Auf gute Nachbarschaft

Die EU im wenig kritischen Dialog mit der autoritären Ex-Supermacht Russland

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Russland tobt ein Machtkampf zwischen verschiedenen Flügeln des Kreml, zwischen ultrakapitalistischen Unternehmern und den starken Männern, die sich aus Sowjetzeiten hinübergerettet haben. Der als harmonisches Händeschütteln mit anschließender Wirtschaftsförderung geplante halbjährliche EU-Russland-Gipfel wurde von der Verhaftung des ambitioniertesten Emporkömmlings überschattet. Die EU zeigte sich wenig begeistert, aber orientiert sich weiter an Präsident Wladimir Putin, um gemeinsam mit diesem einen "gemeinsamen Raum für Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit" zu schaffen.

Russland ist der bevölkerungsreichste Staat in Europa und der flächenmäßig größte der Welt. Doch gleichzeitig wirtschaftlich ein Schwellenland, wenn auch mit großen Wachstumsaussichten. Die Macht des Sowjetimperiums hat in Moskau bislang niemand allein an sich reißen oder gar abschütteln können. Auch nicht der mächtige Präsident Wladimir Putin, der Russland regiert, seit er überraschend von Borist Jelzin an Neujahr 2000 ernannt wurde. Die Verhaftung des neureichen Öltycoons Michail Chodorkowskijs verwunderte als Teil der "großen Wirren" nur wenige Beobachter - und den u. a. wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung, Betruges und Bilanzfälschung Verhafteten erst recht nicht.

Mit dem Wechsel von Boris Jelzin auf Wladimir Putin ging 2000 auch die langjährige Patronage des Kremls über die zu Ende, die die Taschen der Staatsbediensteten füllten und sich zudem politisch still verhielten. Turbokapitalisten und Elitenbildner aller Art mussten sich mit einem neuen "starken Mann" anfreunden, der Russland dem Westen als Land mit Problemen, aber mit Zukunft verkaufen konnte - anders als das sinnbildliche Wodkaland der 'Familie' Jelzin. Weltgewandt, farblos, ein Geheimdienstler mit besten Beziehungen in verschiedenste Kreise. Der rücksichtslos in Tschetschenien Krieg gegen die Bevölkerung und die sezessionistischen, neuerdings auch vom Westen als solche gesehenen, "islamischen Terroristen" führt. Früher oft mit kritischen Worten aus dem Westen bedacht, heute lieber vergessen. Putin braucht die EU und die EU braucht Putin. Russlands Weiten beherbergen die Energiemengen, die in Europas Ballungszentren notwendig sind, will man sich nicht noch weiter von der OPEC abhängig machen. Die Binnendemokratisierung und -liberalisierung Russlands ist für Brüssel und Straßburg hingegen kein Gesprächsthema.

Die Kaste der neuen und mit wenig Skrupeln an ihren Reichtum gelangten Multimilliardäre steht mit dem Kreml seit der Privatisierungswelle in den 90ern auf Kriegsfuß. Russische Staatsbetriebe, insbesondere die Ölindustrie, wechselten vordergründig zu Spottpreisen die Besitzer. Die sich auflösende Sowjetgesellschaft, Enzensbergers "Helden des Rückzugs", hielt zwar keine Ideale mehr hoch, dafür jedoch kräftig die Hand auf. Doch die wenigsten der Oligarchen wollten oder konnten sich dauerhaft aus den politischen Geschehnissen heraushalten. Die Liste der superreichen Russen, die erst auf zweifelhafte Art ein Vermögen anhäuften und sich dann mit den Machthabern im Kreml anlegten, wird von Jahr zu Jahr um mindestens einen Namen länger. Ob Gussinskij, Beresowskij (der in Großbritannien politisches Asyl erhielt) oder jetzt Chodorkowskij sie alle stehen für ein Land, in dem aus abendländischer Sicht eher das Chaos denn das Volk regiert.

Michael Chodorkowskij ist einer der reichsten und einflussreichsten Männer Russlands. Doch weil er in das Moskauer Machtzentrum des Staates ohne demokratische Traditionen keine guten Beziehungen pflegte, hat sich Chodorkowskij rechtzeitig abgesichert. Bei seinem letzten Aneinandergeraten mit dem Kreml im August hatte er - für den Fall einer Verhaftung - das Stimmrecht auf den in Russland stark engagierten britischen Staatsbürger Lord Jacob Rothschild übertragen. Der Energieriese Yukos-Sibneft, an dem Chodorkowskij 4 Prozent direkt und weitere 22 indirekt hält, ist zusammen mit Konkurrent Lukoil größter Steuerzahler Russlands und seit der Fusion der beiden Unternehmen viertgrößter Global Player unter den Ölmultis. Unter der Führung Chodorkowskijs hat sich der Konzern mächtig genug gefühlt, die traditionell engen Bindungen an lokale Politiker und die Administration in Moskau etwas sparsamer zu gestalten.

Putin hat sich entschieden, auf "der Seite des Westens" zu stehen (Berlusconi)

Am 14. März 2004 will sich Amtsinhaber Wladimir Putin im Präsidentenamt bestätigen lassen. Der Moskowiter Chodorkowskij, der bislang nicht selbst aktiv in die Politik zwischen Petersburg und Nowosibirsk eingriff, unterstützte bei den letzten Duma-Wahlen die oppositionelle liberale "Apfel"-Partei (Jabloko) finanziell. Zudem wird ihm nachgesagt, auf lange Sicht Ambitionen auf den Chefposten im Kreml zu hegen. Am ehesten für die Kommunistische Partei allerdings, für die er in Moskau schon zu Sowjetzeiten aktiv war.

Die Verhaftung Chodorkowskijs unter eher fadenscheinigen Vorwänden ist politisch motiviert, die Verflechtung von Justizapparat und Exekutive typisch für das derzeitige politische Befinden Russlands. Wenig verwunderlich, dass sich die "europäischen Partner" auf die scheinbar einzige Konstante, den Präsidenten Putin, verlassen. Beim EU-Russland-Gipfel wurde von den EU-Vertretern das Thema Chodorkowskij weitgehend überspielt. Stattdessen wird versucht, Russland enger an Europa zu binden - und die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russlands wachsen und gedeihen prächtig.

Dieser Eindruck entsteht zumindest auf den halbjährlichen EU-Russland-Gipfeln, wenn Forschungsabkommen und Technologieaustausch vertraglich abgesegnet werden. Keine kritischen Worte zum Tschetschenienkrieg, keine zur stark beschränkten Pressefreiheit. Und nur Andeutungen zum Yukos-Verfahren. Während der EU-Außenbeauftragte Javier Solana Putin aufforderte, "Zweifel" am Vorgehen gegen Jukos auszuräumen, stellte Berlusconi sich demonstrativ hinter Putin. Kein Wunder, sind die EU und Russlands Exklave Kaliningrad doch schon bald unmittelbare Nachbarn. Als solche will man sich demonstrativ gut verstehen. Und schaut auch über die eine oder andere undemokratische Ungereimtheit im unheimlichen Riesenreich am Rand der europäischen Landkarte hinweg. Putin sicherte der EU das Einhalten der Rechtsstaatlichkeit im Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität zu, aber beteuerte auch, die Privatisierung der Wirtschaft nicht rückgängig machen zu wollen.