Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast

Über (Wirtschafts-)Statistiken und ihre Aussagekraft

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Statistiken sollen Objektivität bieten. Doch Ungenauigkeiten und Fehlinterpretationen beeinträchtigen nicht nur die Aussagekraft bestimmter Wirtschaftsdaten, sondern könnten auch zu Fehlentscheidungen oder zu politischem Missbrauch führen. Dies fängt schon bei der Auswahl der zitierten Statistiken an, welche sich selten an den Bedürfnissen der Menschen orientieren, sondern meist entpersonalisierte Indikatoren darstellen, mit denen höchstens der Fachmann etwas anfangen kann. So lassen sich leichter für den durchschnittlichen Leser nicht überprüfbare Dinge behaupten.

"Namen sind Schall und Rauch" sagt der Volksmund und will damit andeuten, dass es wichtiger sein sollte, was gesagt wird, als durch wen es gesagt wird. Da Aussagen von Personen (so auch in diesem Artikel) immer Meinungen beinhalten, auch wenn sie noch so subtil daherkommen, greift der Mensch für Analysen gern zu "objektiven" Zahlen. Zahlen scheinen aufgrund ihrer "Entpersonalisierung" befreit zu sein von subjektiven Einflüssen und Ansichten somit rein objektiv darstellen. Doch bereits im Mathematik-Unterricht haben die meisten Menschen gelernt, dass man eine gestellte Aufgabe nicht einfach mit Zahlen beantwortet, sondern die Zahl mit Hilfe einer als Satz verfassten Aussage in einen Kontext gesetzt werden sollte. Nur so bekommt die Zahl eine Bedeutung.

In den Wirtschafts-Publikationen und Diskussionen stößt man immer wieder auf Zahlen, deren Bedeutung allen klar zu sein scheint. Und trotzdem können diese Zahlen bei näherem Hinsehen manipulativ missbraucht werden oder eigentlich völlig unzureichend sein, den Sachverhalt zu beschreiben, den man annimmt, dass sie ihn beschreiben.

Unser Bruttoinlandsprodukt BIP und das heißersehnte Wirtschaftswachstum

Das BIP scheint sehr wichtig zu sein, denn die Steigerung des BIP von einem Jahr zum nächsten stellt das sogenannte Wirtschaftswachstum dar. Um Wirtschaftswachstum zu erringen, muss also das BIP gesteigert werden. Da Wirtschaftswachstum oft als etwas fundamental Wichtiges in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung angesehen wird, kommt der Berechnung des BIP eine entsprechend wichtige Rolle zu:

Das Bruttoinlandprodukt (BIP) [...] steht für das Total aller während eines Jahres in einem Land hergestellten Güter und Dienstleistungen (bewertet zu Marktpreisen).

Eine Steigerung des BIP lässt sich also erreichen, indem die Produktionsmenge ausgeweitet wird. Auch wenn die zusätzlich produzierte Anzahl an Gütern keinen Käufer findet, so steigert sie dennoch das BIP und sorgt damit für Wirtschaftswachstum, da es um die hergestellten, nicht um die abgesetzten Produkte geht.

Welche Bedeutung hat also die in Euro gemessene Zahl, die als BIP bezeichnet wird? Und welche Bedeutung hat somit die aus dem BIP abgeleitete Größe namens "Wirtschaftswachstum"? Ist es gesellschaftlich hilfreich, die schiere Menge an produzierten Gütern zu bewerten, unabhängig davon, ob die Gesellschaft diese Güter überhaupt haben will bzw. sie sich leisten kann?

Erklärbar wird aus dieser Sicht, warum unter anderen Frau Merkel und Herr Stoiber für eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit plädieren. Längere Arbeitszeit bedeutet mehr Produktion. Mehr Produktion bedeutet eine Steigerung des BIP. Eine Steigerung des BIP bedeutet Wirtschaftswachstum. Wirtschaftswachstum ist das Allheilmittel neoliberaler Politik. Aber wem nützen Produkte, die zwar produziert werden, aber vielleicht nur in Lagern verrotten, da durch die bloße Produktion keine zusätzliche Kaufkraft geschaffen wurde, die nötig ist, damit die Produkte auch verkauft werden können?

