Befürchtungen zum Europäischen Haftbefehl werden übertroffen

Erstmals wendet Spanien den Europäischen Haftbefehl an - statt Terroristen oder Schwerstkriminelle trifft es einen alkoholisierten Schweden

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Als Michael Kurt einst in Schweden alkoholisiert in ein Auto gestiegen ist, hat er sich wohl kaum vorgestellt, zum Exempel einer neuen europäischen Auslieferungspraxis zu werden. Kurt war am 1. Januar in der südspanischen Stadt Alicante verhaftet worden und soll nun von dort über den Europäischen Haftbefehl nach Schweden geschafft werden. Das Land hatte seine Auslieferung beantragt, damit er dort eine Haftstrafe verbüßt. Jetzt fehlt nur noch, dass Schweden den Auslieferungsantrag nach dem Europäischen Haftbefehl bestätigt und damit auch dessen Anwendung auf Kleinstvergehen zustimmt.

Bei dem Fall handelt es sich nur um eine geringe Strafe, wobei schon bei der Strafzeit die Verwirrung beginnt. Die schwankt zwischen etwas mehr als ein Jahr und "fast zwei Jahren", je nachdem, welche spanische Zeitung berichtet. Ähnlich verwirrend geht es zu, wenn es um die Vergehen geht, wofür er verurteilt worden sein soll. Weil er alkoholisiert Auto (mehr als 0,2 Promille) gefahren sei und die "öffentliche Ordnung" gestört haben soll, sagen die einen. Die andere fügen noch ein Vergehen gegen die "Volksgesundheit" an. Dazu weiß El Pais zu berichten, es handele sich um "Drogenhandel in kleinen Mengen". Bei der größten spanische Zeitung wird die Störung der öffentlichen Ordnung nicht erwähnt.

Bestenfalls wird schwach kritisiert, dass der Haftbefehl nun rückwirkend angewendet werden soll. Denn Schweden hatte die Auslieferung von Kurt schon im vergangenen Jahr beantragt, aber in Spanien trat das neue Gesetz, mit dem der Haftbefehl in nationales Recht überführt wurde, just mit der Verhaftung des Schweden erst am 1. Januar in Kraft. Die allseits angewandte Praxis, mit der selbst baskische Parteien in Spanien rückwirkend verboten wurden, ist aber über die Verfassung ausdrücklich verboten. Die Auslieferung von Kurt ist ohnehin auch auf dem normalen Weg, ohne Europäischen Haftbefehl, möglich.

Niemand fragt in Spanien, warum ausgerechnet die Richterin Teresa Palacio am Nationalen Gerichtshof die Anwendung des Haftbefehls verfügt hat. Dieses Sondergericht in Madrid wurde kurz nach dem Tod des Diktators Franco noch vor den ersten Wahlen 1976 geschaffen. Es ersetzte das "Gericht für Öffentliche Ordnung" (TOP), sollte sich nur mit Schwerstkriminalität befassen und nur eine begrenzte Zeit bestehen. Doch nicht nur der Fall von Kurt zeigt, wie sich die Befugnisse des Gerichts ausweiten.

Ähnlich ist die Entwicklung des Europäischen Haftbefehls. Es ist eine "spanische Erfindung", wie der konservative spanische Justizminister José María Michavila festgestellt hat. Angeblich sollte es um die "Terrorismusbekämpfung" nach den Anschlägen vom 11. September gehen (Europäischer Haftbefehl wirft Schatten voraus). Diese Priorität hatte der spanische Ministerpräsident José María Aznar während seiner EU-Präsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2002 gegeben. Das Kernstück war der Haftbefehl.

Schon bei der Verabschiedung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten wurde klar, dass es beim angeblichen Antiterrorismus und der Schwerstkriminalität nicht bleiben wird. Er kann bei Handlungen erlassen werden, "die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind". Bei Umweltkriminalität, Cyberkriminalität, Fremdenfeindlichkeit, Betrug, Kraftfahrzeugkriminalität oder auch "Nachahmung und Produktpiraterie", wird auch "ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit" ausgeliefert. Der Europäische Anwalts Verein (DAV) kritisierte, dass auch "erstaunlich konturenlose Vorwürfe" enthalten seien (Europäischer Haftbefehl verabschiedet)

Als "Mogelpackung" hatten deshalb verschiedene Vereinigungen den Haftbefehl bezeichnet (Freiheit stirbt mit Sicherheit). Nun müssten sogar Auslieferungen durchgeführt werden, die im Herkunftsland gar keine Straftaten darstellen. Doch die schlimmsten Befürchtungen scheinen, wie der Fall Kurt zeigt, wieder einmal der Realität hinter her zu hinken.

Bisher haben Belgien, Dänemark, Irland, Finnland, Spanien, Schweden, Portugal und Großbritannien die Richtlinie in nationales Recht übertragen. Deutschland hängt am weitesten zurück, kritisierte die EU-Kommission.