Na endlich: Informatik wird Allgemeinbildung

Von der Microsoft-Produktschulung zur informatischen Grundbildung

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Landauf, landab verkündet bzw. fordert derzeit die Bildungspolitik wieder einmal den Anschluss der Schule an die Informationsgesellschaft: "Flächendeckende Vermittlung von Informatik-Grundkenntnissen!" lautet heute die Devise, in der Tradition von "Schulen ans Netz!" aus der Zeit des Internetbooms ab Mitte der 90er- und "Computer an die Schulen!" aus den 80er-Jahren.

Kara - Programmieren mit eonem Marienkäfer als endlichem Automaten

Nicht nur immer schnellere, bessere und dabei noch billigere Technik, auch neue Tools und Konzept in der pädagogischen Methodik schreien nach einer Ausweitung des immer noch desolaten Schulunterrichts. Etwa die Züricher Lernumgebung "Kara":

Kara basiert auf dem Konzept endlicher Automaten, ist alltagsnah und trotzdem ein theoretisch fundiertes und mächtiges Programmiermodell. Verschiedene Programmierumgebungen (Kara, MultiKara, TuringKara, JavaKara) eröffnen spielerische Zugänge zu grundlegenden Programmierkonzepten mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad für allgemeinbildende Schulen bis hin zu Diplomstudiengängen in der Informatik.

Kara: Lernumgebungen rund ums Programmieren

Die freilich etwas an Seymour Paperts Schildkröte in der Programmiersprache LOGO erinnernden Kara-Lernumgebungen begeistern heute nicht nur Pädagogen, sondern haben auch den European Academic Software Award 2002 gewonnen. Dennoch ist es mit neuen Methoden und Technologien nicht getan, denn Lernen findet im komplexen System der Bildungspolitik, Schule und didaktischer Paradigmen statt. Aber gerade dort sammeln sich heute Kräfte für einen neuen Anlauf auf die trägen Massen althergebrachter Institutionen der Bildung.

Die Fachdidaktik orientierte sich meist an aktuellen technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen

Aus leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit ist den Bildungspolitikern inzwischen bekannt, dass es nicht genügt Gerätschaften für die Schulen anzuschaffen, sondern dass auch die Lehrer das Lehren erst einmal lernen müssen. Zu diesem Zweck besuchen die angehenden Pädagogen Seminare in so genannter "Fachdidaktik", wo ihnen die Vermittlung einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin an Schüler verschiedener Altersstufen beigebracht wird.

Die Fachdidaktik Informatik führte bislang eher ein Schattendasein und etabliert sich nur langsam an den Hochschulen. Die Vermittlung von Computerwissen lag bisher bei der Informatik, die noch in den 80ern in Seminaren wie etwa "Informatik für Pädagogen und Sozialwissenschaftler" kaum auf didaktische Fragen einging. Vielmehr handelte es sich meist um bessere Programmierkurse. An den Schulen lag der Computerunterricht in den Händen von einzelnen Computerfreaks der Lehrerkollegien, meist Mathe- oder Physiklehrer, die in Eigeninitiative und als Autodidakten erste pädagogische Annäherungen an die Informatik wagten. Im Gerangel um Territorium in der Köpfen unserer Kinder, denn darum geht es letztlich bei Entscheidungen über den allgemein bildenden Status eines Faches, hat die Informatik in den letzten Jahrzehnten aber stetig an Boden gewonnen.

Die Fachdidaktik Informatik stellt insofern ein Novum in der Bildungsgeschichte dar, als sie sich praktisch gleichzeitig mit dem Fach der Informatik entwickelte. Die stürmische Entfaltung der Informatik hatte dabei jedoch weniger Einfluss auf ihre zugehörige Fachdidaktik. Vielmehr reagierte die Fachdidaktik meist auf technologische und gesellschaftliche Entwicklungen, die den Computer mehr und mehr als neue Leittechnologie einer entstehenden Informationsgesellschaft erscheinen ließen.

Am Anfang in den 60ern und frühen 70ern stand der Hardware-orientierte Ansatz, der glaubte, den Schülern sei Computerwissen am Besten dadurch zu vermitteln, dass man sie selbst einen Rechner simulieren ließ, ihnen also binäre Arithmetik einbimste. Die Fähigkeit zur Codierung von Assembler-Programmen, zu der sich dieser Ansatz bestenfalls aufschwang, konnte schon damals kaum den Status der Allgemeinbildung beanspruchen und dürfte heute selbst unter Diplom-Informatikern eher gering verbreitet sein.