Die Art der Berechnung des BIP und daraus abgeleitet die Berechnung des Wirtschaftswachstums bringt jedoch ein weiteres Problem mit sich, welches an Selbstbetrug grenzt: Die Bewertung der Produkte nach Marktpreisen. Wenn Güter in die Berechnung eingehen, die nicht abgesetzt worden sind, werden sie trotzdem mit dem Preis bewertet, den die abgesetzten Produkte auf dem Markt erzielt haben. Die Gesetzmäßigkeit von Angebot und Nachfrage besagt aber, dass bei einem Angebot, das die Nachfrage übersteigt, die Preise sinken. Ein Absetzen der gelagerten Produkte kann somit mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht zum bisherigen Preis erfolgen, denn sonst wären sie auch zu diesem Preis abgesetzt worden. Der zusätzliche Absatz der Produkte würde also zu einem geringeren Preis geschehen. Entsprechend sind diese Produkte im BIP überbewertet. Somit sollten Analysen, die das BIP nach der heutigen Berechnungsvorschrift zugrunde legen, kritisch betrachtet werden.

Den meisten Menschen dürfte es relativ egal sein, ob das BIP nun steigt oder nicht. Wichtig ist ihnen letztlich, ob sie sich leisten können, was sie zu ihrem Leben brauchen. Für viele Menschen wäre eine Statistik darüber, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, viel interessanter. Nicht minder interessant dürften Statistiken über den Anteil der Arbeitslöhne oder der Kapitalkosten in den verschiedenen Produktpreisen sein, damit geklärt werden kann, ob die Lohnnebenkosten in Deutschland wirklich zu hoch sind oder ob es sich hier auch nur um eine Diskussion handelt, die von den eigentlichen Problemen ablenkt.

Haben wir nun Inflation oder Deflation?

Die Experten streiten sich: Während der Internationale Währungsfond IWF eine Deflations-Gefahr für Deutschland sieht, bestreitet die Bundesregierung dies. Können mehrere Experten, die sich widersprechen, gleichzeitig Recht haben?

Deflation bedeutet ein allgemeines Sinken der Preise. Darüber freuen sich eigentlich die Verbraucher. Eine Gefahr stellt Deflation allerdings dar, da sich eine Deflationsspirale aus immer weiter sinkenden Preisen, geringeren Umsätzen und höherer Arbeitslosigkeit entwickeln kann. Die Inflationsrate soll dabei angeben, wie sich das Preisniveau entwickelt. Liegt die Inflationsrate über Null, deutet das auf steigende Preise hin (Inflation), liegt sie unter Null, ist dies durch sinkende Preise bedingt (Deflation). Bei Null wäre Preisstabilität gegeben, das eigentliche Ziel der Europäischen Zentralbank EZB, für die aber auch 2% Inflation, also eine Halbierung der Kaufkraft alle 35 Jahre, noch als "stabil" gilt.

Die EU-Statistikbehörde Eurostat, der nun auch Korruption vorgeworfen wird, berichtet, dass die Inflationsrate in der Euro-Zone im Juni bei 2,0% lag, in Deutschland bei 0,9% Laut Statistik sind die Preise in Deutschland also weiter gestiegen, wenn auch nur geringfügig.

Doch passen dazu Meldungen, die von einem "Rabattwahn im deutschen Einzelhandel" sprechen? Auf dem Münchner Oktoberfest bleiben erstmals seit 1969 die Bierpreise konstant, und auch die Autoindustrie unterbietet sich mit einer Rabattschlacht, ebenso der Bekleidungshandel. Wer bei Karstadt z.B. durch die DVD-Abteilung schlendert, darf sich über so manches Schnäppchen freuen. In Berlin sinken die Kinopreise! Wer hätte das für möglich gehalten?

Das Geheimnis des Widerspruchs zwischen dieser subjektiven Wahrnehmung von eher sinkenden Preise und der angeblich objektiv weiter steigenden Preise liegt in der Art und Weise der Berechnung der Inflationsrate: In diese Berechnung gehen Rabatte und Sonderposten nämlich nicht ein. Wenn also der Einzelhandel sämtliche Preissenkungen durch Rabatte und Sonderposten realisiert, so ist dies offensichtlich eine allgemeine Preissenkung, in der offiziellen Inflationsrate schlägt sich dies aber nicht nieder.

Ein schlüssigeres Bild über die künftige Entwicklung einer Volkswirtschaft und für viele Menschen wesentlich interessanter dürfte zum Beispiel die Entwicklung der inflationsbereinigten Nettoeinkommen der Arbeitnehmer sein. Oder ein wöchentlich aktualisierter Vertrauensindex, bei dem die Wähler befragt werden, wieviel Vertrauen sie in ihre Volksvertreter haben. Würde man an diesen die Gehälter für Politiker koppeln, könnte man vielleicht auch eine ehrlichere Politik erwarten.

