Mein Freund, der Chefredakteur

9/11: Man braucht keine Verschwörungstheorie, um den Konsens in der deutschen Medienlandschaft zu erklären

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Der Blätterwald rauscht, die Fernsehkanäle glühen. Zwei Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon haben die deutschen Medien entdeckt, dass die von der amerikanischen Regierung bereits eine Stunde nach der Tat vorgenommene Festlegung auf mögliche Täter nicht von allen Menschen geteilt wird. Zwei Jahre lang sahen weder die bekannten großen Nachrichtenmagazine noch ihre TV-Ableger noch irgendwelche sonstigen regionalen oder überregionalen Presseorgane die Notwendigkeit, die regierungsamtliche Behauptung einer Verschwörung von Osama bin Laden und seinen 19 Räubern auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen oder gar in Frage zu stellen.

Selbst haarsträubende Ungereimtheiten in der offiziellen Darstellung erregten anscheinend kein Misstrauen. Inzwischen wurden zwei Kriege mit 60.000 zivilen Opfern im Namen der amtlichen Darstellung der 11. September-Ereignisse geführt, die Vereinigten Staaten wurden ausgebaut zu einem Überwachungsstaat, neben dem sich die Stasi-Gesellschaft der DDR wie ein rührender Kindergarten ausnimmt, und Milliarden und Abermilliarden öffentlicher Gelder wurden umgeleitet in die Taschen der Rüstungsindustrie. Aber bei einst kritischen Vertretern der deutschen Presse klingelt noch immer kein Glöckchen. Der erste SPIEGEL-Titel, der die andere Sicht auf die Terroranschläge von New York und Washington zum Inhalt hat, gilt nicht etwa neuen Ergebnissen bei der Aufklärung des Jahrhundertverbrechens, sondern dem Bashing jener Journalisten, die dessen Aufklärung fordern und durch eigene Recherchen vorantreiben. Die polemische generalisierende Form der Auseinandersetzung wirft ein übles Licht auf den Zustand dieses Landes.

Es bedarf keiner Verschwörung, um eine gesamte Presselandschaft zu streamlinen und auf eine Linie zu bringen. Wie immer wenn einer der Großen anfängt, folgen die Kleinen bis zur letzten Provinzpostille auf dem Fuße. "Verschwörungswahnsinnige" sind ein "Thema". Ein Thema sein, das heißt: Der kleine freie Journalist findet ein offenes Ohr bei seinem Chef in der Redaktion. Kein Thema sein, heißt: Kein Artikel, kein Geld. Innerhalb von zwei, drei Wochen hat dann auch Lieschen Müller in Hintertupfingen irgendwo irgendetwas über das Thema gehört oder gelesen und kann sich wieder beruhigt zurücklehnen in der sicheren Gewissheit, dass unsere verrückte Welt doch nicht so schlecht ist wie ihr Ruf. Nach dem 11. September 2001 konnte man persönlich und anschaulich mitverfolgen, wie die politische Ausrichtung einer ganzen Gesellschaft aus ihren eigenen Strukturen heraus und weitgehend freiwillig funktioniert.

Während in den Ländern der Kriegskoalition, insbesondere England und den USA selbst, das Misstrauen gegenüber Regierung und uniformierten Medien eher zunimmt, beginnt in Deutschland das Presse-Imperium erst jetzt zurückzuschlagen. Während in Kalifornien der Bürgermeister von Santa Cruz aus Protest gegen den innenpolitischen Kurs der Bush-Regierung auf den Stufen des Rathauses kostenlos Marihuana an alle verteilt, die ein Rezept vorlegen können, werden in Deutschland alle Köpfe, die aus der Masse der Angepassten herausragen, abgeschlagen.

Journalisten, die das Undenkbare tun, nämlich den unausgesprochenen Konsens der Berichterstattung über den "neuen Terrorismus" durch unvoreingenommenes Herangehen an die Fakten zu verlassen, werden im bekannten deutschen Stil ausgegrenzt, beleidigt und zerstört. Dies hat viele 9/11-Skeptiker zu Spekulationen über eine Verschwörung der Presse verleitet. Wenn man aber weiß, dass die Selbstsicherheit, mit der die unkritische Verbreitung der Weltsicht von King Bush & Co. von als seriös bekannten Journalisten vorgetragen wird, nur in den seltensten Fällen durch eine tiefgreifende Kenntnis der Fakten begründet ist, ergibt sich ein anderes Bild. Was sind das für Menschen, die in den Chefetagen der Medienkonzerne sitzen und uns die tägliche Wahrheit verkaufen? Ich kenne einen von ihnen persönlich.

