Willkommen in der Normalität eines entzauberten Mediums

Vorbei die Zeiten des Elitennetzwerkes: Das Internet ist als "vierte Kulturtechnik" im Status 'Normalität' angekommen und zum Werkzeug degradiert worden

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10 Jahre nach der Erfindung des World Wide Web ist das Internet in einer Normalität angekommen. Von der elitären Schar auf Kostenloskultur getrimmter, technikbegeisterter Wissenschaftler und Studenten akademischen Umfeldes ist nur noch wenig zu sehen. Verbittert betrachten sie, wie Kommerzialisierung und Allgemeinverfügbarkeit das einstige Werkzeug intellektueller Kreise zu einem gigantomanischen Shoppingcenter mit Einbahnstraßenstruktur verändern. Ihre übertriebenen Utopien vom Weltfrieden durch Netzwerke und den Futurehype der Webromantiker hat die Netzelite vergangener Tage in kulturpessimistische Betrachtungen der ehedem virtuellen Realität eingetauscht.

Lesen, Schreiben, Rechnen - und der Umgang mit Rechenmaschinen, das sind im dritten Jahrtausend die Techniken, mit denen sich der aufrecht gehende Mensch als Teil der Moderne beweisen kann. Die vierte, die neueste dieser Kulturtechniken, hat den Wechsel vom Status der besseren Schreibmaschine zum schnellen Kommunikationsmedium in radikaler Weise binnen kurzer Zeit vollzogen. Etwa ein Jahrzehnt brauchte die Etablierung der Heimcomputer in den Heimstätten des Abendlandes, ein weiteres die inzwischen allgegenwärtige Vernetzung derselben.

Fast seit den Ursprüngen dessen, was heute unter 'Internet' firmiert, beschäftigen sich Medien- und Kulturphilosophen mit dem Netz und Netzwerken. Das Umfeld der die Netzwerke zuerst im großen Stil nutzenden Universitäten ließ Theorien, Grundsätze und Begrifflichkeiten wie Weibels 'Teletechnologie' oder das Manifest des Technorealismus sprießen. Kulturkritische Standpunkte haben in der Überzeugung vieler Netizens alter Prägung mit der wachsenden Kommerzialisierung ihren Einfluss auf die Internetbewegung verloren. Nicht nur, dass für viele Nutzer das Internet gleichbedeutend mit dem WWW zu sein scheint - die weit fortgeschrittene Kommerzialisierung, vor der viele Mitglieder der Scientific Community sich im Internet sicher glaubten, hat dem Netz seinen Stempel aufgedrückt.

Mit Mosaic kamen die Bilder, mit den Bildern die Werbung. Und diese ist - entsprechend der Zugangsmöglichkeiten zum Internet - mittlerweile fast allgegenwärtig. Und auch die Versuche zur Übertragung weltlicher Regularien auf den Cyberspace nehmen nicht nur in Diktaturen im Zuge praktischer Verzahnung von realen und virtuellen Welten weiter zu. Mit der neuen Freiheit, die das Netz einst zu bieten versprach, hat dies wenig mehr zu tun.

Die 'Normalisierung' des Netzes geht mit einer deutlichen Veränderung der Nutzerstruktur einher. Der Trend weg von einer elitären Netzgesellschaft hin zu einem Netz für alle, von einer Telepolis ähnlich denkender Netzaktivisten hin zu einer Transskription bestehender Verhältnisse auf den ehemaligen Cyberspace ist deutlich. Die Gesellschaft beeinflusst das Web stärker als das von den Nutzern vorgefundene Web die Gesellschaften - anders als von vielen Netzkritikern erhofft. Und die technologiekritischen Cyberspacepioniere haben sich selbst ins Abseits gestellt:

Statt aktuelle Extreme in Richtung des von Nationalstaaten kontrollierten und von wenigen Monopolisten vom Schlage Microsofts, EBays und Amazons dominierten Bezahlwebs als Verlust an Qualität des Mediums zu brandmarken, wird der Niedergang beklagt und sich nach alten Zeiten zurückgesehnt, in denen das Netz eine kleine, weitgehend unbekannte und abgeschlossene Welt für sich war. Und in der noch fast jeder ungestört tun und lassen konnte, was er wollte - sofern er die technischen und intellektuellen Fähigkeiten denn zur Verfügung hatte.

Anders gesagt: Das Netz ist nicht mehr, was es mal war. Früher war alles zumindest anders.