Weitere Vorschläge für interessante Statistiken

Es gäbe vermutlich eine Menge Daten, die für das Leben der Menschen weitaus interessanter wären, die jedoch leider - wenn sie überhaupt erhoben werden - längst nicht in dem Maße publiziert und diskutiert werden, wie die Entwicklung der wirtschaftlichen Stärke eines Landes.

Wie entwickelt sich der gesundheitliche Zustand der Bevölkerung - nehmen Verhaltensstörungen oder Herzinfarkte zu oder ab? Auch solche Werte würden einiges über die Funktionsfähigkeit des volkswirtschaftlichen Systems aussagen. Nehmen Alleinerziehende zu? Ist die soziale Ausgrenzung von Menschen ein Problem? Werden die Menschen toleranter oder eben nicht? Nimmt die Stressbelastung in der Bevölkerung zu oder ab? Steht beim Bürger nicht die Lebensqualität vor wirtschaftlicher Leistung? Lebensqualität wird von der Politik jedoch weitgehend ignoriert und auch nur selten in Statistiken wiedergegeben.

Geht die Konjunktur durch die Decke?

Oder tut dies nur der Konjunkturindikator der ZEW (Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH)? Die Positiv-Meldung der ZEW war vor kurzem in den verschiedensten Gazetten ganz oben zu lesen, der Spiegel titelte gar Aufschwungshoffnung: Konjunkturindikator geht durch die Decke. Wer also immer noch der Meinung ist, der deutschen Wirtschaft oder gar dem Kapitalismus an sich geht es schlecht, der wird doch eindeutig eines besseren belehrt, oder?

Der Konjunkturindex ist im Juli überraschend um 20,6 auf 41,9 Punkte gestiegen. Überraschend, weil Analysten nur mit 24,4 Punkten nach 21,3 Punkten gerechnet hatten. Der Spiegel hat weiterhin zu vermelden, dass der Index damit über dem historischen Durchschnitt von 33 Punkten liegt und dass er aufgrund der Erwartungen von Analysten und Investoren berechnet wird. Ob eine Verdopplung der Punktezahl nun eine Verdopplung an Arbeitsplätzen oder einer Verdopplung des Wirtschaftswachstums gleich kommt oder gar etwas ganz anderes bedeutet, wird der Fantasie des Lesers überlassen.

Was bedeutet nun diese ominöse Zahl von 40,9 Punkten. Geht es bergauf? Wenn ja, wie schnell? Laut ZEW werden bis zu 350 Finanzexperten befragt, ob die Wirtschaftslage in den nächsten 6 Monaten besser, gleichbleibend oder schlechter wird. Die Ergebnisse werden in Prozente bezogen auf die Gesamtzahl umgerechnet. Die Anzahl der Pessimisten wird von der Anzahl der Optimisten abgezogen, was herauskommt ist der ZEW-Konjunkturindex. Um auf 40,9 Punkte zu kommen, könnten also z.B. 45% der Befragten meinen, die Wirtschaftslage wird besser, während 4,1% meinen, sie wird schlechter. Der Rest meint dann, die konjunkturelle Lage wird sich nicht verändern.

Wenn es aber - wie man bei der Vielzahl negativer Meldungen der letzten Wochen und Monaten annehmen kann - um die Konjunktur nicht besonders gut bestellt ist, wie ist dann die Erwartung derjenigen zu bewerten, die die Konjunkturaussichten als gleichbleibend sehen? Bedeutet es nicht, dass die Zukunft gleichbleibend schlecht gesehen wird? Der historische Durchschnitt des Konjunkturindex beträgt 33 Punkte. Bedeutet das nicht, dass bislang immer die Optimisten überwogen, die immer der Meinung waren, alles wird noch besser, als es bereits ist? Entspricht dieser Optimismus der Realität in der Vergangenheit?

Folgende Grafik zeigt den Konjunkturindex der ZEW, das Wirtschaftswachstum und die offizielle Arbeitslosenquote in Deutschland.

