Siegeszug ohne Gewinner?

Eine Studie des Worldwatch-Instituts behauptet: Der westliche Lebensstil macht reich und dick, aber nicht glücklich

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Der Fall des Eisernen Vorhangs hat nicht nur weite Teile des real existierenden Sozialismus beseitigt, sondern auch den Glauben an eine Alternative zu den offenbar überlegenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen nachhaltig erschüttert. Gleichwohl darf bezweifelt werden, dass der Kapitalismus westlicher Prägung, der sich die Welt - ohne ernstzunehmende Gegenwehr - seit bald 15 Jahren untertan macht, berufen oder geeignet ist, die globalen Probleme dauerhaft zu lösen.

Der neueste State of the World"-Bericht des renommierten Worldwatch-Instituts legt jedenfalls den Verdacht nahe, dass der grenzenlose Konsum selbst in den Ländern, die jahrzehntelang auf ihren historischen Siegeszug hingearbeitet haben, allenfalls äußerlich zu einer Steigerung der Lebensqualität führt.

Nach Angaben des Instituts zählen aktuell 1,7 Milliarden Menschen zur sogenannten "consumer class", in der deutlich mehr Güter gekauft werden als zur Befriedigung der Grundbedürfnisse notwendig wären. In den Vereinigten Staaten gehören 84% der Gesamtbevölkerung zu dieser Gruppe, in Deutschland sind es sogar 92% und in Japan 95%. Aber auch China steuert mittlerweile 240 Millionen Käufer zur "consumer class" bei und stellt zusammen mit Indien zahlenmäßig mehr Konsumenten als ganz Westeuropa. Allerdings unterscheidet sich die finanzielle Leistungsfähigkeit erheblich, denn die 12% der Weltbevölkerung, die in Amerika und Westeuropa leben, sind für 60% des Verbrauchs verantwortlich, während ein Drittel ebendieser Weltbevölkerung in Südasien und großen Teilen Afrikas nur 3,2% konsumiert und 1,2 Milliarden Menschen ohnehin in völliger Armut leben müssen.

Worldwatch hat errechnet, dass jährlich 75 Milliarden Dollar für Luxusgüter wie Make Up, Parfüms, kulinarische Vorlieben, Kreuzfahrten oder Eiscreme ausgegeben werden, während für die Gesundheitsvorsorge von Frauen, die Beseitigung von Hunger und Unterernährung, sauberes Trinkwasser, die Impfung von Kindern und den Kampf gegen den Analphabetismus "nur" 47,3 Milliarden nötig wären.

Über diese Zahlen kann man trefflich streiten, aber noch beunruhigender als die globale Schieflage ist ohnehin der rasante Anstieg des Gesamtumsatzes für immer größere, bessere und schönere Autos, Häuser oder Kühlschränke. Seit 1960 haben sich die Ausgaben für Verbrauchsgüter auf über 20 Billionen Dollar vervierfacht, der Verbrauch von Kohle, Öl und Gas ist seit 1950 um das Fünffache gestiegen, und immer mehr Wälder, Feuchtgebiete und andere naturbelassene Regionen müssen Straßen, Einkaufszentren oder neuen Häusern weichen.

Die USA sorgen als Vorreiter dieser Entwicklung für einige besonders obskure Zahlen. Denn davon abgesehen, dass US-Bürger alljährlich fast 100 Milliarden Plastiktüten wegwerfen, haben sich amerikanische Kühlschränke und Häuser in den letzten rund 30 Jahren um 10% bzw. 38% vergrößert. Außerdem übersteigt die Zahl der zugelassenen Fahrzeuge die der Führerscheininhaber. Die Frage, wie 4,5% der Weltbevölkerung für ein Viertel aller Kohlendioxid-Emissionen verantwortlich sein können, ist also relativ schnell zu beantworten.

Doch obwohl die Amerikaner Konsumweltmeister sind und geschätzte 65% ein mehr oder weniger sichtbares Übergewicht mit sich herumtragen, hat die Zufriedenheit offenbar nicht zugenommen. Nur ein Drittel der US-Bürger gab an "very happy" zu sein, so viele wie 1957, als der Wohlstand nur halb so groß war. Die Amerikaner gehören zu den Menschen, die am meisten unter Zeitdruck stehen, weil sie für ihren Konsum auch am meisten arbeiten: angeblich 350 Stunden oder 9 Arbeitswochen mehr als der Durchschnittseuropäer.

Das ungebremste Konsumverhalten geht nach Ansicht des Worldwatch-Instituts weit über das hinaus, was der Planet ertragen kann. Dessen Präsident, Christopher Flavin, warnt deshalb vor dem "beispiellosen Verbraucherappetit, der die natürlichen Lebensgrundlagen unterhöhlt, von denen wir alle abhängen und es für die Armen noch schwieriger macht, auch nur ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen." Brian Halweil, der zusammen mit Lisa Mastny als Projektdirektor des "State of the World"-Berichtes tätig war, will westliche Wirtschaftsprinzipien trotzdem nicht vorschnell und grundsätzlich verurteilen:

Die fast drei Milliarden Menschen, die weltweit mit weniger als 2 Dollar am Tag auskommen, müssen ihr Konsumverhalten steigern, um ihre Grundbedürfnisse - Nahrung, sauberes Wasser, hygienische Bedingungen - befriedigen zu können. Und in China stimuliert der Versuch, den Nachfragen der Verbraucher zu entsprechen, nicht nur die Wirtschaft, er schafft auch Jobs und zieht ausländische Investoren an.

Das Worldwatch-Institut plädiert deshalb für grundlegende ökologische Steuerreformen, welche die Hersteller zwingen sollen, für die durch ihre Produkte entstandenen Umweltschäden und für deren sachgerechte Entsorgung aufzukommen. Außerdem müssten Produktionsmethoden entwickelt werden, die sehr viel schonender mit den natürlichen Ressourcen umgehen. Nach Ansicht von Christopher Flavin können positivere Zukunftsaussichten erst dann gestellt werden, wenn es der Menschheit gelingt "den Konsum zu kontrollieren, anstatt dem Konsum zu erlauben, uns zu kontrollieren."