Brickfilms: Lego in Bewegung

Wie Stein für Stein ein Film entsteht

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Der Schauplatz des Films Animation Class 1 ist ein Klassenzimmer. Die Schüler tanzen auf den Tischen, raufen und tragen altersgemäße Rivalitäten und Kämpfe aus. Einer steht Schmiere und warnt die anderen, als der Lehrer über den Gang kommt. Als die Autoritätsperson gewichtigen Schrittes durch den Raum schreitet, mutiert die chaotische Melange der Schüler schlagartig in Reihe und Glied und begrüßt artig ihren Lehrer. Bis dahin eine Szene, die wohl jeder kennt. Einziger Unterschied: Schüler wie Lehrer werden nicht von Menschen aus Fleisch und Blut verkörpert, sondern von Lego-Figuren, die in einer aus Lego-Steinen gebauten Kulisse spielen. Auf dem Lehrplan von "Animation Class 1" stehen die Prinzipien der Stop-Motion Animation, der Technik, der auch das Genre der Lego-Filme oder Brickfilms (von englisch "brick" für Stein) - seine Existenz verdankt.

Stop-Motion-Technik, so alt wie Animation selbst, ist ein mühsamer und langwieriger Prozess, denn jedes Bild muss einzeln bearbeitet werden. Dazu werden die Figuren in Szene gesetzt, dann wird die Kamera ausgelöst, die Figuren ein winziges bisschen bewegt, dann beginnt der Vorgang von vorne. Einzelbild für Einzelbild wird so aufgenommen, 10-15 mal pro Sekunde wird der Kameraauslöser betätigt. Ein mit 15 Bildern pro Sekunde gedrehter Film mit fünf Minuten Länge besteht folglich aus insgesamt 4500 Bildern, was erklärt, warum die Produktion eines Brickfilms so leicht viele lange Monate dauert. Manche Regisseure schummeln daher und bewegen die Lego-Figuren z. B. mit ausgedienten Zangen aus Dentallaboren, während die Kamera im Aufnahme-Modus läuft.

Trotz solch langwieriger Produktionsverhältnisse gibt es eine engagierte, weltweit verstreute Lego-Animationsszene, die sich die kommunikativen und distributiven Vorteile des Internet zunutze macht. Das Mekka für Lego-Animatoren und -Fans von Großbritannien, den Niederlanden, Australien bis nach Neufundland ist die Seite Brickfilms.com. Hier gibt es Links zu Hunderten an Lego-Filmen, die zum Download zur Verfügung stehen. Kurze Synopsen zum Inhalt und Genre aller Filme erleichtern die Übersicht. Kürzlich publizierte Filme werden prominent auf der Startseite platziert.

Darüber hinaus erhalten Neulinge und Fortgeschrittene in Tutorien Auskunft darüber, welche Kamera sich für Lego-Filme am besten eignet, wie man effizient und Steinchen sparend Kulissen baut, wie man Szenen ausleuchtet und wie man den steifen, an sich nahezu immobilen Lego-Figuren Leben einhaucht. In moderierten, lebhaft besuchten Foren werden technische Fragen aller Art geklärt. Dort machen Filmemacher auch Werbung für ihre neuesten Produktionen. Auf der Site wird vermutet, dass es insgesamt zwischen 100 und 200 Brickfilm-Machern auf der ganzen Welt gibt.

Lego ist nicht das einzige Spielzeug, mit dem Filme produziert werden. Auch Playmobil- und Action-Figuren müssen als Protagonisten für Filme herhalten. In Tauschbörsen kursieren Filme, in denen Ken und Barbie das Undenkbare tun und endlich einmal Sex miteinander haben. Aber im Vergleich zu Lego-Filmen machen sie nur einen verschwindend geringen Prozentsatz aus.

Die Attraktivität von Lego

Vermutlich machen sowohl die vielfältige Verwendbarkeit der Steine, die kreativfördernde Reputation des Spielzeugs als auch die persönliche Vertrautheit und nostalgische Erinnerungen an die eigene Kindheit Lego zu solch einem beliebten Material für die Filmproduktion - denn welcher Haushalt in der westlichen Welt hat keine Kiste voll bunter Rechtecke, Quadraten und Platten zuhause stehen?