Er, nennen wir ihn Chefredakteur S, ist ein Freund von mir. Ich habe als junger Mensch mit ihm Fußball gespielt, man hat sich über Jahre ab und an gegenseitig zum Essen eingeladen und schon mal ein Wochenende gemeinsam auf einer Almhütte oder bei einer Silvesterparty verbracht. S ist Chefredakteur eines wichtigen deutschen Nachrichtenmagazins. Sein Boss ist ein Promi, der Boss seines Bosses ein ausländischer Medienmogul. S hat sich seine Sporen als Journalist in jungen Jahren an vorderster Nachrichten-Front verdient; er war an Brennpunkten des Nahen Ostens und bei Straßenkämpfen in Moskau. Solche waghalsigen Jobs hat er seit vielen Jahren nicht mehr gemacht, aber sie bildeten die Grundlage für seine steile Karriere.

S wohnt in einem schönen Haus in einem schönen Viertel seiner schönen Stadt, für das er eine Menge Geld bezahlen muss. Er hat mittlerweile eine vierköpfige Familie zu ernähren. Dafür arbeitet er bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit oder sogar über diese hinaus. Er hat in den letzten Jahren einige graue Haare hinzubekommen und einige verloren. Durch seine Stellung ist er Teil der bundesrepublikanischen High Society geworden. Er geht in den entscheidenden Kreisen der Politik und Wirtschaft ein und aus. Bei diesen handelt es sich zum großen Teil um Menschen, die auf den ersten Blick einen guten Anzug von einem billigen Imitat unterscheiden können. Einige von ihnen erscheinen selbst zu einer Garten-Grillparty mit Schlips und Kragen.

S liebt klassische Musik. Er braucht es nicht auszusprechen, aber es ist klar: klassische Musik ist das einzig Wahre und jeder anderen Musik überlegen. Ab und zu lässt er sich zwar auch mal eine Jazz-CD von einem Freund mitbringen, der in der Musikbranche arbeitet, aber sein Musikgeschmack ist jedenfalls nicht auf der Höhe des Geschehens. Ihm fehlt schlichtweg die Zeit, sich mit solchen Dingen intensiver zu befassen. Ebenso wenig hat er Zeit, in großem Stil Bücher zu lesen, die ihm für seine gegenwärtige Arbeit wichtiges Grundlagenwissen verschaffen könnten. Während ich in den letzten 25 Jahren sicher mehr als zwei Dutzend Werke über Themen wie Geheimdienste, die Außenpolitik der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Geschichte des 20.Jahrhunderts gelesen sowie eine noch größere Zahl von entsprechenden TV-Dokumentationen gesehen habe, dürfte es bei ihm nicht so gut bestellt sein mit solidem Grundwissen über bestimmte, für die Einschätzung der gegenwärtigen Weltpolitik relevanten Informationen. Ich glaube, ehrlich gesagt, dass er kein einziges Buch über die Hintergründe der CIA oder die amerikanischen Kriege nach '45 gelesen hat. Hat er die Standard-Dokumentation von James Bamford über die NSA gelesen? Wohl kaum. Zum Thema Kennedy-Attentat hat er vielleicht den Oliver-Stone-Film gesehen, aber gewiss nicht die diesem zugrunde liegende BBC-Dokumentation. Chefredakteur S glaubt an die Lee-Harvey-Oswald-Alleintäter-These. Dafür kennt er sich in Philosophie ausgezeichnet aus.

Das Witzige ist, dass auch der Bundesnachrichtendienst, immerhin die Haupt-Informationsquelle für unseren Kanzler, den Außen- und den Verteidigungsminister, die Vereinigten Staaten von Amerika nicht als wichtig genug ansieht, um diese zu einem seiner Aufklärungsgebiete zu machen. Jedenfalls ist das die offizielle Linie des BND. Ich war selbst dort, als die Spione noch im Münchner Vorort Pullach residierten, habe es mit eigenen Ohren aus ihren offiziellen Mündern gehört. Verwundert mich eigentlich nicht angesichts der Tatsache, dass unser Geheimdienst nach dem Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern aus der Taufe gehoben wurde. Ich erwähne es auch nur, um zu zeigen, dass Journalisten wie mein Freund S vermutlich in guter Gesellschaft sind.

