"Die Kameras stören mich nicht!"

Auf der 1. internationalen Konferenz über Videoüberwachung ging es um den Nutzen und die Folgen dieser sich schnell ausbreitenden Technologie

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In diesen Tagen steht in Schweden der Mörder von Anna Lindh vor Gericht. Überführt wurde er anhand von Kamerabildern, die das Kaufhaus überwachen, in dem der Mord geschah. Anna Lindt hat das nichts mehr genutzt. Und dass zuerst ein anderer Mann über Wochen verdächtigt wurde und von den Medien und der Öffentlichkeit quasi verurteilt wurde - nur anhand von Bildern eben jener Kameras - ist schon fast vergessen.

Dem Mann, der im Herbst 2002 in Hamburg vor einem Geldautomaten überfallen wurde und dabei ums Leben kam, nützt es wenig, dass die Kameras den Täter überführt haben. Die Mörder des 11-jährigen Damilola Taylor aus London haben ihn in einer Seitengasse niedergestochen - wo keine Kameras mehr hinsahen. Dort konnte er in Ruhe verbluten. Die letzten Bilder von Damilola zeigen ihn vor einer Bibliothek, von den Kameras gut eingefangen - in trügerischer Sicherheit. Das Gleiche gilt für den zweijährigen James Bulger, ermordet 1993 von zwei 11-jährigen Jungen, ebenfalls gefasst durch Videobilder. Dieser Fall löste in Großbritannien den Boom der Kameras aus.

Vier Fälle, sicherlich nicht repräsentativ - dennoch bleibt die Frage, wie nützlich diese Kameras tatsächlich sind, die von den privaten Betreibern in zahllosen Kaufhäusern, Shopping-Malls, Bahnhöfen in Deutschland und europaweit installiert werden? Und es bleibt die Frage, wem sie nutzen? Offensichtlich sind sie überzeugend genug, dass auch hierzulande vielerorts kommunale Amtsträger diese Technologie für eine Allzweckwaffe im Kampf gegen die anscheinend endemisch gestiegene Kriminalität einsetzen wollen.

"Ein Auge mehr oder weniger...!"

Wir müssen die Täter selbst befragen, fordert Martin Gill, Professor für Kriminologie an der Universität von Lancaster in England und einer der führenden Experten für die Erforschung der Folgen, Effekte und Konsequenzen von CCTV. Gerade in Großbritannien gibt es eine sehr lebendige Szene von Forschern, die sich dieses Themas angenommen haben. Kein Wunder bei rund 4,3 Millionen Kameras in privater und öffentlicher Hand, so die Schätzung von Clive Norris, Deputy Director des University Centre for Criminological Research an der Universität von Sheffield. Beide sprachen, neben zahlreichen anderen Forschern aus Europa, auf der 1. internationalen Konferenz zu CCTV und den Folgen, die am 8. und 9. Januar 2004 in Sheffield stattgefunden hat.

Dort zeigte Martin Gill auch sehr anschaulich, was die Täter selbst - Ladendiebe, Taschendiebe, Räuber - von den Kameras halten und wie sie praktisch damit umgehen. Die Aussagen der Befragten waren ebenso deutlich wie desillusionierend: "Kameras stören uns nicht. Wir müssen sowieso aufpassen, dass uns keiner sieht - ein Auge mehr oder weniger spielt dabei keine Rolle." Dass bedeutet jedoch, dass die Kameras nicht abschreckend auf die Täter wirken - und damit zu einem großen Teil einfach nutzlos sind.

Die Täter haben eine spezielle Begabung, so Gill, ihre Taten sind keine Zufälle. Die meisten sind gut und wissen was sie tun, eben auch wie man die Kameras und andere Sicherheitsmaßnahmen austrickst. Ihre Techniken zu verstehen und ihre Sicht der auf die Überwachungstechnologie zu verstehen kann helfen, das System zu verbessern - die Maßnahmen als solche neu zu überdenken. Beeindruckt von den Kameras zeigten sich in der Studie nur die Täter, die aufgrund eines Kamerabildes gefasst wurden.!

"Kontrollraum an Polizei: Haltet euch da raus!"

Ob Kamerasysteme erfolgreich sind, hängt nicht von den Tätern ab, wohl aber von den Menschen in den Kontrollräumen, sofern es welche gibt. Wie zahlreiche Forscher in England der vergangenen Jahre hat auch Mike McCahill Kontrollräume besucht und beobachtet. Seine Ausführungen sind, neben der unfreiwilligen Komik seiner Beschreibungen, sehr aufschlussreich, wenn es darum geht, wie effizient diese Sicherheitsmaßnahmen tatsächlich sind.

McCahill hat seine Zeit vor allem in den Kontrollräumen englischer Shopping Malls verbracht und der täglichen Routine dort zugesehen. Was er dort beobachtete, ließ viele der Zuhörer seines Vortrages eher zweifeln: Unwilliges Sicherheitspersonal, das sich weigert, die Technologie entsprechend zu benutzen; eitle, aber unfähige Aufpasser, die übereifrig zugriffen und dabei immer wieder fast chaotische Situationen hervorriefen; schlecht funktionierende Partnerschaften mit den staatlichen Ordnungshütern vor Ort, die ebenfalls in den Shopping Malls vertreten sind.