Zudem kann das heimische Wohnzimmer leicht zum Filmstudio umfunktioniert werden: Um einen Brickfilm zu produzieren, braucht man nur einen Computer, Lego-Steine und -Figuren, eine Kamera mit Einzelbildschaltung (am besten eine Webcam), eine Capture-Software, die die fertigen Einzelbilder im Computer zu einem Film zusammenstellt sowie eine Software für die Postproduction (ist bei jeder Webcam mit dabei).

Das eckige und kantige Material mit den charakteristischen Noppen sorgt so für den unverkennbaren Look von Filmen mit und aus Lego. Vorhandene Materialbeschränkungen überwinden die Brickfilmer kreativ - notfalls mit Gewalt. Die stets gelben Figuren, von Hause Lego aus nur mit zwei punktförmigen Augen und einem lächelnden Mund auf den Markt gebracht, werden von den Filmemachern mit Brillen, gezeichneten, gekneteten oder geklebten Bärten versehen, mitunter auch verunstaltet oder sie erhalten bei der digitalen Nachbearbeitung neue Gesichtszüge. Mit ihren wenigen Bewegungsmöglichkeiten sind die Figuren auch für Anfänger leicht zu kontrollieren und ermöglichen so auch dem Novizen erste Erfolge.

Ähnliche ökonomische und pragmatische Strategien werden bei der Gestaltung der Sets angewandt. Ähnlich wie bei Realfilmen werden die Schauplätze nicht dreidimensional nachgebaut, sondern es werden nur flache, zweidimensionale Modelle gebaut, die jenseits des von der Kamera eingefangenen Raumes aufhören. Das spart einerseits Steine und erleichtert sowohl die Lichtgestaltung als auch die Kameraarbeit. Es wird empfohlen, dafür zu sorgen, dass alle Set-Bestandteile fest montiert sind (notfalls durch Schrauben), um ungewollte Bewegungen von einem Bild zum nächsten zu verhindern.

Filmkunst der Amateure

Detaillierte Making-Ofs mit Stills aus den Filmen oder Behind-the-Scene-Fotos dokumentieren die speziellen Schwierigkeiten und Hindernisse der Produktion. Bei One: A Space Odyssey, einer einminütigen Parodie auf Stanley Kubricks Meisterwerk "2001 - Abenteuer im Weltraum", ersetzte ein Stück Filmstreifen ein Fenster. Ein Acryl-Bild eines Raumschiffs machte es möglich, dass für das Raumschiff Discovery kein Modell gebaut werden musste. Die Wüste wurde aus Styropor gemeißelt und in einem orangefarbenen Raum gefilmt. Ein Stück Aluminiumfolie diente als Bettdecke. Ein Standbild eines Lego-Globus, was sich die Filmemacher von einer Webseite heruntergeladen hatten, bildete den Hintergrund. Besonders neueres Lego ist extrem reflexiv, so dass es in nicht gewünschter Art und Weise Gegenstände widerspiegelt.

Auffällig ist, dass die Brickfilmer ihre Energie vor allem auf das Visuelle verwenden - der Soundtrack hingegen ist in fast allen Fällen "geliehen"- das Spektrum reicht von Opern, Klassik, Jazz, Rock, Reggae hin zu Filmmusik.

Brickfilme werden in fast allen Fällen von Amateuren gemacht, von Teenagern, von Erwachsenen, von Familien oder ganzen Schulklassen - meist aber von männlichen. Es fällt auf, dass es fast keine weiblichen Brickfilm-Produzentinnen gibt - sie leihen allenfalls weiblichen Charakteren ihre Stimme. Professionell produzierte Brickfilme sind selten: Ausnahmen sind zum einen die britische Animationsfirma Spite your face, die mit "One - A Space Odyssee" bekannt wurde. Das verschaffte ihnen den Auftrag, für die "Monty Python and the Holy Grail"-DVD die Camelot-Szene in Lego nachzustellen. Daraufhin erteilte ihnen auch Lego selbst den Auftrag für einige von "StarWars"-Filmen inspirierte Filme, um ihr eigenes Movie-Set zu promoten.

Die wohl bekannteste Lego-Animation dürfte zum anderen wohl das Musikvideo "Fell in Love With a Girl" von Michel Gondry zum Song der White Stripes sein, das u. a. bei MTV und anderen einschlägigen Musikkanälen zirkulierte.

