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Leichenscheu: Auch die Wahrheitsfindung bei Gewaltdelikten wird in Deutschland immer mehr zur Kostenfrage

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Quincy war der Anfang. Mittlerweile ist er uns schon richtig ans Herz gewachsen, in fast jedem Fernsehkrimi spielt er eine wichtige Rolle: der Rechtsmediziner. Am Tatort sichert er Spuren, er obduziert das Mordopfer, gibt Hinweise auf die Tatwaffe und hilft so, den Täter zu finden. Im wirklichen Leben allerdings wird die Todesermittlung nicht immer so gewissenhaft betrieben und der Rechtsmediziner allmählich zur bedrohten Spezies.

Seit mehreren Jahren schon beklagen die Fachleute der Todesermittlung, dass Haus- und Notärzte, die immer als Erste zu Sterbenden oder Toten gerufen werden, kaum Ahnung von den Zeichen eines nicht natürlichen Todes haben. Auch bei der Ausbildung der Kripobeamten spielt die Todesermittlung eine schwindende Rolle. Aus Staatsanwaltschaften hört man Geschichten von Polizisten, die zwar in der Todesermittlung eingesetzt werden, aber ein Hämatom nicht von einem Totenfleck unterscheiden können. Bereits vor drei Jahren hat die "Zeit"-Journalistin Sabine Rückert in ihrem Buch "Tote haben keine Lobby" auf die Problematik der nicht entdeckten, der übersehenen und der erfolgreich vertuschten Tötungsdelikte hingewiesen und die Fehlerkette bei der staatlichen Todesermittlung analysiert.

Rechtsmediziner schätzen, dass in Deutschland jedes zweite Tötungsdelikt nicht bekannt wird, pro Jahr sind das mindestens 1.200 Fälle. Um diesen Missstand zu beheben, fordern sie wie auch die Generalstaatsanwälte und der Generalbundesanwalt schon seit Jahrzehnten, die Einsetzung speziell ausgebildeter Ärzte für die Leichenschau, doch ohne Erfolg: Nach wie vor werden in Deutschland nur etwa 7 Prozent aller Leichname (Zahlen vgl. Rückert) seziert - im benachbarten Österreich sind es 20 Prozent, in Finnland sogar 35 Prozent. Für die deutsche Mordstatistik ist das natürlich erfreulich: Während nämlich bei uns bis Ende der 90er-Jahre auf 10.000 Tote 20 Tötungsdelikte kamen, sind es in Finnland 33, und niemand wird ernsthaft behaupten, dass die finnische Bevölkerung krimineller wäre als die bei uns.

Doch nicht nur, dass die Leichenschau in Deutschland trotz massiver Kritik anhaltend "leichenscheu" betrieben wird, die Sparmaßnahmen an deutschen Unis bedrohen nun auch die Existenz rechtsmedizinischer Institute. Die Institute in Lübeck, Marburg und Aachen wurden bereits geschlossen und die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin sorgt sich wegen weiterer geplanter Maßnahmen: In Berlin wurde im September die Zusammenlegung der Institute der Freien Universität und der Charité beschlossen. In Niedersachsen soll laut einem Ministerratsbeschluss das Institut für Rechtsmedizin in Göttingen nach der Pensionierung des derzeitigen Lehrstuhlinhabers (2005) geschlossen werden. In Sachsen-Anhalt wurde den Universitäten Magdeburg und Halle vorgegeben, eine bestimmte Zahl von Personalstellen und von finanziellen Mitteln einzusparen. An beiden Fakultäten wird nun u. a. die Schließung des jeweiligen Instituts für Rechtsmedizin diskutiert. In Berlin besteht, als städtische Einrichtung, ein Landesinstitut für Rechtsmedizin, das von dem derzeitigen Leiter der beiden universitären Institute in Personalunion geführt wird. Dieses Institut soll in der Zukunft mit dem Landesinstitut des Landes Brandenburg in Potsdam zusammengelegt werden. Unklar ist das Schicksal der Institute in Kiel und Lübeck. Das Universitätsinstitut in Dresden wurde, nach der Pensionierung des früheren Direktors, nicht mehr als Ordinariat ausgeschrieben, es wird seitdem kommissarisch vom Oberarzt geführt.

Es wird gespart ohne Rücksicht auf Verluste. Schon heute hat ein so großes Bundesland wie Nordrhein-Westfalen nur noch ganze zwei rechtsmedizinische Institute: eines in Köln, eines in Münster. Und viele Institutsleiter fürchten, dass ihre Stelle nach ihrer Pensionierung nicht mehr ausgeschrieben werden könnte. Das würde die Rechtsmedizin schwer treffen, denn immerhin stehen in den kommenden drei Jahren zehn Pensionierungen von Institutsdirektoren an.

Die Arbeit von Ermittlungsbeamten wird damit immer schwieriger, weniger effektiv und letztendlich sogar teurer. Um Beweise zu sichern, müssen die Opfer rasch und möglichst vor Ort untersucht werden, denn an einem Leichnam verändern sich Spuren schnell. Künftig müssen also entweder die Staatsanwälte mit den Leichnamen weite Fahrten unternehmen oder die Rechtsmediziner zum weit entfernten Tatort reisen. Beides kostet Zeit und Geld. Obendrein ist schon jetzt erwiesen, dass mit zunehmender Entfernung des nächsten rechtsmedizinischen Instituts die Zahl der staatsanwaltlich angeordneten Obduktionen abnimmt.

Die Schließung rechtsmedizinischer Institute bedroht aber auch die Rechtsmedizin als Wissenschaft. Dazu gehören u. a. Forschungsgebiete wie die forensische DNA-Analyse, die Isotopenforschung und die Verfeinerung toxikologischer Untersuchungen zur Identifikation schwer nachweisbarer organischer Giftsubstanzen sowie auch biomechanische Untersuchungen mit dem Ziel, Modelle für die Computersimulation des Menschen zu erarbeiten, um damit bestimmte Unfallkonstellationen modellieren zu können, mit denen sich präventive Elemente in Kraftfahrzeugen konstruieren lassen.

Das Sparen bei der Rechtsmedizin hat gravierende Folgen, da erstaunt es nicht, dass mancherorts auch von staatlicher Strafvereitelung gesprochen wird. Während die gesamte Nation angesichts von Reformen und Wirtschaftskrise mit gemischten Gefühlen ins neue Jahr blickt, können Gewalttäter in Ruhe ihre Pläne schmieden - sie werden es in Zukunft immer leichter haben, einer Strafe zu entgehen. Quincy, übernehmen Sie!