Telefonie und Idiotie

Literarische und medientheoretische Marginalien zur Mobilkommunikation

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"Das Grauen stieg aus der Themse", "Blackout" oder "Ein perfekter Mord": Das sind nur einige der akustischen Leckerbissen, mit denen das Audioprogramm der ICEs derzeit bahnreisende Literaturliebhaber delektiert.

Unverschämter Idiote, wirst du mir aus den Ohren gehen?

Frei nach G.E. Lessing

Neben dem "Delectare" gilt bekanntlich das "Prodesse" als eine wichtige Funktion der Literatur und in dieser Hinsicht dient sie z.B. als ein Speicher der Erinnerung an vergangene kommunikative Praktiken und mediale Techniken, die uns in der Retrospektive hin und wieder merkwürdig oder zumindest bemerkenswert erscheinen:

Wenn beispielsweise Augustinus in seinen "Confessiones" explizit hervorhebt, dass der heilige Ambrosius niemals laut las und bei der Lektüre eines Buches die Zunge nicht bewegte1, dann werden wir daran erinnert, dass es einst eine Zeit gab, in der das für uns selbstverständliche leise Lesen keinesfalls eine Alltagserscheinung, sondern eine seltene Merkwürdigkeit war, über die zu berichten sich lohnte.

Und wenn - um ein ganz anderes Beispiel zu nehmen - Jean Paul in der "Vorschule der Ästhetik" behauptet, dass das Verhältnis zwischen Autor und Leser in Analogie zum Verhältnis zwischen Telegraph und Fernrohr (!) zu verstehen sei2, dann werden wir daran erinnert, dass es einst eine Zeit gab, in der hölzerne Signalarme optischer Telegraphen Nachrichten mit Lichtgeschwindigkeit verschickten und in der Fernrohre als visuelle Empfangseinheiten dienten. Die scheinbar merkwürdige Verknüpfung zwischen Telegraph und Teleskop entpuppt sich daher als Selbstverständlichkeit des medialen Alltags im frühen 19. Jahrhundert.

Eine Erzählung aus dem frühen 20. Jahrhundert stellt in diesem Kontext ein Beispiel besonderer Art dar, weil sie zumindest einigen Lesern des frühen 21. Jahrhunderts deutlich machen kann, wie sehr sich zurzeit kommunikative Selbstverständlichkeiten wandeln. Die Rede geht von Franz Kafkas Text "Der Nachbar"3, in dem ein Geschäftsmann über die Probleme klagt, die sich nach dem Einzug eines Konkurrenten in das Büro nebenan ergeben:

Mein Telephon ist an der Zimmerwand angebracht, die mich von meinem Nachbar trennt. Doch hebe ich das bloß als besonders ironische Tatsache hervor. Selbst wenn es an der entgegengesetzten Wand hinge, würde man in der Nebenwohnung alles hören. Ich habe mir abgewöhnt, den Namen der Kunden beim Telephon zu nennen. Aber es gehört natürlich nicht viel Schlauheit dazu, aus charakteristischen, aber unvermeidlichen Wendungen des Gesprächs die Namen zu erraten. - Manchmal umtanze ich, die Hörmuschel am Ohr, von Unruhe gestachelt, auf den Fußspitzen den Apparat und kann es doch nicht verhüten, daß Geheimnisse preisgegeben werden.

Kein Zweifel: Hier will jemand ungestört telefonieren und niemand soll Gespräche vertraulichen Inhalts mithören. Ebenfalls kein Zweifel: In ein paar Jahren wird dieser Wunsch für viele Leser nicht mehr nachvollziehbar sein. Und der handysozialisierten "Generation @" erscheinen die Sorgen des Ich-Erzählers unter Umständen bereits heute unverständlich und kafkaesk, denn - das hat Gundolf S. Freyermuth in seiner "Kommunikette 2.0" eindrucksvoll beschrieben - durch die "Nomadisierung des Telefons" ist die "über ein Jahrhundert gültige Ansicht vom intimen Charakter fernmündlichen Kontakts"4 nahezu verschwunden.

Die Auswirkungen dieses kommunikativen Paradigmenwechsels sind wahrscheinlich nirgendwo deutlicher zu spüren als in den rollenden Kommunikationslaboratorien der Bahn, zumindest dann, wenn man nicht gerade im Literaturkanal das Grauen aus der Themse steigen hört: Nahezu ständig werden ganze Großraumwagen mit einst vertraulichen Geschäftsinterna (von Adressen bis zu kompletten Bankverbindungsdaten) und ehedem privaten Details (von peinlichen Kosenamen bis zu kompletten Beziehungsanalysen) beschallt und durchaus seriös wirkende Menschen verwandeln sich in Karikaturen ihrer selbst, wenn sie plötzlich via Cell-Phone mit ihrem "Puschel-Hasi" sprechen und zum Abschied nicht leise "Servus" sagen, sondern viel zu laut "Ich dich auch, Mummelchen!" brüllen.

