminister Struck darauf vorbereiten, die deutsche Sicherheit und Freiheit am Hindukusch zu verteidigen, wie sie es mit den explorativen Einsätzen der KSK zur Probe bereits getan hat ("Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt").

Der volle Gehalt dieser Aussage wird erst kenntlich, wenn man ihn mit einem anderen, historischen, vergleicht, der auch von der Verteidigung der Freiheit handelt. Vor 35 Jahren hieß es, die Freiheit Berlins werde auch in Vietnam verteidigt. Die zeitgenössischen Bekenntnisse Strucks zu grenzenloser Freiheit klingen ganz ähnlich, meinen aber ganz etwas anderes: damals war Deutschland war zu schwach, zu unsouverän, um selbst in Südostasien mitzumischen und musste diese Aufgabe daher an andere outsourcen.

Diese Zeiten sind endgültig vorbei. Struck sagt nichts anderes mit seinem schnellen Spruch, als dass er die Zeit für einen neuen deutschen Imperialismus gekommen sieht, der nicht mehr aus Überweisungen an die Bündnispartner besteht. Und im Gefolge der Verstimmungen zum Irakkrieg werden natürlich auch die Bündnispartner neu gesiebt - die Guten ins Töpfchen, die schlechten sonstwohin. Natürlich kann Deutschland weder allein, noch mit den guten Bündnispartnern Frankreich und Russland offen die militärische Übermacht der USA herausfordern, aber so ein verräterisches Statement wie dasjenige Strucks belegt, dass man begriffen hat, worum es geht - um die Wurst nämlich.

Die führenden kapitalistischen Ökonomien sind nach Verteilung der staatssozialistischen Konkursmasse an Grenzen gestoßen, vor allem an systemimmanente der Verwertbarkeit von Ressourcen und Arbeitskraft, aber auch an jene der unüberwindlichen Konkurrenz untereinander. Leute wie Struck haben instinktiv die Dialektik einer Entwicklung begriffen, in der gerade aus der Verwirklichung des Weltmarkts Blöcke und Fraktionen entstehen, die ihre ganz eigenen Partikularinteressen verfolgen müssen.

Früher unter dem Druck eines gemeinsamen Gegners geeint, entdecken die westlichen Bündnispartner ihr Interesse an neuen Ordnungen im je eigenen Sinne. Wer glaubt, dass diese Divergenzen wegen der globalen Verflechtung des Kapitals niemals deutlich genug für einen Krieg sein könnten, der hätte vor 1914 auch geglaubt, dass die Verwandtschaftsbeziehungen der europäischen Adelshäuser einen großen europäischen Krieg, einen Weltkrieg gar, unmöglich machen würden. Wenn es beim Erben um die Wurst geht, streiten Verwandte am blutigsten - wissen sie doch genau, was die Silberlöffel wert sind.

Und so sammeln die ehrgeizigen deutschen Eliten erst einmal Punkte, ob es sich dabei um das diplomatische Ballett zum letzten Irakkrieg, die Systemführerschaft bei Galileo, Erfahrungen mit kernwaffenfähigem Material oder eben die Umorientierung der Bundeswehrstruktur auf Intervention und Angriff handelt (Mit Sicherheit unsicher).

Die Ideologie der Landesverteidigung und mit ihr das Grundgesetz werden zu einer fast durchsichtigen Membran gedehnt. Struck erklärt in seinen neuen verteidigungspolitischen Richtlinien, dass Verteidigung etwas anderes bedeutet als Verteidigung, nämlich die Fähigkeit, so schnell wie möglich dort präsent zu sein, wo deutsche Interessen tangiert werden (Die Verteidiger der Zivilisation). Deutschland aber hat Interessen auf der ganzen Welt.

Nach Artikel 87a des Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Verteidigung heute umfasst allerdings mehr als die herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge ein. Dementsprechend lässt sich Verteidigung geografisch nicht mehr eingrenzen, sondern trägt zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer diese gefährdet ist.

Landesverteidigung findet neuerdings auch im Landesinneren statt:

Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten. Auch wenn dies vorrangig eine Aufgabe für Kräfte der inneren Sicherheit ist, werden die Streitkräfte im Rahmen der geltenden Gesetze immer dann zur Verfügung stehen, wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen oder wenn der Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie kritischer Infrastruktur nur durch die Bundeswehr gewährleistet werden kann. Grundwehrdienstleistende und Reservisten kommen dabei in ihrer klassischen Rolle, dem Schutz ihres Landes und ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger, zum Einsatz.

Diese Definition der Landesverteidigung hätte noch nicht vor allzu langer Zeit einen Aufschrei hervorgerufen - jetzt rührt sich dazu nicht ein Hauch. Der Umbau der Bundeswehr zu einem weltweiten Interventionsinstrument wird wie ein Wechselfall des Wetters achselzuckend hingenommen - höchstens ein paar Ministerpräsidenten begehren dagegen auf, weil er ihnen wirtschaftsfördernde Bundeswehrstandorte aus der Hand zu nehmen droht.

Schon gleich gar nicht interessiert die Zusammenhänge zwischen der neuen deutschen Militärpolitik und der Agenda 2010, zwischen der äußeren und der inneren Mobilisierung. Dabei liegen sie auf der Hand. Der Kampf um die Pole Position erfordert neben einem schlagkräftigen und agilen Instrument weltweiter Interessenwahrung vor allem eins: Einigkeit und Bereitschaft im Inneren.

Und so hört man landauf, landab in der politischen Propaganda, sei's nun in der der SPD oder der des Bürgerkonvents, immer öfter die Beschwörung eines großen "Wir": "Wir" können es schaffen. "Wir" müssen nur anpacken und den Gürtel enger schnallen. So verschieden die Interessen verschiedener (und verschieden großer) Bevölkerungsschichten auch sein mögen, das neue deutsche "Wir" soll sie alle unter einen Hut bringen. Schon der zaghafte Versuch der handzahmen DGB-Gewerkschaften, einen sozialen Konflikt nur anzudeuten, wird mit dem empörten Verdacht des Standortverrats beantwortet. Nichts läge dem DGB an sich ferner, aber auch er lebt in interessanten Zeiten, in denen er sich zu Entscheidungen zwischen den Interessen seiner Mitglieder und denen einer neoliberal rundgemachten SPD genötigt sieht.

Wer sich in Zukunft allzu weit vom neuen deutschen "Wir" entfernt, könnte es nach den Vorstellungen des Bundesverteidigungsministers nicht nur mit der ständig stärker militarisierten Polizei, sondern auch mit dem echten Militär zu tun bekommen, das dann die Freiheit Berlins auch in Berlin zu verteidigen bereit stünde. Damit es so weit erst gar nicht kommt, versichert sich der Kollege Strucks für das Innere, Otto Schily, bereits der allerhöchsten Unterstützung. Auf dem letzten Kirchentag hatte er zu vermelden:

Der liebe Gott hat es so eingerichtet, dass jeder eine einzigartige, nicht fälschbare Iris hat. Der liebe Gott tut etwas für die innere Sicherheit.

Fehlen eigentlich nur noch die richtigen Intellektuellen, die dem entstehenden starken Kerneuropa mit einem noch stärkeren deutschen Kern die passenden Blümchenketten umhängen. Alles schon da? (Vision reloaded: Das spätaufgeklärte Europa der Philosophen)

Wir leben alle in interessanten Zeiten.