Ab Mitte der 70er Jahre folgte der Algorithmen-orientierte Ansatz der Fachdidaktik Informatik, auch unter dem Eindruck der Etablierung der Informatik selbst als neuer Disziplin. Schüler sollten nun lernen, algorithmische Lösungen von Problemen systematisch zu finden, als Programme zu formulieren und diese Fähigkeit auf praktische Anwendungen hin zu vertiefen. Der Unterricht war entsprechend Mathematik lastig und kreiste meist um schön gemalte Flussdiagramme. Aus der Didaktik selbst kam zudem ein neues Paradigma, das nunmehr eine Abkehr von der althergebrachten Orientierung der Fachdidaktiken an den akademischen Lehrplänen der wissenschaftlichen Disziplinen proklamierte. Die Bildungsziele sollten künftig mehr an gesellschaftlich für die Schüler relevanten Lebenssituationen ausgerichtet werden.

Der nun folgende anwendungsorientierte Ansatz wollte im Unterricht nur mehr Themen mit Praxisbezug behandeln, dies jedoch mit den Methoden des professionellen Software-Entwurfs. Es kam zu einer Überforderung von Lehrern und Schülern.

Eigenständiges Fach für informatische Grundausbildung

Ab Mitte der 80er-Jahre kam der benutzerorientierte Ansatz auf. Der Computer war inzwischen zum Wirtschaftsfaktor geworden, die USA und Japan schienen die westdeutsche Industrie weit hinter sich zu lassen. Manager lernten Japanisch, das Gespenst des "Computer-Analphabetismus" ging um und die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung einigte sich 1987 auf ein Gesamtkonzept "Informationstechnische Grundbildung" (ITG), die eine Integration von Computeranwendungen in verschiedene Fächer von Sozialkunde bis Physik vorsah, jedoch keinen eigenständigen Informatikunterricht.

Ein folgenschwerer Fehler, wie die Vertreter einer informatischen Grundbildung als eigenständiges allgemeinbildendes Fach heute sagen. Die ITG reduziere das Fach auf Benutzerschulung und Diskussion der Risiken und Chancen, verhindere dabei die notwendige Herausbildung eines einheitlichen Profils und einer stringenten Fachdidaktik. In der Praxis fühle sich meist keiner der Fachlehrer wirklich verantwortlich und im Ergebnis sei der entsprechende Bildungsstand von Abiturienten oft mangelhaft. Nötig sei daher ein Übergang zum systemorientierten Ansatz, der den Fokus der Schulinformatik vom Algorithmus und der konkreten Anwendung auf den Kernbegriff der Information verschiebt. Als dritte Grundgröße neben Stoff und Energie (Norbert Wiener) sei die Informatik in den klassischen Kanon neben Chemie, Physik, Biologie und Technik einzuordnen.

An dieser Kritik scheint etwas dran zu sein: Im Jahr 2001 veröffentlichte das Institut für Deutsche Wirtschaft Köln die Ergebnisse einer Studie zum Computerwissen der Abiturienten des Jahres 1999. Danach hatte im Bundesdurchschnitt nur ein Drittel dieses Abiturjahrganges das Computer-"Handwerk" im regulären Schulunterricht erlernt. Hinzu kamen rund 20 Prozent, die den Umgang mit dem PC in schulischen Workshops oder AGs trainiert haben. Als Vorreiter bei der Vermittlung von Computerkenntnissen in den Gymnasien erwies sich Mecklenburg-Vorpommern, das reiche Hamburg konnte dagegen nur knapp 40% Abiturienten mit Computerkenntnissen vorweisen.

Die Universität Hamburg hat jetzt immerhin zum Wintersemester 2003/2004 erstmals eine Professur für Fachdidaktik Informatik eingerichtet, um eine geregelte Ausbildung von Informatik-Fachlehrern zu beginnen. Der frischgebackene Didaktik-Professor Norbert Breier erklärte in seiner Antrittsvorlesung "Quo vadis Informatikunterricht, und welchen Beitrag kann die Informatik für die künftigen Informatiklehrer leisten" das Konzept der ITG für gescheitert.

Breier warnte vor einem Verkommen der Informatik zur reinen Produktschulung und plädierte für die informatische Grundbildung, wie sie im Rahmenplan von Sachsen bereits ins Visier genommen wird. Die neuen Bundesländer scheinen durch die Bank den Umgang mit dem neuen Fach lockerer anzugehen: An der TU Dresden z.B. sucht die Fachdidaktik Informatik die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft in Gestalt der Firma Infinion.

Die Zeit scheint also reif für einen Paradigmenwechsel in der Fachdidaktik Informatik, doch es sind noch einige Hindernisse zu überwinden. Die Trägheit der Bürokratien, taktische Winkelzüge der Bildungspolitik, aber auch die geringe Beliebtheit des Faches bei Pädagogen gilt es künftig zu bewältigen. Ganze 15 Lehramtsstudenten sollen sich in Hamburg bisher für das Fach entschieden haben, von denen aber in diesem Semester nur 7 den Weg in die beiden angebotenen Seminare gefunden haben. Für eine flächendeckende informatische Belehrung der deutschen Bildungslandschaft dürfte dies noch nicht ausreichen.