Kernspaltung statt Osterweiterung?

Nach dem vorläufigen Scheitern der EU-Verfassung drängt Frankreich auf ein neues Europa-Konzept, die Bundesregierung wartet ab

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Das Scheitern der Verfassungskonferenz Mitte Dezember in Brüssel bedeutet für die Europäische Union "eine der ernsthaftesten Krisen ihrer Geschichte und könnte eine schon sichtbare Spaltung vollenden", resümierte die Washington Post im Rückblick. Andere konnten der Situation etwas Positives abgewinnen. "Seit dem Wochenende ist Kerneuropa zu einer realen Gestaltungsoption für den europäischen Einigungsprozess geworden", jubelte Werner Weidenfeld, Präsidiumsmitglied der Bertelsmann Stiftung und Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP), einem der wichtigsten deutschen Think-Tanks.

Sollte es in den nächsten Monaten vor allem in der Frage der Abstimmungsregeln im Ministerrat zu keiner Einigung mit Spanien und Polen kommen, so könne sich Kerneuropa dauerhaft als alternatives Integrationsmodell etablieren. Länder wie Polen und Spanien seien dann lediglich Teil der wirtschaftlichen Integration, nicht jedoch der Politischen Union.

Werner Weidenfeld

Es soll auf dem Gipfel sogar schon eine entsprechende Erklärung ausgearbeitet worden sein. Man habe nur davon abgelassen, weil dies die ohnedies fragile Situation weiter verschärft, die Spaltung noch offensichtlicher gemacht hätte.

Wann die Staats- und Regierungschefs den nächsten Anlauf zu einer Einigung über die EU-Verfassung nehmen, ist völlig ungewiss . Frühestens in drei Monaten werde er eine neue Regierungskonferenz einberufen, sagte der irische Ministerpräsident Bertie Ahern, der seit 1. Januar den EU-Vorsitz innehat. Der schwedische Regierungschef Göran Persson hingegen meinte, die nächsten wirklichen Verhandlungen seien erst unter Luxemburgs Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2005 zu erwarten.

Wer soll zum Kern gehören?

Vor diesem Hintergrund geht die Diskussion um ein Europa der zwei Geschwindigkeiten - so eines der Synonyme für die Schaffung eines Kerns - weiter. Allerdings sind die deutschen Stimmen, mit Ausnahme des zitierten Weidenfeld, dabei eher vorsichtig. Hohe deutsche Regierungsangehörige äußerten privat gegenüber Financial Times, dass sie "von Kerneuropa nicht viel halten, vor allem, wenn es von Frankreich dominiert wird". Bundeskanzler Gerhard Schröder bezeichnete Kerneuropa lediglich als "zweitbeste Lösung". Ulrike Guerot, Frankreich-Spezialistin in der Deutschen Gesellschaft für Europäische Politik, sieht eine Erosion der Rolle Deutschlands:

Wir repräsentieren traditionell eine Brücke nach Osteuropa und zu den Vereinigten Staaten. Aber die Dynamik, die uns die deutsch-französische Annäherung heute aufzwingt, erschwert uns diese Rolle, und das ist weder gut für uns noch für Europa. Die deutsch-französische Union, wie sie in Paris unterstützt wird, ist vielleicht ein positiver und anregender Mythos, aber niemand weiß, was das konkret bedeuten soll.

Dagegen forderte Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac ganz direkt, nun sollten "Pioniergruppen" vorangehen. In der EU gäbe es dadurch "einen Motor. Der frühere Präsidentenberater Jacques Attali sprach sich zu Jahresanfang sogar für einen neuen Staatenbund aus - alle Länder, die den in Brüssel gescheiterten Verfassungsentwurf unterschrieben haben, könnten mit von der Partie sein. Der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker brachte ein erstes Separattreffen interessierter Regierungen bereits für Januar oder Februar ins Gespräch. Auch Kommissionspräsident Prodi "segnet Kerneuropa ab", meldete die Financial Times Deutschland.

Welche Staaten zum erlauchten Kerneuropa gehören sollen, ist aber alles andere als geklärt. Sollen es die "Großen drei" sein, die sich in Gestalt von Schröder, Chirac und Blair am Vorabend des Gipfels zusammengesetzt hatten? Oder die Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft, des Vorläufers der EU - was Großbritannien aus- und Italien einschlösse? Die Financial Times Deutschland rechnet beide Staaten nicht unter die "denkbaren Beteiligten", sondern nennt Frankreich, Deutschland, Belgien, Luxemburg, Portugal, Finnland, Österreich, Griechenland, Lettland, Ungarn, Tschechien und Slowenien. Dieser 12er-Club wäre abgeschottet gegenüber den vier wichtigsten Trojanischen Pferden der USA in Europa: Die Regierungen in Warschau, Madrid, Rom und London blieben draußen. Nur auf diese Weise könnte sich wohl ein echter Konkurrenzblock zum US-Empire herausbilden.

Auf den ersten Blick ähnelt diese Überlegung dem ursprünglich im Herbst 1994 von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers für die CDU/CSU skizzierten Kerneuropa. Schon bei ihnen waren Italien und Großbritannien ausgenommen. Auf dem Höhepunkt der damaligen Debatte befürwortete Commerzbank-Chef Martin Kohlhausen im Oktober 1995 sogar die Schaffung der Währungsunion, "selbst wenn Frankreich nicht von Anfang an dabei ist". Dann wären als Kern nur Deutschland und die an die Deutsche Mark gekoppelten Staaten übriggeblieben.

