Massenverfettungswaffen

Lebensmittelkonzernen drohen womöglich ähnliche Klagen wie der Tabakindustrie, weil manche ihrer Produkte süchtig machen und zur globalen Epidemie der Fettleibigkeit beitragen können

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Unsere Gesellschaften vergreisen nicht nur, die Menschen werden auch immer fetter. Beides ist nicht nur ein Problem der Industrieländer, sondern es sind globale Trends. Dabei läuft die globale Verfettung - die "globesity" - parallel zur Unterernährung und zum Hunger in vielen Ländern. Ein Grund der Verfettung liegt in der Verbreitung der industriell hergestellten Lebensmittel, die nicht nur besonders fetthaltig sind und viele Kohlenhydrate besitzen, sondern auch Lebensmittelzusätze enthalten, die auf das Gehirn einwirken und die Menschen zum Fressen verführen.

Nach der Weltgesundheitsorganisation betrifft die Fettleibigkeit alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten in den Industrie- und Entwicklungsländern, wenn natürlich auch auf unterschiedliche Weise. 1995 ging man von etwa 200 Millionen übergewichtigen Menschen aus, im Jahr 2000 sollen es schon 300 Millionen geworden sein, davon über 100 Millionen in Dritte-Welt-Ländern. Folge ist ein Anstieg von Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bestimmte Krebsarten, die zu vorzeitigem Tod führen können, aber auch die Gesundheitssysteme der Gesellschaften erheblich belasten. Jährlich sollen 2,5 Millionen Menschen an den Folgen der Fettleibigkeit sterben. Die WHO warnt vor einer anrollenden Adipositasepidemie. In den USA hat US-Präsident Bush bereits eine Initiative gegen die Verfettung der Bürger der wehrhaften Supermacht eingeleitet (Bush will schlankere Bürger für die Nation). Auch Verbraucherministerin Künast hat sich des Problems angenommen und warnte unlängst:

Jedes fünfte Kind und jeder dritte Jugendliche ist übergewichtig. 7 bis 8% der Kinder sind adipös. Damit ist Übergewicht die häufigste ernährungsmitbedingte Gesundheitsstörung von Kindern in Deutschland. .. Wenn wir diesen Trend nicht aufhalten, so rechnen Experten damit, dass in 40 Jahren jeder 2. Erwachsene adipös sein wird.

Zum Übergewicht tragen viele Faktoren bei. Die Menschen essen zuviel, zuviel Fettes und Zuckerhaltiges, sie bewegen sich zu wenig und essen mehr und mehr fertig zubereitete Produkte. Doch scheint die Lebensmittelindustrie ähnlich wie zuvor die Tabakindustrie nicht nur für die Gesundheit riskante Produkte anzubieten, sondern auch, trotz besseren Wissens, Zusätze einzufügen, um primär deren Geschmack zu verbessern, die aber auch die Fresssucht stärken. Bekanntlich hatten sich die Zigarettenfirmen lange dagegen gewehrt, dass ihre Produkte schädlich seien oder dass die Zusätze, die auch hier den Geschmack verbessern sollten, die Abhängigkeit steigerten. Entsprechende Untersuchungen hielt man lieber vor der Öffentlichkeit zurück. Die Wissenschaft musste herhalten, um nichts tun zu müssen. Das Standardargument ist, wie beispielsweise auch beim Elektrosmog, dass sich gesundheitliche Folgen nicht eindeutig auf eine Ursache zurückverfolgen lassen.

Das war beim Rauchen schon eine seltsame Argumentation, dient aber nun auch der Lebensmittelindustrie dazu, erst einmal Forderungen nach einer Veränderung ihrer Produkte abzulehnen. Immerhin scheint man aber allmählich in der Lebensmittelindustrie, die die Massenverfettungsmittel herstellt, aufzuwachen - allerdings wohl nur, weil man Prozesse fürchtet, die zu Milliardenzahlungen wie im Fall der Tabakkonzerne führen könnten. Kraft, einer der weltweit größten Nahrungsmittelhersteller, hat etwa eine globale Kampagne gegen Übergewicht gestartet, warnt etwa nun schon die Kunden vor seinen Produkten, bietet Rezepte an und will den Fett- und Kohlenhydratanteil in seinen Produkten heruntersetzen (Fremde fette Welt).

Noch aber geht es nur um die Größe der Portionen und Fett sowie Zucker. Hier kann man sagen, dass die Menschen eigentlich wissen sollten, was sie zu sich nehmen, und daher selbstverantwortlich für die ihre Fettleibigkeit und die ihrer Kinder sind. Aber Bestandteile von fetten, süßen und salzigen Lebensmitteln wie Keksen, Chips oder Burgers können womöglich auch das Gehirn beeinflussen und die Abgabe von körpereigenen Opioiden anregen, die für Fresssucht sorgen und die Esskontrollen abbauen.