Der typische, in der Lautstärke anschwellende Handy-Gesang ist wahrscheinlich Ausdruck eines archaisch-untergründigen Misstrauens dem Medium gegenüber und einer noch ausstehenden Domestizierung der mobiltelefonischen Stimme: Während eines mobilen Telefonats unter vier (bzw. zwei) Ohren wird in der Regel deutlich lauter gesprochen als während eines Gesprächs unter vier Augen, weil die Handynutzer in der inkunablen Phase des neuen Mediums noch nicht gelernt haben, dem Mobiltelefon zuzutrauen, auch das nicht-gebrüllte Wort oder gar ein Flüstern zu übertragen.

Strukturwandel des Privaten und des Öffentlichen

Ein festnetzsozialisierter Zeitgenosse für den - ähnlich wie für McLuhan - das "Abhören von Telefongesprächen noch verwerflicher als das Lesen fremder Briefe"5 ist und der immer wieder gezwungen wird, in die akustische Privatsphäre Unbekannter einzudringen, wird angesichts des absurden Mobiltelefontheaters oft im Stillen denken: "Was sind das bloß für Idioten!" Doch während der "idiotes" den Griechen ursprünglich als ein Mensch galt, der sich nicht am öffentlichen Leben der Polis beteiligte und sich stattdessen ins Privatleben zurückzog, folgt der moderne Cell-Phone-Idiot im Zeitalter nomadischen Telefonierens diametralen Grundsätzen: Er beteiligt die Polis an seinem Privatleben, indem er ungefragt Intimstes an die Öffentlichkeit trägt.

Eventuell kann jedoch die Philosophie als ancilla telephonicae dienen, wenn man erklären will, warum das Problem potenzieller Mithörer, das Kafkas Ich-Erzähler noch die "Stimme zittrig" werden ließ, für moderne Mobilkommunikatoren schlicht inexistent ist: Vertreten die Cell-Phone-Idioten etwa eine Form des lokalen Solipsismus und kommunikativen Realismus? Nehmen sie an, dass es an dem Ort, an dem sie sich gerade befinden, nur sie selbst gibt ("hic solus ipse") und dass darüber hinaus nur derjenige existiert, der gerade angerufen wird ("esse est vocari")? Glauben sie vielleicht, dass der Nachbar als möglicher Mithörer gar nicht existiert, solange man nicht mit ihm telefoniert?

Um den Strukturwandel des Privaten und des Öffentlichen durch die ubiquitäre Mobilkommunikation adäquat beschreiben zu können, wird man auch auf die Begriffe "Oralität" und "Literalität" nicht verzichten können, denn während die telefonische Oralität inzwischen einen Zwitterstatus erlangt hat, weil sie sich de facto zwar im öffentlichen Raum bewegt, inhaltlich jedoch nach wie vor privaten Charakter besitzt, bleibt die Literalität exklusiv mit der Sphäre des Privaten verbunden: Ein privates, medial mündliches Telefongespräch (orale Dimension) wird öffentlich geführt, eine private, medial schriftliche SMS-Nachricht (literale Dimension) wird selbstverständlich nicht öffentlich vorgelesen. Sie ist eine "geheime Botschaft" des zivilisiert-literalen Augenmenschen.

Eine optimale Lösung des Problems der Cell-Phone-Idiotie könnte ein Handy sein, das der Sender nur anschauen muss, um mit seiner unhörbaren inneren Stimme eine mündliche Nachricht zu sprechen, die am anderen Ende der Leitung technisch gewandelt und deutlich vernehmbar direkt in das Ohr des Empfängers gelangt. In einer medialen Phantasie kommt der Festnetz-Literat Franz Kafka diesem kommunikativen Paradoxon erstaunlich nahe, wenn er in seinem Roman-Fragment "Amerika" die neuesten Telefone beschreibt6,

"für die keine Telephonzelle nötig war, denn das Glockenläuten war nicht lauter als ein Zirpen, man konnte in das Telephon mit Flüstern hineinsprechen und doch kamen die Worte dank besonderer elektrischer Verstärkungen mit Donnerstimme an ihrem Ziele an. Deshalb hörte man die [...] Sprecher an ihren Telephonen kaum und hätte glauben können, sie beobachteten murmelnd irgendeinen Vorgang in der Telephonmuschel.

Hie und da ein leises Zirpen, dann und wann und kaum vernehmbar ein wenig Gemurmel: Kafka gehört auf die Titelseite des Bahnmagazins, in das Faltblatt "Ihr Reiseplan" und in den Literaturkanal des ICE-Audioprogramms.

Literatur