Von der Germanisierung zur Französisierung Kerneuropas

Doch bei genauerer Betrachtung gibt es heute gravierende Differenzen zur damaligen Situation. Bis vor etwa einem Jahr fußte die deutsche Europa-Politik nämlich auf zwei Konstanten: Zum einen sollte das französische Gewicht durch die Aufnahme osteuropäischer Staaten geschmälert werden, die als Agrarländer direkt mit den französischen Produkten konkurriert hätten. Die Stimmenverteilung in den EU-Gremien, deren Änderung mittels der neuen Verfassung Schröder und Fischer jetzt ultimativ fordern, war von ihnen bei ihrer Festlegung auf der EU-Konferenz von Nizza im Jahre 2000 noch vehement unterstützt worden, weil sie zu Lasten Frankreichs gegangen war.

Zum anderen sollte der Kern Europas in der ursprünglichen deutschen Konzeption nicht unbedingt aus den Staaten, sondern vor allem aus den Wirtschaftszonen Mittel- und Westeuropas bestehen - also ohne Gesamtitalien, aber vielleicht inklusive der reichen Lombardei. Die Rede war von einem föderalen Europa, einem Europa der Regionen, im Unterschied zum französischen Ideal eines Europa der Vaterländer. Regionalistische Tendenzen hätten in dem Maße stärker werden können, wie die Zentralstaaten mittels des von Deutschland durchgepeitschten Stabilitätspaktes zu einer restriktiven Haushaltspolitik - und damit zum Verzicht auf Strukturmaßnahmen zur Stabilisierung ihres nationalen Zusammenhalts - genötigt worden wären. Noch im Jahr 2001 hatte Schröder für eine Kürzung europäischer Kohäsionsfonds plädiert, was in allen romanischen Ländern als Kriegserklärung gesehen wurde, weil es die Agrarregionen von Brüsseler Zahlungen abgeschnitten und den Staatszerfall begünstigt hätte.

Doch im Jahr 2003 hat sich gezeigt, dass die deutschen Pläne nicht durchsetzbar sind. Zum einen war Berlin in der Irak-Krise auf den Schulterschluss mit Paris angewiesen, während die meisten deutschen Zöglinge in Osteuropa sich urplötzlich als treue Vasallen Washingtons entpuppten. Zum anderen war Deutschland aufgrund seiner schlechten Wirtschaftsdaten gezwungen, zusammen mit Frankreich den Stabilitätspakt auszusetzen, mit dem es ursprünglich den Rest des Kontinents nach seinem monetaristischen Bilde hatte formen und fragmentieren wollen. Bei der Ausarbeitung des EU-Verfassungsentwurfs haben Schröders Unterhändler dem Wunsch der Franzosen nach einer Bewahrung nationalstaatlicher Kompetenzen mehr Rechnung getragen als in den Jahren zuvor.

Ein deutliches Indiz, dass das aktuell diskutierte Kerneuropa eher im Interesse Frankreichs als im Sinne seiner deutschen Erfinder ist, mag die ablehnende Position von Schäuble sein. Nach dem geplatzten Gipfel sagte er:

Unsere Idee von 1994 sollte ein dringend notwendiges Element der Dynamik schaffen. Wir brauchen die Führung derjenigen, die in der Bereitschaft zur Integration schon ein Stück weiter sind. Aber unser Kerneuropa war nicht gedacht als Instrument zur Spaltung, sondern als Element, um die Einigung voranzubringen. Deswegen galt eines absolut: Jeder, der bereit war mitzumachen, war eingeladen. Als Drohung darf es schon gar nicht verwandt werden. Deswegen war es vor dem Gipfel falsch, mit einem Kerneuropa zu drohen. Genauso falsch ist es hinterher.

Das ist natürlich geflunkert, denn auch bei seiner Idee von vor zehn Jahren ging es, wie gezeigt, um eine Spaltung. Aber sie wäre, anders als jetzt, nicht zu Lasten der Verbindung Deutschlands mit den USA und seinem osteuropäischen Hinterhof gegangen.

Das Versagen der deutschen Außenpolitik steht in ursächlichem Zusammenhang mit der Wiederbelebung der deutsch-französischen Beziehungen. Diese Allianz war einst die Lokomotive der europäischen Integration. Heute ist sie ein Spaltpilz. In Händen von Politikern wie Gerhard Schröder und Jacques Chirac hat sie nur Unheil angerichtet.

So resümierte ein Kommentar in der Financial Times Deutschland zum Jahresende das entstandene Desaster

Deswegen war auch Schäuble bereits im in der Irak-Krise gegen die Achse Paris-Berlin aufgetreten. Im engen Schulterschluss mit dem Nachbarstaat seien die Franzosen die Köche und die Deutschen die Kellner, so sein Kommentar damals. Bei allen Unwägbarkeiten, die die weitere EU-Entwicklung in sich birgt, wäre zumindest das ein Fortschritt: Lieber die Französisierung Deutschlands als die Germanisierung Europas.