Die Pioniere des Brickfilms

Die Geschichte der Brickfilm-Szene ist bislang kaum dokumentiert. Aber übereinstimmend ist in den Foren und auf verschiedenen Websites zu lesen, dass wohl Dave Lennie und Andy Boyer aus Illinois die Pionierleistung gebührt, Filme aus Lego ins Leben gerufen zu haben. Auf der Webseite WDLN-TV, wo auch sämtliche Werke der beiden heruntergeladen werden können, schildert Dave, wie er 1985 erstmals eine Szene mit einer Lego-Figur animierte, nachdem sich sein Vater eine Videokamera ausgeliehen hatte, um eine Gedenkfeier zu dokumentieren. 1989 traf Dave auf Andy, der eine Videokamera besaß. Dave brachte einen Videorecorder mit Schnittfunktionen in die Partnerschaft ein.

Die technischen Gegebenheiten erforderten es, dass die Freunde für ihre frühen Filme - anders als bei Stop-Motion-Animation üblich - zunächst das animierte Material aufnahmen, wobei sie beim Dreh schon einschätzen mussten, wie lange die Dialoge der Figuren dauern würden. Selbstkritisch schildert Dave in der Rückschau, dass die ersten Filme von abgehackten Dialogen, Schnittfehlern und Brüchen in den Plots nur so strotzten.

Andere Pioniere sind die Australier moles und zaph, die 1990 mit ihrer "StarWars"-Parodie "StarLego" den bis heute ungebrochenen Trend zur lego-animierten Fan-Fiction von Kino-Klassikern begründeten. Wie auf ihrer Website zu lesen ist, drehten sie "StarLego" auf einem PC mit einem 286er-Prozessor und programmierten dafür ihre eigene Capturing-Software, die es ihnen erlaubte, eine Folge von 32 mit sehr niedriger Auflösung aufgenommene Einzelbilder wie ein Daumenkino abzuspielen, welche sie dann wiederum mit dem Videorecorder mitschnitten. Das Budget belief sich auf insgesamt 82 australische Dollar und wurde - wie aus den Credits zu ersehen ist - für eine Blue Screen-Karte ($ 22), roten Lack ($ 7), Lego-Steine ($ 25), Wunderkerzen ($ 5), eine Zahnbürste ($ 1), BlueTack (Klebstoff) ($ 2) sowie eine Lötlampe ($ 20) ausgegeben. Nach achtmonatiger Arbeit an Wochenenden war der Film fertig und hatte auf Filmfestivals und StarWars-Fan-Conventions Premiere.

Diese Beispiele zeigen, dass Brickfilme auch schon vor dem Durchbruch des World Wide Webs existierten und zirkulierten. Aber die Möglichkeiten des Internet zur preiswerten, internationalen Distribution der Filme, des Austauschs mit Gleichgesinnten trotz weltweiter Verstreutheit sowie das Ausrufen von Wettbewerben zu bestimmten Themen gaben der Lego-Filmbewegung Schubkraft.

Trotz einer technikaffinen Einstellung speziell bei jüngeren Produkten brachte Lego erst 2000 ein Steven-Spielberg-Movie-Set komplett mit Webcam und Capturing-Software auf den Markt. Diverse, an Blockbuster-Movies angelegte Zusatz-Sets folgten. Das Set führte noch einmal zu einem Boom in der Szene und führte eine neue Generation an Lego-Fans an die Steine als Ausgangspunkt für Filmproduktion heran.

In den Foren und Tutorien der Lego-Film-Subkultur wird dieses offizielle, mittlerweile vom Markt genommene Set jedoch zwiespältig gesehen: Zu teuer, zu viele Vorgaben wie z. B. eine Erdbebenplatte oder Dinosaurier, eine schlechte Qualität der Kamera und eigentlich nichts, was es nicht auch schon vorher gegeben hätte, so lautet zusammengefasst die Kritik.

Von The Matrix über Psycho bis hin zum Wunder von Bern

Prinzipiell können alle Genres in Lego realisiert werden und die Bandbreite der Stoffe ist schier unerschöpflich. Wie bei anderen Amateurfilmen lassen sich die Filmemacher von ihren Filmerfahrungen und -präferenzen inspirieren: Titel wie "Lego Wars", "Lego Matrix Battles" machen es sofort offensichtlich: Besonders beliebt sind Science-Fiction-Filme, Abenteuerfilme und die Nachstellung von Kung-Fu-Kampfszenen. Es gibt unzählige Parodien auf Blockbuster wie "The Matrix", "StarWars", "James Bond" und "Indianer Jones", was zum Teil sicher in den offiziellen Sets begründet liegt.

