"Das braucht das Land ..."

Die SPD sucht die Eliten von morgen

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Von feinnervigen Zeitgenossen wurde Gerhard Schröder schon 'Genosse der Bosse' genannt, bevor die staatsbürgerliche Mehrheit auch nur eine leise Ahnung davon hatte, was unter diesem spitzfindigen Beinamen in etwa zu verstehen sei. Doch seit der Vorstellung der Agenda 2010 und Franz Münteferings erhellender Verlautbarung, die Sozialdemokratie sei nicht primär gegründet worden, um Verteilungsgerechtigkeit zu organisieren, klären sich allmählich die Fronten. Offenkundig sind die Zeiten, da das soziale Gewissen aus gesellschaftlichen Untiefen um gelegentliche Erhörung bat, endgültig vorbei. Im verzweifelten Kampf gegen Meinungsumfragen und Stimmungsbarometer suchen die Sozialdemokraten medientaugliche Verbündete und zeitgemäße Standpunkte, von denen aus Deutschland erneuert, reformiert und obendrein noch historischer Ballast abgeworfen werden kann.

Jüngstes Beispiel ist die Forderung nach Eliteuniversitäten, die Generalsekretär Olaf Scholz auf der Weimarer Klausurtagung des SPD-Präsidiums überraschend aus dem Hut zauberte. Die Sprachregelung scheint dabei so zu sein, dass die Rede von Elite vermieden, dafür aber gerne von "Spitzen" gesprochen wird. "Wir müssen erreichen, dass es in Deutschland Spitzenuniversitäten gibt", verkündete Scholz am Montagabend: "Das braucht das Land, wenn es international wettbewerbsfähig sein will." In einem Thesenpapier mit dem Titel Weimarer Leitlinien "Innovation" wird die Neustrukturierung der deutschen Bildungslandschaft bereits skizziert.

Wir brauchen neben einer höheren Anzahl von Hochschulabsolventen auch eine stärkere Förderung von Spitzenleistungen. Wir wollen die Struktur der Hochschullandschaft so verändern, dass sich Spitzenhochschulen und Forschungszentren etablieren, die auch weltweit in der ersten Liga mitspielen und mit internationalen Spitzenhochschulen wie Harvard und Stanford konkurrieren können.

Parteiübergreifend vereinbarte Grenzen der Forschung - etwa der Kompromiss über den Umgang mit embryonalen Stammzellen - sollen noch einmal diskutiert und Wissenschaftler endlich besser bezahlt werden. Außerdem will man den Anteil der Studienanfänger pro Jahrgang von aktuell rund 35 auf 40 Prozent anheben und ausländische Studenten mit attraktiveren Rahmenbedingungen nach Deutschland locken. Geplant ist darüber hinaus, den Anteil der Forschungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 2,5 Prozent im Jahr 2001 auf zukünftig drei Prozent zu steigern Um das Bildungspaket zu finanzieren, denkt Scholz offenbar an erhebliche Investitionen von Seiten der Wirtschaft, ein größeres Engagement der öffentlichen Haushalte und eine Reform der Erbschaftssteuer.

Schützenhilfe bekommt der Generalsekretär von Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn. Sie fordert gleich "zehn Spitzen-Universitäten, die dann auch in der ersten Liga weltweit mitspielen". Die Erstligisten könnten als "Zugpferd" für den angeschlagenen Rest der deutschen Bildungslandschaft dienen.

Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Ernst-Ludwig Winnacker, hält diese Zahl für unrealistisch, plädiert aber ebenfalls für eine massive Stärkung des hiesigen Forschungs- und Bildungsstandortes: "Die DFG schlägt daher die Gründung einer begrenzten Zahl von Graduiertenschulen und Forschungsstudiengängen vor, die an zunächst etwa sechs Universitäten ermöglichen soll, auf Spitzenleistungen in der Forschung hin auszubilden. Diese Graduiertenschulen müssten im Wettbewerb untereinander ausgewählt werden." Nur im Rahmen dieses Wettbewerbes könne sich überhaupt herausstellen, was eine Eliteuniversität ausmache und auch deren tatsächliche Existenz sei noch kein Allheilmittel, weil "bereits heute ein beachtlicher Leistungsgradient" im deutschen Hochschulsystem existierte. Immerhin bekämen die 17 besten der etwa 100 deutschen Universitäten schon jetzt 50 Prozent der DFG-Fördermittel.

Auf den Oppositionsbänken und beim grünen Koalitionspartner wurde der Vorstoß der Parteispitze überwiegend kritisch aufgenommen, auch wenn nicht alle Kommentatoren zu so verblüffenden Einsichten kamen wie der nordrhein-westfälische CDU-Vorsitzende Jürgen Rüttgers, der in der "Berliner Zeitung" die Meinung vertrat, Deutschland habe bereits Eliteuniversitäten, die allerdings überbelegt und unterfinanziert seien. Aachen zum Beispiel. Oder München. Oder Bremen.

Seine Parteifreundin, Hessens Kultusministerin Karin Wolff, verzichtete auf Polemik und überflüssige Randbemerkungen, um sich stattdessen noch einmal dem Ausgangspunkt der gesamten Diskussion zu widmen. "Ich finde es verblüffend", sagte sie, "dass die SPD ein Thema anpackt, das in der Partei bisher tabu war."

In der Tat, das ist verblüffend, zumal weder bei der SPD noch sonst irgendwo die Frage geklärt wurde, wie die zukünftige Elite aussehen, welchen Zwecken sie dienen und welche Defizite des deutschen Forschungs- und Bildungswesens sie auf welche Weise beheben soll. Darüber hinaus scheinen Pisa- und andere Studien darauf hinzudeuten, dass die Ausbildung einer wissenschaftlichen Elite allenfalls ein Teilproblem lösen könnte. Durch eine Reform von oben wird es kaum weniger Germanisten geben, die nicht wissen wann und noch wichtiger: wofür Goethe, Büchner oder Fontane gelebt haben. Und auch die Anzahl der Mathematiker, denen der Höhensatz des Euklid Schweißperlen auf die Stirn treibt, wird sich dadurch kaum merklich reduzieren lassen.

Insofern muss dem Leiter des Centrums für Hochschulentwicklung, Detlef Müller-Böling, zugestimmt werden, der sich für eine substantielle Neuordnung des gesamten Hochschulsystems und erkennbar mehr Wettbewerb aussprach: "Jede Hochschule muss die Chance haben, Eliteuniversität zu werden. Eine Eliteuniversität kann man nicht durch Parteibeschluss gründen."