Da die Finanzexperten befragt wurden, wie sie die Entwicklung der folgenden 6 Monate sehen, müsste der ZEW-Index also immer kurz bevor das Wirtschaftswachstum heruntergeht (also die wirtschaftliche Situation schlechter wird) im negativen Bereich liegen. Den wirtschaftlichen Abschwung von 94 bis 96 sahen die Experten also nicht vorher, da ihre Stimmung in diesen Jahren weitgehend im positiven Bereich liegt - was je bedeutet, es wird besser, als es war. Der Abschwung von 93 wurde von ihnen vorhergesehen, dafür prophezeiten sie vom Jahr 2001 zum Jahr 2002 eine Verbesserung, die nicht eintrat. Wie glaubwürdig ist also der Konjunkturindex des ZEW und die von ihm befragten Finanzexperten?

Es zeigt sich kein offensichtlicher Zusammenhang zwischen den Erwartungen der Finanzexperten und der Entwicklung der Wirtschaft. Vielmehr kann man mutmaßen, dass es unter den befragten Finanzexperten relativ wenig Vertrauen in eine rot-grüne Regierung gibt. Darauf deutet der Absturz des Index nach dem Wahlerfolg dem Regierungswechsel im Herbst 1998 hin. Ist der ZEW-Index also eher ein politischer Index?

Beim ZEW-Index handelt es sich also offenbar um die Prognosen einer ziemlich überschätzten Befragungsgruppe. Ist das verwunderlich? Das Wirtschaftswachstum ist eine Größe, die in der Realität existierende Güter und Leistungen betrachtet, während Finanzexperten sich nicht selten mit der Scheinwelt der Spekulation befassen. Aussagekräftiger wäre vermutlich eine Befragung von Einzelhändlern und Mittelstand. Diese Gruppen prägen entscheidend die Entwicklung der Realwirtschaft und werden gleichzeitig von ihr beeinflusst.

Für Otto-Normalverbraucher wichtig ist die Frage, wie viele Jobs das Wirtschaftswachstum bringt. Die Grafik zeigt hier, dass Wirtschaftswachstum nicht gleich Wirtschaftswachstum ist: Denn obwohl z.B. die Wirtschaft im Jahr 2000 um 2,9% wuchs, lag die Arbeitslosigkeit wesentlich höher als im Jahr 1992, wo nur 2,2% Wachstum erreicht wurden. Ganz offensichtlich gibt es also wesentlich mehr Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit als nur die Wachstumsraten der produzierten Güter.

Edmund Stoiber, unser Fastbundeskanzler und Wahlkämpfer aus Leidenschaft, sieht das anders: "Dies mangelhafte Wachstum ist eine entscheidende Ursache unserer hohen Arbeitslosigkeit." Eigentlich schade, dass jeder natürliche Wachstumsprozess früher oder später in eine Sättigungsphase gerät und es gute Gründe gibt anzunehmen, dass das Wirtschaftswachstum hier keine Ausnahme bildet (Wachstum, Wachstum über alles). Doch auch der "Grüne" und jetzige Außenminister Fischer sieht Wirtschafswachstum als "entscheidende Frage".

Augenwischerei der Zahlenjongleure?

Es ist zu erwarten, dass weitere Zahlen und Nummern auf uns zukommen, die von den jeweiligen Interessengruppen ermittelt werden, um zu belegen, dass ihre Aussagen korrekt sind.

Dass selbst die Wirtschaftsredaktionen Probleme bei der Interpretation bestimmter Daten haben, zeigt zum Beispiel n-tv. Dort wird die Widersprüchlichkeit zwischen dem Anstieg der Arbeitslosenzahlen in den USA und der Anstieg eines Geschäftstätigkeit-Index schlicht als "Divergierende US-Daten" bezeichnet. Eine Schlussfolgerung derart, dass dieser Widerspruch nicht gerade dazu beiträgt, konkrete Aussagen über die wirtschaftliche Lage zu machen, unterbleibt. Wenn ein Anstieg der Arbeitslosenquote vom gleichen Sender dann noch als Stagnation des US-Arbeitsmarktes bezeichnet muss man die angebliche Unabhängigkeit solcher Nachrichtenproduzenten in Frage stellen.

Auch Politiker nutzen statistische Manipulation gern, um sich in einem besseren Licht darzustellen. So zum Beispiel die Bundesanstalt für Arbeit, deren Erfolge natürlich als Erfolge der rot-grünen Bundesregierung gewertet würden. Deren Idee ist es, Arbeitslose, die sich krank melden, nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik aufzuführen. Die nächste Grippe-Epidemie dürfte somit für gute Stimmung bei der Regierung, im Arbeitsamt und den wirtschaftsnahen Presseorganen sorgen, die Probleme fehlender Arbeitsplätze (offiziell 4,7 Millionen, inoffiziell über 7 Millionen jedoch nicht wirklich beheben.