Häufig werden klassische Szenen, wie z. B. die Duschszene aus Hitchcocks "Psycho" 1:1 nachgestellt - im Fall von Psycho sogar wie das Original in schwarz-weiß. Manchmal wird das Original gleich als Vergleichsgrundlage daneben gesetzt, so dass die User überprüfen können, wie sorgfältig Kameraeinstellungen, die äußere Erscheinung der Darsteller und das Timing des Originals kopiert wurden (z. B. bei Blazing Saddles). Aber die Storylines der Blockbuster werden nicht nur dupliziert, sondern auch weiter gesponnen: Vor allem die "StarWars"-Filme sind hier eine reiche Inspirationsquelle für in der Szene hoch angesehene Filme wie Rise of the Empire von Jay Silver und Out of Time von Oblong Pictures.

Parodien auf blutrünstige Horrorfilme wie das Lego Chainsaw Massacre, Martial-Arts-Kampfszenen sowie Pornos mit Lego-Figuren sind wahrscheinlich der ausschlaggebende Grund dafür, dass Lego die Verbindung zur Underground-Szene nicht zu sehr betont. Aber auch klassische Stoffe werden verfilmt, z. B. Schillers Gedicht Der Handschuh oder die Weisheiten einer frühen Asketin des Sufi-Kults (Prayer of Rabia) oder von Beat-Generation-Autor Jack Kerouac (Kerouac). Einen meisterhaften Umgang mit Timing und Spannungsaufbau stellt The Gauntlet dar, wo Regisseur Jay Silver aus Halifax, Neufundland, einen nächtlichen Eindringling zur Musik von Edwards Griegs "In der Halle des Bergkönigs" vor einem gigantischen Steingolem (natürlich aus Lego) fliehen lässt.

Dass die Szene der Lego-Filmemacher nicht nur literarische oder filmische Stoffe als aufgreifenswürdig betrachtet, zeigt sich daran, dass selbst der Computerspiel-Klassiker "Pong" eine würdige Aufbereitung in einem Lego-Film fand (The Game). Der Spielfilm "Das Wunder von Bern" über den legendären wie unerwarteten Sieg der deutschen Fußballmannschaft im Endspiel der Fußball-WM 1954 in Bern war einer der deutschen Kino-Kassenknüller des Jahres 2003. Als zehnminütiger lego-animierter Dokumentarfilm - Resultat einer Projektarbeit von drei Studenten von der FH Offenburg - steht der Stoff unter dem Titel Die Helden von Bern aber bereits seit einem Jahr im Netz.

Zum leidenschaftlichen Original-Kommentar des Radioreporters Herbert Zimmermann, den zufällig jemand auf einer Kassette im Bus der drei Filmemacher liegengelassen hatte, werden zunächst die Spieler der beiden Fußball-Mannschaften vorgestellt. Gemessen an anderen Brickfilmen ist "Die Helden von Bern" ein wahres Monumentalwerk - durch geschickte Kameraperspektiven wird eine außergewöhnlich hohe Anzahl an Lego-Statisten als jubelndes Publikum im Stadium suggeriert.

Mit viel Liebe zum Detail werden die packendsten Szenen des spannenden Spiels, bei dem es Deutschland nach einem 0:2 Rückstand gelang, den Spielverlauf doch noch in einen 3:2 Sieg zu verwandeln, nachgestellt. Die Spieler agieren vor Bahlsen-, Adidas- und Lego-Banderolen. Im Film finden alle Stilmittel der audiovisuellen Fußballberichterstattung Anwendung: Tore werden in Slow-Motion wiederholt. Die Kameraperspektive wechselt zwischen Vogelperspektiven über das ganze Stadium oder bleibt dicht an den Spielern dran. Trotz ihrer eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten schaffen es die nach Toren der Gegner frustriert in den Rasen hämmernden Lego-Figuren überzeugend Emotionen und Aggressionen auszustrahlen.

Einziger Wermutstropfen: Die meist als QuickTime, Real oder Windows-Media komprimierten Filmdateien sind selten unter 10 MB, und sehr häufig mehr als 50 MB groß. Bis zur stärkeren Durchdringung von Breitband-Anschlüssen wird denjenigen Usern, die sich mittels Modem- und ISDN-Anschlüsse ins Internet einwählen, die schillernde Welt der Lego-Filme daher wohl verschlossen bleiben.