Zählt ein Leben mehr als zwei?

Seit Jahren schon greifen britische Bioethiker bislang geltende moralische Grundsätze an, ihre Lehren treffen nun auch in Deutschland auf offene Ohren

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Jährlich entscheiden sich in Deutschland rund zwei Million Menschen zur Blutspende. Insgesamt werden vier Million Einzelspenden eingelagert. Nach Angaben des Roten Kreuzes werden pro Tag aber etwa 15.000 Blutspenden benötigt, das sind pro Jahr über fünf Millionen. Die Bedarfslücke versuchen Hilfsorganisationen mit Appellen und aufwendigen Werbekampagnen zu schließen. Aber geht das auch anders?

Der Duisburger Philosophieprofessor Hartmut Kliemt stellte dem Problem in der Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" unlängst einen ungewöhnlichen Lösungsvorschlag entgegen: Potenzielle Spender sollten zur Abgabe von Blut zwangsverpflichtet werden, denn "ein solches Ansinnen scheint im deutschen Rechtsrahmen keineswegs von vornherein absurd". Zudem gebiete eine solche Spende die gesellschaftlich akzeptierte Hilfspflicht. Was aber, wenn der Gedanke konsequent weitergeführt würde? Kein Problem für Kliemt:

Die (zwangsweise) Lebensspende eine Niere ist zwar ungleich bedeutsamer als die bloße zwangsweise Blutspende, doch bewegt sie sich immer noch in einem Bereich, in dem keine dramatischen Einbußen an Lebensqualität zu erwarten wären.

Die Debatte um die moralische Beistandspflicht wird von Biomedizinern einhergehend mit den Erfolgen der modernen Transplantationsmedizin geführt. Allein dieser Umstand verweist auf ihre Eigennützigkeit. Im Ziel der Moralisten steht die gesellschaftliche Ethik. So schob der Bundestag dem Ansinnen einen Riegel vor, den Weg zu Lebendspenden zu ebnen. Nach dem geltenden Transplantationsgesetz darf nur dann ein Organ zur Verfügung gestellt werden, wenn zwischen Spender und Empfänger enge persönliche Bindungen bestehen, finanzielle Interessen also ausgeschlossen werden können.

Doch der Druck für eine weitere Liberalisierung wächst und wird bisweilen schon gar nicht mehr unter dem Deckmantel ethischer Fragestellungen ausgeübt. So propagiert der neoliberale US-Wirtschaftsexperte Gary S. Becker eine staatliche kontrollierte Preiskontrolle für den Organhandel. Wachsende Wartelisten und Schwarzmärkte für Organe, rechtfertigte Becker seine Vorstellungen vergangenes Jahr auf einem Symposium in Essen, zeigten schließlich, dass die Preise nicht funktionierten. Deutsche Mediziner sind nicht ganz so fortgeschritten, allerdings wird auch in deutschen Professorenbüros schon laut über Steuervorteile für freiwillige Organspender nachgedacht.

Gefährliche Gedankenspiele

Bislang beschränkten sich bioethische Vorstöße dieser Art auf den angelsächsischen Raum. Die dortigen "Utilitaristen" gehen bioethische Probleme oft grundsätzlich anders an als hiesige Denker. Steht gemeinhin die Frage "Was darf die moderne Medizin" im Mittelpunkt der Debatte, fragen die Utilitaristen: "Welche Möglichkeiten hat sie?" Zu welchen Auswüchsen eine solche Enthemmung wissenschaftlichen Denkens führt, beweist einer der führenden Köpfe der Zunft immer wieder aufs Neue: John Harris, Mitglied der Britischen Humangenetik-Kommission und Professor für Bioethik an der Universität Manchester. Schon Mitte der siebziger Jahre machte sich der Philosoph mit dem Modell der "Überlebenslotterie" von sich reden:

Jeder Mensch erhält eine Art Los-Nummer, die in einen Zentralrechner eingegeben wird. Immer wenn ein Arzt mindestens zwei Patienten hat, die nur durch Organspende gerettet werden können, er aber gerade keine geeigneten Organe aus natürlichen Todesfällen zur Hand hat, kann er am Zentralrechner geeignete Organe abrufen. Der Computer sucht die Nummer eines Spenders nach dem Random-Prinzip (dem Zufalls-Prinzip), und die selektierte Person wird getötet, damit mindestens zwei andere Menschen gerettet werden können.

