Mengeles Geist geht um

In diesem Herbst soll das Arzneimittelgesetz zum zwölften Mal erneuert werden. Wird der vorliegende Referentenentwurf angenommen, wären Pharmaversuche an Kindern wieder möglich

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In den kommenden Wochen wird im Bundestag der Entwurf für ein neues Arzneimittelgesetz diskutiert werden. Geht es nach dem Willen des Berliner Gesundheitsministeriums unter Ulla Schmidt, könnten künftig entgegen bislang geltenden Recht- und Moralmaßstäben wieder in großem Maßstab Medizinversuche an Kindern durchgeführt werden, die selber nicht in der Lage sind, diese Experimente zu verstehen, geschweige denn, ihnen zuzustimmen. Die Bundesregierung hebelt damit einen zentralen Grundsatz der Arzneimittelforschung aus, der sich ethisch unmittelbar aus dem Nürnberger Ärzteprozess ableitet und der von den Alliierten 1946 und 1947 während der Kriegsverbrecherverfahren gegen Funktionäre des besiegten faschistischen Regimes entwickelt wurde.

Ein Hauptanklagepunkt stützte sich damals auf die Versuche, die Nazi-Ärzte an Menschen durchgeführt hatten, ohne deren Zustimmung einzuholen. Schreckliche Berühmtheit erlangten in diesem Zusammenhang vor allem die Lebendexperimente des NS-Arztes Josef Mengele, der sich auf "höhere Werte" als den Schutz des individuellen Lebens berief.

Chefankläger Telford Taylor hatte bereits zu Beginn des Verfahrens erklärt, dass es sich in Nürnberg keineswegs um einen herkömmlichen Mordprozess handele, "weil die hier Angeklagten in ihrem Beruf als Ärzte zu Mördern wurden". Daher, so Taylor später, habe es sich bei den Lehren des Prozesses auch um Grundprinzipien gehandelt, "welche befolgt werden müssen, so dass Versuche am Menschen nicht gegen Moral, Ethik und Rechtsprinzipien verstoßen".

- Bild Taylor -

Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich.

Erster Satz des Nürnberger Kodex

Diesem Grundsatz folgend stehen "nicht einwilligungsfähige Personen" seither unter besonderem Schutz des Gesetzgebers. Bei geistig beeinträchtigten Menschen oder Bewusstlosen muss ebenso von medizinischen Versuchen abgesehen werden wie bei Minderjährigen. Die einzige allgemein gültige Einschränkung dieses Grundsatzes griff bislang dann, wenn der Proband direkten Nutzen aus dem getesteten Präparat ziehen könnte. Eine solche "eigennützige" Verabreichung eines neuen Präparates wäre "unter Umständen sogar im unmittelbaren Interesse des nicht einwilligungsfähigen Patienten geboten", erkennt auch die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer an.

Fernab der kritischen Öffentlichkeit wird in Expertenkreisen derzeit der erste Entwurf für eine zwölfte Novelle des Gesetzes von 1976 diskutiert. Medizinethiker warnen angesichts des vorliegenden Dokumentes des Gesundheitsministeriums vor einem historischen Rückschritt hinter die moralischen und ethischen Erkenntnisse der Zunft. In Paragraph 41 wird mit dem Prinzip der eigennützigen Forschung bei Minderjährigen 56 Jahre nach dem Nürnberger Prozess gebrochen, wenn es in dem Absatz über die klinische Prüfung von Arzneimitteln bei Minderjährigen heißt:

Die klinische Prüfung muss für die Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leidet wie die betroffene Person, mit einem direkten Nutzen verbunden sein (...)

Ein kleiner Satz, der viel verändert. Nach Ansicht des Mediziners Michael Stoeter ist das Vorhaben des Bundesgesundheitsministeriums "mit einer Vielzahl von Grundrechten nicht vereinbar". Der an der Charité Berlin forschende Mediziner glich den Gesetzentwurf in Zusammenarbeit mit dem Juristen und Geschäftsführer der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät Charité am Virchow-Klinikum, Christian von Dewitz, mit der Verfassung ab. Danach verstößt eine solche "gruppennützige Anwendung" von Therapeutika nicht nur gegen die Unverletzbarkeit der Menschenwürde (GG, Art. 1), sondern auch gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit (GG, Art. 2) und das geschützte Kindeswohl (GG, Art.6, Abs.2).

Der Vorstoß aus dem Schmidt-Ministerium kommt nicht aus heiterem Himmel. Seit geraumer Zeit schon drängt die Pharmaindustrie auf eine Liberalisierung der Forschungsrestriktionen in Deutschland. Bislang hat sich die Legislative erfolgreich gegen den Druck der Konzerne gewehrt. Als die EU-Staaten etwa die Bioethikkonvention verabschiedete, wurden in Deutschland 2,5 Millionen Unterschriften gegen die Ratifizierung gesammelt. Im Zentrum des Protestes stand auch hier ein Passus, der die fremd- oder gruppennützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen erlaubt hätte. Der Bundestag lehnte die Ratifizierung der Konvention ab.

"Spätestens an dieser Stelle", so Stoeter und Dewitz, "drängt sich der Verdacht auf, dass die Entscheidung des Bundestages durch die Hintertür des Arzneimittelgesetzes wieder revidiert werden soll". Der Mediziner Michael Wunder, Mitglied der Enquête-Kommission "Ethik und Recht in der Modernen Medizin" befürchtet sogar, dass dieser Vorstoß nur ein erster Schritt hin zur fremdnützigen Forschung auch an anderen Gruppen nicht einwilligungsfähiger Menschen sein könnte. Fiele der Schutz alter oder behinderter Menschen, könnte die deutsche Pharmaindustrie den lukrativen Markt der Psychopharmaka und Alzheimer-Therapeutika erschließen. So hieß es in einer Stellungnahme des "Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller" (VFA):

In einigen Bereichen besteht ein erheblicher Bedarf an Behandlungsoptionen, der zum Wohl aller Beteiligten zum Teil nur durch diese so genannte fremdnützige Forschung erfüllt werden kann. Bei Abwägung aller ethischen Aspekte macht sich der VFA daher (...) zum Befürworter der fremdnützigen Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen (...)

Ein ethischer Aspekt, der von den VFA-Funktionären beim Abwägen vermutlich bewusst nicht in die Wagschale gelegt wurde, ist der unbedingte Schutz des individuellen Lebens. Bei Enquête-Mitglied Wunder heißt es dazu: "Das Vermächtnis von (den Kriegsverbrecherprozesses in) Nürnberg ist die dringend gebotene Absage an jede kollektivistische Orientierung. Eine humane medizinische Forschung und die Medizin der Zukunft ist immer dem Wohl konkreter Menschen verpflichtet."

Gigantomane Gesundheitsvorstellungen hätten schon in der Nazi-Ära dazu geführt, dass nicht nur die Recht, sondern auch das Leben des Einzelnen missachtet wurde, um den "Volkskörper" zu schützen. Eine (un)ethisch Tendenz, die offenbar wieder Anhänger findet.