Seit dem 12. September 2001 löchere ich S mit Fragen über Ungereimtheiten des 11. September. Ich hatte auch vor diesem historischen Datum schon hin und wieder meine Bedenken gegenüber der US-Politik zum Ausdruck gebracht. Das hat mir in seinem Freundeskreis nicht gerade einen guten Ruf eingebracht, und oft umspielt mitleidiges Lächeln seinen Mund, wenn ich wieder etwas sage. Oder er wird nervös und muss "mal ganz dringend telefonieren". Seine Reaktion auf Fakten, die ich meiner jeweils aktuellen Lektüre entnehme, ist stets ablehnend. Der CIA soll hinter einigen der Bombenattentate im Italien der 1970er Jahre stecken, die den Roten Brigaden zugeschrieben wurden? Unsinn! Das sind doch alles Verschwörungstheorien. Und die Araber, die kennt er doch aus eigener Anschauung. Das sind tatsächlich solche Fanatiker, da solle ich mir gar nichts vorzumachen. Darauf ich: Ob er nicht mal Lust habe, das eine oder andere Buch zu lesen? Keine Zeit. Nur einmal hat er auf eine Email reagiert. Ich hatte ihm die wenige Tage nach den Anschlägen aktuelle Story über die angeblich von CNN getürkten Filmaufnahmen palästinensischer Jubel-Demonstranten zukommen lassen, die sich später tatsächlich als falsch herausstellte. Da fiel es ihm leicht zu antworten, und seither ist die ganze Geschichte für ihn klar. Verschwörungstheorien lassen sich alle widerlegen. Man muss sich nur die richtigen heraussuchen.

Was würde eigentlich passieren, wenn ein Chefredakteur S zur Abwechslung mal auf die andere, die böse, die inoffizielle Linie der bösen verrückten Verschwörungstheoretiker umschwenken würde? Ganz gleich welche Fakten seinem Sinneswandel zugrunde liegen würden, muss man über die Folgen weder reden, noch grübeln, noch spekulieren. Das wäre das Ende, das sofortige bedingungslose Aus seiner Karriere, seines Einkommens, seines Hauses und seines gegenwärtigen Lebensplanes. Das Aus für Kanzleramtsempfänge, Katja-Riemann-Premieren und VIP-Skiwochenenden. Die Strukturen, die das Leben von Chefredakteur S umgeben, lassen nur zwei Alternativen: alles oder nichts. Schon der kleinste begründete Zweifel an der Version der Ereignisse, auf die sich alle verständigt haben, könnte das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringen.

Der Urheber eines solchen Gedankens würde unweigerlich zum Außenseiter gestempelt werden. Das wäre für S etwa so wie als Penner unter der Brücke zu enden. Daher werden alle Fakten, die auf so ein Szenario hinauslaufen könnten, von vornherein ausgeblendet. Dazu bedarf es keiner Verschwörung, das macht der Kopf ganz von selbst. Es bedarf erst recht keiner Geheimdienstagenten in den Redaktionen, die die Veröffentlichungen der Presse steuern, wie einer der Autoren von einem der neuen 9/11-Bücher tatsächlich glaubt. Wenn man sich die Strukturen unserer Wettbewerbsgesellschaft anschaut und sich darüber im Klaren ist, dass sie auch in der Welt der Medien gelten, dann wird klar, dass hier eine staatstragende Schicht durch die wirtschaftlichen Bande, auf deren Basis sie überhaupt erst existiert, auf Gedeih und Verderb zusammengekettet ist. Und dass der stillschweigende immaterielle Vertrag, den jeder Einzelne von ihnen bei seinem Eintritt in diese Welt unterzeichnet, der Konsens ist. Selbst über Redaktions- und Parteigrenzen hinweg. Denn sie alle treffen sich in denselben Aufenthaltsräumen der Macht, auf die sie angewiesen sind, ganz gleich für wen sie gerade arbeiten. Es ist dieses beruhigende Gefühl, es geschafft zu haben, dazuzugehören, in den Olymp aufgestiegen zu sein, das die ganze Staatsräson ausmacht.