John Harris in "Die Überlebenslotterie"

Gedanken macht dabei eigentlich nur noch die Vermittlung solcher Modelle. Natürlich, schreibt Harris, müsse ein geeigneter Euphemismus für Töten gefunden werden. Vielleicht würden dann von Bürgern die Rede sein, die aufgerufen werden, anderen "Leben zu geben". Das - und hier führt die Spur zu Harris Schüler Kliemt - würde in jener Gesellschaft als ethische Pflicht des Individuums erachtet. Der Einzelne würde sich gegen den kollektiven Druck nicht wehren können.

Wessen Interesse hält solche Diskussionen seit Jahren nicht nur am Laufen, sondern bringt sie zunehmend auch in die Bioethikdebatten ein, deren Konsens bislang der unbedingte Schutz des Individuums ist? Erst Anfang September sprach Harris in Berlin im Rahmen einer Gemeinschaftsveranstaltung des Deutschen Ethikrates und der Britischen Humangenetik-Kommission zum Thema Biobanken. In Großbritannien wird eine solche Datenbank von dem Medizinprofessor Tom Meade aufgebaut. Derzeit umfasst sie die Daten von einer halben Million Menschen zwischen 45 und 69 Jahren. Archiviert werden nicht nur Blut- und Gewebeproben, sondern auch der genetische Fingerabdruck und sogar Daten über den Lebensstil der Probanden.

Gesellschaft gegen individuelles Wohl?

Auch beim jüngsten Referat in Berlin zeigte sich Harris ideologisch standfest: Als Befürworter von umfassenden Biobanken trat er vor deutschen Medizinethikern, die mitunter dem Bundeskanzler beratend zur Seite stehen, für eine "moralische Pflicht" ein, sich für medizinische Forschung zur Verfügung zu stellen.

Irritierend wirkt, wie weit sich einige durch öffentliche Mittel finanzierte Professoren und "Ethikspezialisten" mit philosophischem Hintergrund von den Menschenrechten als Grundlage unseres Miteinanders entfernt haben. Offenkundig geht das Empfinden dafür verloren, dass jeder Mensch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat und diese eben nicht für das Wohl anderer zu opfern braucht. Und sie lehren damit eine "Ethik", die ganz offensichtlich den Maßstab, aus dem heraus sich Ethik überhaupt erst entwickeln kann, längst verloren hat.

Dr. Michael Stoeter, Kardiologische Forschung an der Franz-Volhard-Klinik an der Charité Berlin

Auch Michael Wunder, Mitglied der Enquête-Kommission "Ethik und Recht in der Modernen Medizin" bezeichnet die Debatte um den grundsätzlichen Schutz des einzelnen Menschen als "Symbol des Widerstandes gegen die Anwendung der Biowissenschaften auf den Menschen, des Fortschrittsglaubens, der utilitaristischen Güterabwägung, und der Zerstörung von Grundrechten". Der Nürnberger Kodex von 1947 schließlich stelle das Wohl des einzelnen Menschen und seinen menschenrechtlichen Schutz in den Mittelpunkt der Medizin. Nicht die Wissenschaft, nicht den Fortschritt, nicht das Wohl der Gesellschaft.

Es scheint kein Zufall, dass einhergehend mit der angelsächsischen Ethikdebatte auch die Diskussion um die Allgemeingültigkeit des Nürnberger Kodex für die medizinische Forschung in den vergangenen Jahren neu entbrannt ist. Und das, obgleich Völkerrechtsexperten davon ausgehen, dass der Medizinkodex als Dokument aus den Kriegsverbrechertribunalen Völkerrechtscharakter besitzt und somit einklagbares Recht darstellt. "Das Vermächtnis von Nürnberg", so Wunder, "ist die dringend gebotene individualethische Bindung der Medizin." Das schließe im Gegenzug die Absage an jede kollektivistische Orientierung aus.

"Bei Harris haben wir es sicherlich nicht mit Gedankenexperimenten zu tun, die für die praktische Umsetzung gedacht sind", erklärt die Journalistin und Bioethikerin Erika Feyerabend vom Verein Bioskop. Harris sei vielmehr Wortführer einer bioethischen Schule, die im übrigen Europa bislang kaum Beachtung gefunden habe. Doch würde von derartigen Diskussionsbeiträgen der bisherige gesellschaftliche Konsens zunehmend in Frage gestellt, und dazu zähle, so Feyerband, der unbedingte Schutz des individuellen Lebens.