Misshandlungen durch Polizeibeamte

Neuer amnesty-Bericht erhebt schwere Vorwürfe gegen deutsche Ordnungshüter

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Dass Menschen von Polizei- und Sicherheitskräften misshandelt oder sogar getötet werden, ist angesichts mancher politischer Rahmenbedingungen nicht nur leicht vorstellbar, sondern auch tausendfach belegt. Deutschland sollte dagegen im 20. Jahrhundert genug grausame Erfahrungen gesammelt haben, um die Befugnisse seiner Sicherheitskräfte gesetzlich exakt zu fixieren, die Einhaltung der Bestimmungen konsequent zu überwachen und eventuelle Übergriffe im Bedarfsfall umgehend zu ahnden. In den beiden letztgenannten Bereichen gibt es aber offensichtlich erhebliche Defizite.

Diesen Verdacht legt jedenfalls ein aktueller Bericht der Menschenrechtsorganisation amnesty international nahe, der auf 93 Seiten 20 exemplarisch recherchierte Fälle von Misshandlungen durch deutsche Polizisten dokumentiert und obendrein den zuständigen Strafverfolgungsbehörden ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt.

Der Bericht beschreibt rechtskräftig abgeschlossene und laufende Verfahren, die sich mit den Vorwürfen Beleidigung, Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge auseinandersetzen. Einer der erschreckendsten Fälle ist der des 31jährigen Stephan Neisius, der am 24, Mai 2002 in einem Kölner Krankenhaus starb. Der offenbar psychisch beeinträchtigte junge Mann war einige Tage zuvor mit Hilfe von Pfefferspray, Fausthieben und Fußtritten wegen Ruhestörung festgenommen worden. Seine Mutter gab anschließend zu Protokoll: "Die traten die Eingangstür ein und schlugen das Kind zusammen wie einen Nudelsack. Solch eine Brutalität, die Sie sich gar nicht vorstellen." Auf der Polizeiinspektion 1 wurde Neisius offenbar noch weiter misshandelt und schließlich in ein Krankenhaus eingeliefert, wo er schließlich kollabierte und ins Koma fiel. Die Ärzte stellten ein Hirnödem und auf der Stirn ein "frisches Hämatom nach Art eines Fußabdrucks fest."

Den Vorfall, der auch Gegenstand einer Anfrage der UN-Sonderberichterstatter über Folter und außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen an die deutschen Behörden war, verhandelte das Landgericht Köln nach über einem Jahr. Die sechs beteiligten Beamten wurden wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu Bewährungsstrafen zwischen 12 und 16 Monaten verurteilt und legten anschließend Berufung ein.

Ebenso beunruhigend wie das Schicksal des Stephan Neisius ist die vergleichsweise hohe Zahl ausländischer Staatsbürger - siehe im Bericht die Kapitel über Denis Mwakapi, Miriam Canning, Anthanasios Kapritsias oder Mohammed Kamara -, die bei der Festnahme, in Polizeihaft oder im Verlauf der Abschiebung Opfer gewaltsamer Übergriffe wurden. Gleiches gilt für die ebenfalls dokumentierten Fälle, in denen Polizisten voreilig und gelegentlich mit tödlichem Ausgang von der Schusswaffe Gebrauch machten. In aller Regel brauchen die Strafverfolgungsbehörden Monate oder Jahre, um ein Verfahren einzuleiten. Nicht selten kommen ihnen die Beschuldigten mit einer fingierten Gegenanzeige zuvor.

In Deutschland gehören Misshandlungen durch Polizeibeamte keineswegs zum Alltag, und selbst amnesty stellt fest, dass in den letzten Jahren "eine rückläufige Tendenz" zu beobachten ist. Gleichwohl warnt Barbara Lochbihler, die Generalsekretärin der deutschen ai-Sektion:

Das wahre Ausmaß der Misshandlungen kennen wir nicht, da in Deutschland dazu skandalöserweise noch immer keine einheitlichen und umfassenden Statistiken erhoben werden. Nur so werden Trends erkennbar, denen die Politik dann rechtzeitig begegnen kann.

Amnesty fordert darüber hinaus ein neutrales Kontrollgremium zur Aufklärung von Misshandlungsvorwürfen und die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur UN-Anti-Folter-Konvention, das unangemeldete Inspektionen in Gefängnissen, Polizeistationen oder psychiatrischen Einrichtungen gestattet. Die Bundesregierung hatte sich einst in der UN für das Zustandekommen des Protokolls eingesetzt, derzeit fehlt aber noch die Zustimmung der an der Umsetzung beteiligten Bundesländer: "Der Schritt ist überfällig, wenn die deutsche Menschenrechtspolitik glaubwürdig sein will", meint Barbara Lochbihler. In diesem Jahr werden übrigens gleich zwei Menschenrechtsgremien der UN prüfen, ob und inwieweit Deutschland seinen entsprechenden internationalen Verpflichtungen nachkommt.

Kritik auch an Menschenrechtsverletzungen in der EU

Menschenrechtsverletzungen unterschiedlichster Art und Schwere kommen allerdings auch in anderen europäischen Ländern vor. Zu Beginn der irischen Ratspräsidentschaft kritisierte Dick Oosting, der Direktor des EU-Büros von amnesty, dass mit Ausnahme der Niederlande und Luxemburgs fast überall in Europa im Jahr 2003 entsprechende Vorfälle konstatiert wurden und die Union allmählich Gefahr läuft, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die Liste der Vorwürfe reicht von zahlreichen Misshandlungen im Polizeigewahrsam über die mangelnde Unterstützung für auf Guantanamo inhaftierte EU-Bürger bis zur rücksichtslosen Behandlung baskischer Guerillakämpfer durch die auf Anti-Terrorkurs eingeschworene spanische Regierung. Hinzu kommen die bekannten Rechtsprobleme in vielen neuen Beitrittsländern, die noch an ihrem kommunistischen Erbe tragen. Oosting stellte angesichts dieser Situation fest:

Für Europa reicht es nicht, Menschenrechte in anderen Ländern zu predigen. Es muss vor seiner eigenen Haustür kehren.

Immerhin scheinen die Plädoyers nicht überall auf taube Ohren zu stoßen. Volker Beck, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, und Christa Nickels, deren menschenrechtspolitische Sprecherin, gaben umgehend eine gemeinsame Erklärung zu dem deutschen amnesty-Bericht ab, die zwar nicht ganz auf Parteitaktik verzichtet, aber wenigstens eine Reaktion anzudeuten scheint.

Die von AI erhobenen Misshandlungsvorwürfe müssen überprüft und gegebenenfalls geahndet werden. Polizeireviere und Abschiebegefängnisse sind keine rechtsfreien Räume, in denen Straftaten und Menschenrechtsverletzungen akzeptiert werden können. Jeder einzelne Übergriff ist einer zu viel.
Deutschland muss jetzt zügig das Zusatzprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter ratifizieren. Wir fordern die Bundesländer auf, ihren Widerstand gegen das Protokoll aufzugeben und eine schnelle Ratifizierung durch die Bundesregierung zu ermöglichen. Die Bundesländer müssen nach diesem Zusatzprotokoll Gremien einrichten, die die Verhältnisse in den deutschen Gewahrsamseinrichtungen überprüfen.
Eine zügige Ratifikation durch Deutschland hätte auch eine Vorbildfunktion für andere Länder.

Das ist durchaus möglich, aber leider kann von einer deutschen Vorbildfunktion im Moment noch keine Rede sein.