Schon länger ist bekannt, dass Tiere wie Mäuse oder Ratten, die mit einer fett-, zucker- und salzreichen Nahrung gefüttert werden, Zeichen der Sucht zeigen. Wurde Ratten beispielsweise zunächst Nahrung mit einem Anteil von 25 Prozent Zucker gegeben, so entwickelten sie bei normalem Futter Entzugssymptome wie Angst, Zähneklappern oder Zittern. Der Zucker setzt natürliche Opioide im Gehirn frei. Die Sucht ist dabei freilich kurzlebig. Wahrscheinlich entsteht sie, wenn etwa der Blutzuckerspiegel schnell ansteigt und wieder abfällt. Umgekehrt konnte die Neurowissenschaftlerin Ann Kelley beobachten, dass Ratten, wenn sie eine synthetisch erzeugte Substanz, die dem natürlichen Opioid Enkephalin entspricht, direkt in das Gehirn injiziert bekamen, eine Gier auf Fettes, Salziges und Süßes entwickelten und sechs Mal so viel aßen wie gewöhnlich.

Jurist droht mit Klagen gegen die für Dickleibigkeit mitverantwortlichen biochemischen Monster

Wie der Telegraph berichtet, sollen Wissenschaftler im Auftrag von Nestle und Unilever bereits untersucht haben, wie bestimmte Lebensmittelprodukte die Menschen zum Essen anreizen. Die Unternehmen hätten selbst den Verdacht, dass ihre Lebensmittelprodukte die Kontrolle für die Nahrungsaufnahme unterlaufen und, wie sich ein Wissenschaftler ausdrückte, sie ein "biochemisches Monster" geschaffen haben. Öffentlich allerdings bestehen die Unternehmen darauf, dass es für Suchtwirkungen von Lebensmitteln keine empirischen Nachweise gebe.

Übermäßiges Essen hat, so Wissenschaftler der University of Essex, vermutlich auch etwas mit der Freisetzung von Opioiden zu tun. Diese unterdrücken das Gefühl der Sättigung. Auch wenn die Wirkung nur kurzzeitig ist, kann sich das auf die Menge der verzehrten Nahrung auswirken. Besonders stark wird offenbar die Freigabe von Opioiden durch Lebensmittelprodukte bewirkt, die aus Bestandteilen mit viel Fett und Kohlenhydraten bestehen. Als solche Geschmacksverstärker dienen beispielsweise Schokolade in Keksen, Käse in Snacks oder Bohnen mit hohem Zuckergehalt in Ham- oder Cheeseburgers. Aber wenn das Essen besser schmeckt, dann ist das eben eine Folge dessen, was es im Gehirn bewirkt.

Ein Sprecher von Nestle, so der Telegraph, bestätigte zwar, dass das Unternehmen schon länger die Rolle von Geschmacksverstärkern und Opioiden für die Nahrungsmittelaufnahme untersuche, sagte aber nur, dass man die "notwendigen Änderungen" durchführen werde, "wenn es signifikante wissenschaftliche Beweise gibt, die das unterstützen". Allerdings könnte den Unternehmen John Banzhaf von der George Washington University in die Quere kommen, der bereits eine wichtige Rolle bei den Sammelklagen gegen die Tabakkonzerne gespielt hat. Er stand bereits hinter einer 12-Millionen hohen Schadensersatzklage gegen McDonald's, in der erreicht wurde, dass das Unternehmen den Fettgehalt der Pommes Frites mitteilen muss. Geklagt hatten Hindus und Vegetarier, die dem Versprechen Glauben geschenkt hatten, dass die Pommes Frites nicht in tierischem Fett zubereitet werden.

Jetzt will er mit Klagen gegen die Lebensmittelkonzerne die Dickleibigkeit bekämpfen. Banzhaf bereitet die Prozesse nur vor, die andere Anwälte dann führen. Und es könnte um viel Geld gehen. Immerhin sind in den USA alleine über 50 Prozent der Menschen übergewichtig und ein Fünftel fett. Fettleibigkeit wird in den USA für 300.000 vorzeitige Todesfälle verantwortlich gemacht und ist der Grund für den Verkauf von Medikamenten in Höhe von 117 Milliarden Dollar. "Eine schwere Ernährung mit Fastfood blockiert nach einiger Zeit die normalen Mechanismen im Gehirn, die die Hormone erzeugen, die uns sagen, mit dem Essen aufzuhören, wenn wir voll sind", schrieb er in einem Brief im Juni an einige Ketten wie McDonald's, Burger King oder Pizza Hut. Diese hätten, so Banzhaf, eine Verpflichtung, ihren Kunden mitzuteilen, dass ihre Produkte gesundheitsgefährlich sein können. Auch wenn Banzhaf nicht unterstellt, dass die Lebensmittelkonzerne bewusst ihre Produkte so herstellen, dass sie zu einem zu großen Verzehr führen, gäbe es Parallelen zur Tabakindustrie: "Sie sagten, die Raucher würden wegen des Geschmacks rauchen, und das habe nichts mit dem Gehirn zu tun. Mir scheint, wir haben hier etwas sehr Ähnliches."