Die Schamanen der Schwäbischen Alb

Das Donautal vor rund 30.000 Jahren: ein Dorado der Jungen Wilden

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Die Fähigkeit Kunstwerke zu schaffen, gilt Archäologen als Indikator für eine entscheidende Stufe in der Evolution des Menschen, weil sie auf eine enorme Denk- und Abstraktionsfähigkeit hindeutet. Die Schwäbische Alb hat sich, was das Auffinden der ersten Spuren solchen Schaffens betrifft, in der Vergangenheit als wahre Fundgrube erwiesen. In den Höhlen Vogelherd, Geißenklösterle, Hohlenstein-Stadel und Hohle Fels wurden mehrere Figuren von Tierdarstellungen aus Mammut-Elfenbein gefunden.

Die bekannteste ist der Löwenmensch, eine aufrecht stehende, knapp 30 Zentimeter große Gestalt - halb Tier, halb Mensch. Ihr Alter wird auf erstaunliche 30.000 Jahre geschätzt, womit der Löwenmensch als eines der ältesten figürlichen Kunstwerke der Menschheit gilt. Ein Archäologen-Team um Nicholas Conard von der Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie des Instituts für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Tübingen hat jetzt drei weitere Funde ausgewertet, die dafür sprechen, dass das Donautal im frühen Jungpaläolithikum ein wichtiges Zentrum kultureller Innovation war.

Die Hallenhöhle Hohle Fels liegt im Achtal rund 20 Kilometer von Ulm entfernt. Seit dem frühen 19. Jahrhundert finden dort Ausgrabungen statt. 1999 wurden endlich die Gesteinsschichten erreicht, die der Aurignacien-Kultur (45.000 bis 30.000 vor Chr.) zugeordnet werden. Einer Zeit, in der der moderne Homo sapiens sapiens immer weiter ins Innere von Europa vordrang. Drei aus diesen Aurignacien-Schichten stammende Skulpturen stellt Conard im aktuellen Nature vor: einen Pferdekopf, einen Wasservogel und die Hälfte einer Figur, die dem Löwenmenschen ähnelt. Die Skulpturen sind ebenfalls aus Mammut-Elfenbein gefertigt. Anhand der Radiokarbon-Methode konnte ihr Alter auf 30 000 bis 33 000 Jahre bestimmt werden. Mit einer Größe von drei bis fünf Zentimeter sind sie allerdings deutlich kleiner als ihr Vorbild.

Aus der Konzentration von Elfenbeinschnitzereien an den vier bekannten Fundorten in der Schwäbischen Alb schließen die Archäologen, dass es sich um wichtige Siedlungsorte handelte, deren Bewohner in handwerklichen Techniken und Materialkunde bereits ziemlich beschlagen waren. Was die frühen Handwerker mit ihrer Kunst allerdings ausdrücken wollten, bleibt spekulativ. Der neu entdeckte Wasservogel, der möglicherweise einen Kormoran oder einen Ente abbildet, spricht gegen die vorherrschende Annahme, dass die frühen Künstler die Darstellung kräftiger und gefährlicher Tiere wie Löwe, Mammut oder Bär bevorzugten. Er könnte nach Meinung von Nicholas Conard jedoch ein Hinweis darauf sein, dass die frühen Höhlensiedler ganz einfach Tiere schnitzten, die sie bewunderten. Seiner Meinung nach spricht der Fund eines zweiten Löwenmenschen auch sehr für die These, dass die Höhlenmenschen Schamanismus praktizierten.

Auch die Frage, warum diese ersten Kulturzeichen wie aus dem Nichts im schwäbischen Donautal auftauchten, bleibt rätselhaft. Die Tübinger Archäologen gehen davon aus, dass die Menschen entlang der Donau nach Schwaben einwanderten, als sich das Klima nach einer kalten, trockenen Wetterperiode langsam erwärmte. Obwohl in weiten Teilen Europas noch Neandertaler lebten, stießen sie dort vermutlich auf einen menschenleeren Raum und konnten sich ungehindert entfalten.

Die Elfenbein-Skulpturen der Schwäbischen Alb begründen eine der frühesten künstlerischen Traditionen weltweit. In einem begleitenden News-and Views-Artikel würdigt Anthony Sinclair von der Abteilung für Archäologie der Universität Liverpool, die Kunst der dort ansässigen frühen modernen Menschen noch ausführlicher. Seiner Ansicht nach zeigt das Figurenensemble, dass die wohlfeile These, nach der der Mensch seine schöpferischen Fähigkeiten nur sehr allmählichen und relativ spät entwickelte, überdacht werden muss. Diese Annahme sei zwar sehr verführerisch, da sie gut in die allgemeine Vorstellung von Evolution passe. Die bisherigen Funde - und darin schließt Sinclair u. a. auch die Höhlenmalereien von Chauvet und Lascaux oder die Textilfunde von Pawlow und Dolni Vestonice ein - sprechen seines Erachtens jedoch vielmehr dafür, dass der moderne Mensch seine handwerklichen Kunstfertigkeiten recht schnell entwickelte.