Vor allem beim Gerangel um Kompetenzen und Erfolgen zeigten diese Partnerschaften häufig Brüche. Die Sicherheitsbeamten an den Kameras wollten zeigen, dass sie ihren Job gut machen - und deshalb möglichst wenig von der Polizei sehen und wissen. Die Polizei sah sich in ihren Kompetenzen bedroht und hielt das Sicherheitspersonal häufig für unfähig. Streit bei Einsätzen war keine Seltenheit. Das generelle Klima war häufig gespannt und misstrauisch. In einem Fall ging das bis hin zu Handgreiflichkeiten zwischen den beiden Gruppen während eines Einsatzes. Der Polizist verlor zwei Zähne, der Sicherheitsbeamte bekam eine Anklage wegen Tätlichkeit gegen einen Polizisten. Von dem auslösenden Täter ist nichts weiter bekannt.

Zweifelhafter Glaube an die Kamerabilder

Diese und andere vorgestellte Forschungen deuten darauf hin, dass die Kameras alleine selten den gewünschten Effekt bringen - nämlich Kriminalität zu verhindern. Dafür aber werfen sie eine Reihe von Fragen auf, mit denen sich viele der Konferenzteilnehmer in Sheffield beschäftigen. So auch Peter Fry von der britischen CCTV User Group. In der User Group organisieren sich die Unternehmen, öffentlichen Institutionen, Kommunen und andere "Anwender" der Kameras. Mehr als 400 Organisationen sind dort bereits Mitglied. Ihr Anliegen ist es, Standards für den Einsatz von CCTV zu schaffen, Zertifikate zu entwickeln und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Die User Group berät seine Mitglieder beim Aufstellen der Kameras und der verbundenen Sicherheitssysteme.

"Dabei raten wir auch schon mal davon ab, ein System zu installieren", so Peter Fry, "denn oft sind die Gründe und Ziele der Kameraüberwachung den Unternehmen selbst nicht ganz klar." Die Technologie wird immer mehr zu einem Wundermittel gegen so ziemlich jeden sozialen Missstand und die Konsequenzen des Einsatzes häufig nicht durchdacht. Denn: das Aufstellen von Kameras allein reicht nicht aus, um Kriminalität zu verhindern oder effektiv gegen Ladendiebstahl oder Verbrechen im öffentlichen Raum vorzugehen. Wichtig sind die Größe des Systems sowie das Personal, welches die Monitore überwacht und gegebenenfalls einschreitet. Außerdem müssen die Kameras in ein Sicherheitskonzept integriert werden, um auch tatsächlich wirksam zu werden. Und das fehlt in vielen Fällen.

Die Zukunft der Überwachung

Vorhandene CCTV-Systeme variieren zwischen einer Kamera in einem kleinen Geschäft bis hin zu Systemen mit mehreren 100 Kameras, Kontrollräumen und Polizei-Partnerschaften. Zu wissen, welches System für welche Zwecke sinnvoll ist, ist nicht immer einfach. Die vermeintliche Macht der Bilder verleitet immer wieder dazu überdimensionierte Systeme zu installieren - um im schlimmsten Fall feststellen zu müssen, dass vor allem Geld zum Fenster rausgeschmissen wurde.

Wenn in Deutschland auch noch keine britischen Verhältnisse herrschen, so ist auch hierzulande der Glaube an die Kameras ungebrochen. Im öffentlichen Raum machen allein bestehende Gesetze eine flächendeckende Ausbreitung bisher unmöglich. Wenn aber der Sicherheitswahn anhält, dann wird im Zuge neuer Technologien, wie biometrischer Verfahren, Gesichtserkennungs-Software u.a., auch der Glaube daran zunehmen und der Wunsch stärker werden, damit soziale Probleme zu lösen. "Technologie als Lösung" wird dann den Umgang mit Problemen bestimmen, die ihrem Ursprung an ganz anderer Stelle haben. Die Folgen: Viel Geld wird unsinnig ausgegeben, ohne dass die Videoüberwachung seinen eigentlichen Zweck erfüllt. Nicht kalkulierte und beachtete Nebeneffekte konterkarieren die ursprünglichen Ziele. Die unbedachten Konsequenzen führen zu einer immer enger werdenden Überwachung von Orten und Personen und werden selten rückgängig gemacht. Die Probleme werden verlagert - offene Drogenszenen z.B. weichen aus und suchen sich neue Umschlagplätze.

Dabei müssen CCTV und Überwachung nicht nur negative Folgen haben. In englischen Modellversuchen wurden Kameras in den Zellen von Polizeistationen installiert - zum Schutz der Festgenommenen. Es ist die Janusköpfigkeit von Überwachung, die selten bedacht wird. Angesichts technologischer Machbarkeit geraten andere Strategien zur Bekämpfung von Kriminalität in den Hintergrund. Und: Geht es eigentlich immer um kriminelles Verhalten oder eher um soziale Sortierung, die "Säuberung" des Stadtbildes durch Vertreibung unerwünschter Gruppen - um Kommerz und neoliberales Stadtmarketing, wie Roy Coleman von der John Moores University in Liverpool am Beispiel seiner Heimatstadt veranschaulicht hat. Die Zukunft von Videoüberwachung erscheint somit ebenso unklar wie die tatsächliche Effizienz der Systeme und Maßnahmen.

Nils Zurawski, Soziologe und Ethnologe, leitet an der Universität Hamburg ein Forschungsprojekt zu Videoüberwachung und räumlicher Wahrnehmung.